BSG Beschluss v. - B 13 R 439/13 B

Nichtzulassungsbeschwerde - Verfahrensmangel - rechtliches Gehör - Verletzung des Fragerechts - sachdienliche Frage - Amtsermittlungspflicht - Zurückverweisung

Gesetze: § 62 SGG, § 103 SGG, § 109 SGG, § 116 S 2 SGG, § 118 Abs 1 S 1 SGG, § 160 Abs 2 Nr 3 SGG, § 160a Abs 5 SGG, § 43 SGB 6, § 397 ZPO, § 402 ZPO, § 411 Abs 4 ZPO, Art 103 Abs 1 GG

Instanzenzug: SG Mainz Az: S 11 R 526/11 Gerichtsbescheidvorgehend Landessozialgericht Rheinland-Pfalz Az: L 4 R 526/12 Urteil

Gründe

1I. Der Kläger begehrt Rente wegen voller bzw teilweiser Erwerbsminderung.

2Der im Jahre 1970 geborene Kläger war zuletzt ab 2004 selbstständig - unter Entrichtung von Pflichtbeiträgen bis Juni 2007 - im Versicherungsgewerbe tätig. Danach war er arbeitsunfähig erkrankt bzw arbeitslos.

3Sein im Januar 2011 gestellter Antrag auf Rente wegen Erwerbsminderung blieb nach Einholen eines nervenärztlichen Gutachtens (Dr. F. vom ) erfolglos (Bescheid vom in Gestalt des Widerspruchsbescheids vom ). Demnach erfüllte der Kläger nicht die versicherungsrechtlichen Voraussetzungen für eine Erwerbsminderungsrente. Im maßgeblichen Fünfjahreszeitraum (vom bis ) lägen nicht die erforderlichen 36 Monate, sondern lediglich 29 Monate mit Pflichtbeiträgen vor.

4Das Klageverfahren blieb nach Einholung eines neurologisch/psychiatrischen Gutachtens (Dr. Sch. vom ) ebenfalls erfolglos (Gerichtsbescheid SG Mainz vom ). Im Berufungsverfahren hat das LSG Unterlagen der den Kläger im Zeitraum von 2009 bis 2011 behandelnden Ärzte eingeholt (Berichte der Psychiaterin E., des Allgemeinmediziners Dr. St. und der Nervenärztin Dr. I., alle datiert vom Frühjahr 2013). Auf Antrag des Klägers (§ 109 SGG) hat das Berufungsgericht das psychiatrische Gutachten des Dr. S. vom eingeholt. Der Sachverständige hat das Leistungsvermögen des Klägers mit weniger als drei Stunden täglich beurteilt. In beiden Vorgutachten seien die Auswirkungen der Zwangsstörung des Klägers nicht oder nur unzureichend berücksichtigt worden. Schwierig sei aber, den genauen Zeitpunkt des Eintritts der Erwerbsminderung festzulegen. Nach den Unterlagen bzw Angaben des Klägers habe dieser wohl seit nicht mehr als Versicherungskaufmann gearbeitet. Zu diesem Zeitpunkt seien die Vorgutachter (Dr. F. und Dr. Sch.) noch von der Erwerbsfähigkeit des Klägers ausgegangen. Unter Berücksichtigung, dass sich das Ausmaß der Zwangsstörung innerhalb der letzten zwei Jahre vor der jetzigen Begutachtung verändert habe, sei von einer maßgeblichen rentenrelevanten Verschlechterung des Leistungsvermögens seit Juni 2012 auszugehen.

5Mit Schriftsatz vom hat der Kläger daraufhin vorgetragen, dass er seine Tätigkeit als Versicherungskaufmann schon zum aufgegeben habe und er schon vor diesem Zeitpunkt, im Dezember 2008, vollständig erwerbsgemindert gewesen sei. Der Zeitpunkt des Versicherungsfalls sei daher der . Vorsorglich werde beantragt, Dr. S. ergänzend zum maßgeblichen Zeitpunkt des Eintritts der Erwerbsminderung zu befragen bzw hierüber ein ergänzendes Gutachten einzuholen. Auch wenn er die Versicherungsagentur formal erst zum gekündigt habe, sei er bereits seit Ende des Jahres 2008 nicht mehr in der Lage gewesen, einer Erwerbstätigkeit nachzugehen. Hierfür hat er sich auf weitere Atteste seiner behandelnden Ärzte berufen, die ua entweder den Eintritt der Erwerbsunfähigkeit auf den bzw auf ein früheres Datum als Juni 2012 attestiert haben (ärztliche Atteste Dr. I. vom und vom ; Dr. J./T. vom ; Dr. St. vom ). Mit Schriftsatz vom hat er ferner beantragt, die Psychiaterin E. als Zeugin zum Eintritt der vollständigen Erwerbsminderung seit zu vernehmen und das Zeugnis seiner Mutter und seiner geschiedenen Ehefrau einzuholen zu dem Umstand, dass er seit Ende 2008 "apathisch im Bett gelegen" habe, ohne in der Lage gewesen zu sein, einer regelmäßigen Erwerbstätigkeit nachgehen zu können. Mit Schriftsätzen vom und hat er an diesem Vortrag festgehalten.

6In der mündlichen Verhandlung vom hat der Kläger hilfsweise beantragt, "Frau S. S. und Frau S. Se. als Zeuginnen zu seiner psychischen Erkrankung ab 2008 anzuhören, eine ergänzende Stellungnahme des Sachverständigen Dr. S. sowie Stellungnahmen und Sachverständigenzeugnisse von der Psychiaterin E., von Dr. St. sowie der Nervenärztin Frau Dr. I. zum Eintritt des Versicherungsfalles und evtl ein weiteres Gutachten von Amts (wegen) einzuholen". Das LSG hat die Berufung des Klägers zurückgewiesen (Urteil vom ) und im Wesentlichen ausgeführt: Dem Kläger stehe Rente weder wegen voller noch teilweiser Erwerbsminderung, auch nicht bei Berufsunfähigkeit, zu (§ 43 SGB VI, § 240 SGB VI). Er hätte nur dann die versicherungsrechtlichen Voraussetzungen (§ 43 Abs 2 Nr 2 SGB VI) erfüllt, wenn die Erwerbsminderung spätestens im Juni 2009 eingetreten wäre. Damals sei er jedoch weder voll noch teilweise erwerbsgemindert gewesen. Insoweit folge der Senat den übereinstimmenden Gutachten (Dr. F. vom , Dr. Sch. vom und Dr. S. vom ). Der Senat gehe davon aus, dass die Erwerbsminderung des Klägers zweifelsfrei erst seit der Begutachtung durch Dr. S. im Juni 2013 feststehe. Auch wenn dieser eine Zwangssymptomatik festgestellt habe, die in ihren Auswirkungen weit über die von den Vorgutachtern diagnostizierten Ergebnisse hinausgehe und dazu geführt habe, dass der Kläger seit Juni 2012 nicht mehr in der Lage sei, eine Erwerbstätigkeit unter den üblichen Bedingungen des allgemeinen Arbeitsmarktes auszuüben, seien die Ergebnisse der Vorgutachter nicht fehlerhaft. Die aktuellen Atteste der behandelnden Ärzte ließen keine Erkenntnisse über die Leistungsfähigkeit im Juni 2009 zu. Die vom Kläger beantragten Zeugenvernehmungen seiner Mutter oder seiner geschiedenen Ehefrau seien nicht geeignet, Beweis zur Bestimmung des Versicherungsfalls zu bringen. Der medizinische Sachverhalt sei wegen der Vielzahl der ärztlichen Atteste und Gutachten ausreichend geklärt, sodass auch die Einholung weiterer medizinischer Auskünfte und Stellungnahmen nicht erforderlich sei.

7Mit der Nichtzulassungsbeschwerde macht der Kläger Verfahrensmängel und eine Divergenz (§ 160 Abs 2 Nr 2 und 3 SGG) geltend. Das LSG habe die Amtsermittlungspflicht (§ 103 SGG) und den Grundsatz des rechtlichen Gehörs (Art 103 Abs 1 GG, § 62 SGG) verletzt, weil es den hilfsweise gestellten Anträgen in der mündlichen Verhandlung nicht nachgekommen sei. Im Übrigen habe das LSG einen vom Senatsbeschluss vom (B 13 R 107/12 B) divergierenden Rechtssatz aufgestellt, indem es ausgeführt habe: "Zeiten der Arbeitsunfähigkeit lassen keinen Schluss auf das Vorliegen von voller oder teilweiser Erwerbsminderung zu."

8II. Die Beschwerde des Klägers ist zulässig und im Sinne der Zurückverweisung der Sache begründet.

9Der Kläger hat eine Verletzung seines Fragerechts nach § 116 S 2 SGG, § 118 Abs 1 S 1 SGG iVm §§ 397, 402, 411 Abs 4 ZPO und damit seines Anspruchs auf Gewährung rechtlichen Gehörs (§ 62 SGG, Art 103 Abs 1 GG) hinreichend bezeichnet. Die Gehörsrüge trifft auch zu. Das LSG hat den Sachverständigen Dr. S. zu Unrecht nicht erneut angehört. Darin liegt ein Verfahrensmangel iS von § 160 Abs 2 Nr 3 SGG, auf dem die angefochtene Entscheidung beruhen kann.

10Es entspricht ständiger Rechtsprechung des BSG, dass - unabhängig von der nach § 411 Abs 3 ZPO im pflichtgemäßem Ermessen des Gerichts liegenden Möglichkeit, zur weiteren Sachaufklärung von Amts wegen das Erscheinen des Sachverständigen zur mündlichen Verhandlung anzuordnen - jedem Beteiligten gemäß § 116 S 2, § 118 Abs 1 S 1 SGG iVm §§ 397, 402, 411 Abs 4 ZPO das Recht zusteht, einem Sachverständigen diejenigen Fragen vorlegen zu lassen, die er zur Aufklärung der Sache für dienlich erachtet (BSG SozR 4-1500 § 116 Nr 1 RdNr 7, Nr 2 RdNr 5; Senatsbeschlüsse vom - B 13 R 355/11 B - Juris RdNr 13; vom - B 13 R 29/12 B - Juris RdNr 12, jeweils mwN; s auch BVerfG <Kammer> Beschluss vom - 1 BvR 909/94 - NJW 1998, 2273). Dies gilt auch dann, wenn der Sachverständige - wie hier - ein Gutachten auf Antrag des Beteiligten gemäß § 109 SGG erstellt hat (vgl BSG SozR 3-1750 § 411 Nr 1 S 5 f; Senatsbeschluss vom - B 13 R 29/12 B - Juris, aaO). Sachdienliche Fragen iS von § 116 S 2 SGG liegen dann vor, wenn sie sich im Rahmen des Beweisthemas halten und nicht abwegig oder bereits eindeutig beantwortet sind (vgl BSG SozR 4-1500 § 116 Nr 1 RdNr 10). Hierbei müssen keine Fragen formuliert werden; es reicht vielmehr aus, die erläuterungsbedürftigen Punkte hinreichend konkret zu bezeichnen (vgl BSG SozR 3-1750 § 411 Nr 1). Hingegen fehlt es an der Sachdienlichkeit, wenn der Antrag auf Anhörung des Sachverständigen rechtsmissbräuchlich gestellt ist, insbesondere wenn die Notwendigkeit einer Erörterung überhaupt nicht begründet wird oder nur beweisunerhebliche Fragen angekündigt werden (vgl BVerfG <Kammer> Beschluss vom - 2 BvR 175/95 - NJW-RR 1996, 183, 184 mwN zur Rechtsprechung des BGH). Da das Fragerecht an die Sachverständigen der Verwirklichung des rechtlichen Gehörs dient, ist weiterhin erforderlich, dass der Beteiligte alles getan hat, um die Anhörung des Sachverständigen zu erreichen. Dieser Obliegenheit ist er jedenfalls dann nachgekommen, wenn er einen darauf gerichteten Antrag rechtzeitig gestellt hat, dabei schriftlich objektiv sachdienliche Fragen angekündigt und das Begehren bis zuletzt aufrechterhalten hat (BSG SozR 4-1500 § 116 Nr 1 RdNr 7). Liegen diese Voraussetzungen vor, muss das Gericht dem Antrag folgen, selbst dann, wenn das Gutachten nach Auffassung des Gerichts ausreichend und überzeugend ist und keiner Erläuterung bedarf (vgl - NJW 1998, 2273).

11Diesen Anforderungen an die Bemühungen des Beteiligten um rechtliches Gehör ist hier genügt. Der Kläger hat im Schriftsatz vom beantragt, den Sachverständigen Dr. S. ergänzend zum Zeitpunkt des Eintritts der Erwerbsminderung zu befragen. Er hat dies damit begründet, dass sein Leistungsvermögen in den Vorgutachten (Dr. F. und Dr. Sch.) unzutreffend eingeschätzt worden sei. Insbesondere habe er bereits Ende März 2009 seine Tätigkeit im Versicherungsgewerbe aufgegeben. Diese Frage war sachdienlich. Der Sachverständige hat selbst auf die Schwierigkeit der Konkretisierung des Zeitpunkts der rentenrelevanten Verschlechterung im Leistungsvermögen des Klägers hingewiesen (Bl 225 LSG-Akte). Ferner ist Dr. S. in seinem Gutachten davon ausgegangen, dass der Kläger ab nicht mehr in seinem Beruf als Versicherungskaufmann gearbeitet habe (LSG-Akte aaO). Da es auf der Grundlage der Feststellungen des LSG darauf ankommt, dass die Erwerbsminderung spätestens im Juni 2009 eingetreten sein müsste, hält sich die an Dr. S. gerichtete Frage im Rahmen des Beweisthemas; sie ist weder abwegig noch angesichts der aufgezeigten Widersprüche und Unsicherheiten eindeutig beantwortet noch ist sie rechtsmissbräuchlich.

12Im Übrigen gilt, dass unabhängig davon, ob das Gericht ein Gutachten für erläuterungsbedürftig hält, das Fragerecht dem Antragsteller gerade erlauben soll, im Rahmen des Beweisthemas aus seiner Sicht unverständliche, unvollständige oder auch widersprüchliche Ausführungen eines Sachverständigen zu hinterfragen, um auf das Verfahren Einfluss zu nehmen und die Grundlagen der gerichtlichen Entscheidung verstehen zu können.

13Das LSG hat das Recht des Klägers auf Anhörung des Sachverständigen Dr. S. verletzt. Es hätte den bis zum Schluss in der mündlichen Verhandlung aufrechterhaltenen Antrag, von Dr. S. eine ergänzende Stellungnahme zum Zeitpunkt des Eintritts des Versicherungsfalls einzuholen, nachkommen müssen. Stattdessen hat das LSG dem Einwand des Klägers hinsichtlich des Datums der Aufgabe seiner Erwerbstätigkeit und eines möglichen früheren Eintritts der Erwerbsminderung keine Rechnung getragen. Die vom LSG angegebenen Ablehnungsgründe sind aber nicht ausreichend, wenn es davon ausgeht, dass sich aus den drei eingeholten Gutachten bislang nicht ergeben habe, dass der Kläger bereits im Juni 2009 voll oder teilweise erwerbsgemindert gewesen sei.

14Auf dem aufgezeigten Verfahrensmangel kann die Entscheidung des LSG beruhen. Es ist nicht auszuschließen, dass das LSG nach Einholung einer weiteren Stellungnahme des Dr. S. zu einer anderen Einschätzung des Eintritts der vollen bzw teilweisen Erwerbsminderung gekommen wäre bzw weitere Sachaufklärung für notwendig gehalten hätte.

15Da die Beschwerde bereits aus den oben dargelegten Gründen erfolgreich ist, bedarf es keiner Entscheidung des Senats mehr, ob sich das LSG hätte gedrängt sehen müssen, den in der mündlichen Verhandlung ebenfalls aufrechterhaltenen, hilfsweisen Beweisanträgen bzw dem Antrag auf Einholung eines weiteren Gutachtens von Amts wegen nachzukommen. Ebenso kann die gerügte Divergenz dahinstehen.

16Das BSG kann in dem Beschluss über die Nichtzulassungsbeschwerde gemäß § 160a Abs 5 SGG die angefochtene Entscheidung auch dann wegen eines Verfahrensfehlers aufheben und die Sache zur erneuten Entscheidung an die Vorinstanz zurückverweisen, wenn die Beschwerde zusätzlich auf eine Divergenz gestützt wird, der Verfahrensmangel aber selbst bei Annahme der Divergenz und bei Zulassung der Revision voraussichtlich zur Zurückverweisung führen würde (vgl Senatsbeschluss vom - B 13 R 170/10 B - Juris RdNr 21 mwN). Zur Vermeidung von weiteren Verfahrensverzögerungen macht der Senat von der ihm eingeräumten Möglichkeit Gebrauch.

17Die Vorinstanz wird auch über die Kosten des Beschwerdeverfahrens zu entscheiden haben.

ECLI Nummer:
ECLI:DE:BSG:2014:070814BB13R43913B0

Fundstelle(n):
IAAAH-26859