BSG Beschluss v. - B 5 R 14/11 BH

Sozialgerichtliches Verfahren - Nichtzulassungsbeschwerde - grundsätzliche Bedeutung - Klärungsbedürftigkeit - Fälligkeit laufender Rentengeldleistungen - Prozesskostenhilfeantrag - Verfassungsmäßigkeit

Gesetze: § 160 Abs 2 Nr 1 SGG, § 118 Abs 1 S 1 SGB 6 vom , Art 1 Nr 4 Buchst b SGB6uaÄndG 3, § 73a SGG, § 114 ZPO, §§ 114ff ZPO, Art 3 Abs 1 GG, Art 14 Abs 1 S 1 GG

Instanzenzug: Az: S 13 RA 30/05 Urteilvorgehend Landessozialgericht Niedersachsen-Bremen Az: L 1 R 283/09 Urteil

Gründe

1Mit Urteil vom hat das LSG Niedersachsen-Bremen Ansprüche des Klägers auf höhere Regelaltersrente wegen Neubewertung von Ausbildungszeiten und auf vorschüssige Rentenzahlung verneint.

2Für das Beschwerdeverfahren gegen die Nichtzulassung der Revision in diesem Urteil hat der Kläger Prozesskostenhilfe unter Beiordnung eines Rechtsanwalts beantragt.

3Der Antrag auf Prozesskostenhilfe und Beiordnung eines Rechtsanwalts ist abzulehnen, weil die Nichtzulassungsbeschwerde keine hinreichende Aussicht auf Erfolg bietet (§ 73a Abs 1 Satz 1 SGG iVm § 114 Satz 1, § 121 Abs 1 ZPO). Es ist nicht zu erkennen, dass ein zugelassener Prozessbevollmächtigter in der Lage wäre, eine Nichtzulassungsbeschwerde des Klägers im Hinblick auf die Neubewertung von Ausbildungszeiten erfolgreich zu begründen. Soweit der Kläger die vorschüssige Rentenzahlung geltend macht, ist ihm Prozesskostenhilfe zu versagen, weil er letztlich nicht erreichen kann, was er mit dem Prozess erreichen möchte. Denn die Prozesskostenhilfe hat nicht den Zweck, Bedürftigen die Durchführung solcher Verfahren zu ermöglichen, die im Ergebnis nicht zu ihrem Vorteil ausgehen können und die daher ein vernünftiger Rechtsuchender nicht auf eigene Kosten führen würde (vgl BSG SozR 4-1500 § 73a Nr 2 RdNr 3).

51. Im Hinblick auf die erstrebte Neubewertung von Ausbildungszeiten ist keine Rechtsfrage erkennbar, die grundsätzliche Bedeutung haben könnte. Grundsätzliche Bedeutung iS von § 160 Abs 2 Nr 1 SGG hat eine Rechtssache nur, wenn sie eine Rechtsfrage aufwirft, die allgemeine, über den Einzelfall hinausgehende Bedeutung hat. Die Frage muss außerdem klärungsbedürftig sein. Das ist grundsätzlich nicht der Fall, wenn die Antwort darauf von vornherein praktisch außer Zweifel steht oder die Frage bereits höchstrichterlich entschieden ist (zum Ganzen vgl BSG SozR 3-1500 § 160a Nr 34 S 70). Dasselbe gilt, wenn ein oberstes Bundesgericht oder das BVerfG die Rechtsfrage zwar noch nicht ausdrücklich beantwortet haben, eine oder mehrere höchstrichterliche Entscheidungen aber bereits ausreichende Anhaltspunkte enthalten, um die Rechtsfrage zu beurteilen (vgl BSG SozR 3-1500 § 160 Nr 8 S 17; s hierzu auch Kummer, Die Nichtzulassungsbeschwerde, 2010, RdNr 314). Dies ist hier der Fall.

6Denn mit Urteilen vom (B 13 R 43/07 R und B 13 R 77/07 R - jeweils Juris unter Bezugnahme auf - BVerfGE 117, 272 = SozR 4-2600 § 58 Nr 7) und vom (B 5 KN 1/07 R - SozR 4-2600 § 72 Nr 3 RdNr 31) hat das BSG § 58 Abs 1 Satz 1 Nr 4 SGB VI in der Fassung des Gesetzes zur Umsetzung des Programms für mehr Wachstum und Beschäftigung in den Bereichen der Rentenversicherung und Arbeitsförderung (Wachstums- und Beschäftigungsförderungsgesetz - WFG) vom (BGBl I 1461) für verfassungsgemäß erachtet. Nach dieser Bestimmung wurden schulische Ausbildungszeiten nach Vollendung des 17. Lebensjahres bis zu einer Höchstdauer von drei Jahren rentenerhöhend berücksichtigt. Hieran änderte sich bis zum - als die Regelaltersrente des Klägers begann - nichts Wesentliches: Zwar hob das Altersvermögensergänzungsgesetz (AVmEG) vom (BGBl I 403) die Höchstdauer berücksichtigungsfähiger Ausbildungszeiten ab dem auf acht Jahre an. Nach dem zeitgleich eingefügten § 74 Satz 3 SGB VI (seit dem : Satz 4 gemäß FSJ-Förderungsänderungsgesetz vom , BGBl I 1667) wurden die Zeiten schulischer Ausbildung aber nur für höchstens drei Jahre "bewertet", dh nach wie vor wirkten nur höchstens drei Jahre schulischer Ausbildungszeit unmittelbar rentenerhöhend. Bei identischer Rechtslage ist die vorhandene höchstrichterliche Rechtsprechung ohne Weiteres auf die vorliegende Problematik übertragbar.

72. Bislang ist höchstrichterlich (noch) nicht entschieden, ob § 118 Abs 1 Satz 1 SGB VI in der Neufassung (nF) von Art 1 Nr 4b des Dritten Gesetzes zur Änderung des SGB VI vom (BGBl I 3019) mit Art 14 Abs 1 GG und Art 3 Abs 1 GG vereinbar ist, soweit er - in Abkehr von der bisherigen Regelung - ab dem die Fälligkeit laufender Geldleistungen auf das Ende des Monats verschiebt, zu dessen Beginn die Anspruchsvoraussetzungen erfüllt sind und die nachschüssige Rentenauszahlung vorschreibt. Gleichwohl ist zur Klärung dieser Rechtsfrage keine Prozesskostenhilfe zu gewähren. Denn es liegt auf der Hand, dass die angegriffene Neuregelung verfassungskonform ist. Ein Verstoß gegen Art 14 Abs 1 Satz 1 GG scheidet aus, weil schon der Schutzbereich der Eigentumsgarantie die bloße Erwartung des Klägers, seine Regelaltersrente werde vorschüssig gezahlt, nicht erfasst (vgl dazu BVerfGE 97, 67, 77).

8§ 118 Abs 1 Satz 1 SGB VI nF ist auch mit dem allgemeinen Gleichheitsgrundsatz vereinbar. Art 3 Abs 1 GG gebietet, alle Menschen vor dem Gesetz gleich zu behandeln. Damit ist dem Gesetzgeber aber nicht jede Differenzierung verwehrt. Er verletzt das Grundrecht nur, wenn er Rechtsnormen ausgestaltet und dabei eine Gruppe von Normadressaten im Vergleich zu anderen Normadressaten anders behandelt, obgleich zwischen beiden Gruppen keine Unterschiede von solcher Art und solchem Gewicht bestehen, dass sie die ungleiche Behandlung rechtfertigen könnten (stRspr vgl BVerfG SozR 3-1100 Art 3 Nr 176 S 173; Senatsurteil vom - B 5 RJ 22/01 R - SozR 3-5050 § 22b Nr 3 S 30). Der Kläger (und die von ihm repräsentierte Ausgangsgruppe der Neurentner) wird aufgrund der Neufassung des § 118 Abs 1 Satz 1 SGB VI anders behandelt als die Bestandsrentner, deren Rente vor dem begonnen hat (Vergleichsgruppe der Bestandsrentner). Im Gegensatz zur Ausgangsgruppe werden die Renten der Vergleichsgruppe - bei sonst identischem Sachverhalt - aufgrund der Übergangsbestimmung in § 272a Abs 1 Satz 1 SGB VI vorschüssig gezahlt, was zu einer Besserstellung der Vergleichsgruppe führt. Diese Ungleichbehandlung aufgrund des Stichtages ist verfassungsrechtlich nicht zu beanstanden. Denn der Gesetzgeber kann in den Grenzen des Willkürverbots grundsätzlich frei entscheiden, ob eine begünstigende Regelung erforderlich ist und bis wann sie gelten soll (BVerfGE 53, 224, 253 f). Er muss dabei nicht die zweckmäßigste, vernünftigste oder gerechteste Lösung wählen (BVerfGE 83, 395, 401; 84, 348, 359), vielmehr genügt es, wenn sich "irgendein sachlich vertretbarer zureichender Grund anführen lässt" (BVerfGE 71, 39, 58; 75, 108, 157). Eine insofern zulässige Erwägung kann dabei nicht nur im eigentlichen Zweck der betreffenden Regelung liegen, sondern beispielsweise auch in der Praktikabilität der Regelung (BVerfGE 41, 126, 188; BSG SozR 3-4100 § 111 Nr 14 S 53) oder in finanziellen Gesichtspunkten (BVerfG SozR 3-5761 Allg Nr 1 S 13). Stichtagsregelungen sind trotz der damit verbundenen Härten zulässig (BVerfGE 71, 364, 397), sofern sich die Einführung eines Stichtages am vorgegebenen Sachverhalt orientiert (BVerfG SozR 2200 § 1255a Nr 7 S 22).

9Die Entscheidung des Gesetzgebers, Fälligkeit und Zahlung laufender Rentenleistungen auf das Monatsende zu verlegen, war durch sachliche Gründe gerechtfertigt. Mit ihr sollten in der gesetzlichen Rentenversicherung rund 750.000.000 Euro je vollem Zugangsjahr gespart und dadurch zum Wohl aller der Beitragssatz auf 19,5 % stabilisiert werden (vgl BT-Drucks 15/1831, 1 f). Damit konnten weitere Belastungen der Arbeitnehmer und Arbeitgeber durch steigende Beitragssätze vermieden und die gesamtwirtschaftlichen Rahmenbedingungen verbessert werden, die ihrerseits Voraussetzung für die Nachhaltigkeit der Finanzierungsgrundlagen der gesetzlichen Rentenversicherung sind. Zur kurzfristigen Beitragssatzstabilisierung war die Wahl des Stichtags () sachgerecht und knüpfte am vorgegebenen Sachverhalt an. Dabei ist es keinesfalls willkürlich, dass die Zahlungsverzögerung nur die Gruppe der "Neurentner" trifft. Eine Beteiligung der Bestandsrentner, die sich auf die regelmäßige Auszahlung der Renten im Voraus eingestellt haben, wäre nur nach entsprechender Änderung ihrer Rentenbescheide möglich gewesen, was angesichts der großen Anzahl von Bestandsrenten einen enormen verwaltungsmäßigen und finanziellen Aufwand erfordert hätte, der Umfang und kurzfristige Realisierung des Einsparvolumens zu großen Teilen in Frage gestellt hätte. Im Übrigen stellt die nachschüssige Rentenauszahlung nur eine unwesentliche Schlechterstellung der Neurentner dar, die von dem gesetzgeberischen Ziel der schnellen und nachhaltigen Beitragssatzstabilisierung deutlich überwogen wird. Denn die Neuregelung lässt die Höhe der Rente unangetastet. Die Beeinträchtigung besteht lediglich darin, dass der Neurentner - anders als die Bestandsrentner - über den Rentenbetrag erst zum Monatsende und nicht schon zum Monatsanfang verfügen kann. Dabei kann - gemeinsam mit den Verfassern des Gesetzentwurfs (BT-Drucks 15/1831, 6) - typisierend davon ausgegangen werden, dass viele Neurentner ihr Erwerbseinkommen in der Vergangenheit ebenfalls nachschüssig erhalten haben, so dass sich im ersten Rentenmonat typischerweise keine "Deckungslücke" ergibt. Dasselbe gilt für Bezieher bestimmter Einkommensersatzleistungen wie dem Arbeitslosengeld oder der Verletztenrente, die ebenfalls erst nachträglich gezahlt werden (vgl § 337 Abs 2 SGB III und § 96 Abs 1 Satz 1 SGB VII). Ein konkreter wirtschaftlicher Nachteil durch die neue Auszahlungsregelung könnte allenfalls in einer Zinsbelastung für einen eventuell aufgenommenen Kredit zur Vorfinanzierung des ersten Rentenmonats gesehen werden oder - bei ausreichenden Eigenmitteln - in einem entsprechenden Zinsverlust, weil die Eigenmittel, statt sie Zins bringend anzulegen, verwendet werden mussten, um den Lebensunterhalt zu bestreiten. Angesichts eines monatlichen Rentenzahlbetrags von knapp 300 Euro bewegen sich diese möglichen Verluste für den Kläger allenfalls im unteren Euro- und damit im Bagatellbereich. Wegen derartiger geringfügiger Einbußen würde kein vernünftiger Rechtsuchender auf eigene Kosten ein Nichtzulassungsbeschwerdeverfahren führen.

103. Der Zulassungsgrund der Divergenz (§ 160 Abs 2 Nr 2 SGG) könnte ebenfalls nicht mit Erfolg geltend gemacht werden. Divergenz (Abweichung) bedeutet Widerspruch im Rechtssatz oder - anders ausgedrückt - das Nichtübereinstimmen tragender abstrakter Rechtssätze, die den miteinander zu vergleichenden Entscheidungen zu Grunde gelegt worden sind. Sie kommt nur dann in Betracht, wenn das LSG einen tragenden abstrakten Rechtssatz in Abweichung von einem vorhandenen abstrakten Rechtssatz des BSG, des GmSOGB oder des BVerfG aufgestellt hat (BSG SozR 3-1500 § 160a Nr 34 S 72 mwN). Davon kann vorliegend nicht ausgegangen werden.

114. Schließlich lässt sich auch kein Verfahrensmangel feststellen, der gemäß § 160 Abs 2 Nr 3 SGG zur Zulassung der Revision führen könnte. Nach Halbsatz 2 dieser Bestimmung kann der geltend gemachte Verfahrensmangel nicht auf eine Verletzung der §§ 109 und 128 Abs 1 Satz 1 SGG und auf eine Verletzung des § 103 SGG nur gestützt werden, wenn er sich auf einen Beweisantrag bezieht, dem das LSG ohne hinreichende Begründung nicht gefolgt ist. Ein derartiger Beweisantrag, den das Berufungsgericht unter Verstoß gegen die Amtsermittlungspflicht (§ 103 SGG) übergangen haben könnte, ist hier nicht ersichtlich. Auch im Übrigen sind Verfahrensmängel nicht zu erkennen.

12Da dem Kläger keine Prozesskostenhilfe zu bewilligen ist, hat er nach § 73a SGG iVm § 121 Abs 1 ZPO auch keinen Anspruch auf Beiordnung eines Rechtsanwalts.

ECLI Nummer:
ECLI:DE:BSG:2011:290611BB5R1411BH0

Fundstelle(n):
GAAAH-25289