BSG Beschluss v. - B 5 R 53/13 B

Nichtzulassungsbeschwerde - Verfahrensfehler - Verletzung des Amtsermittlungsgrundsatzes - Sachaufklärungspflicht des Gerichts

Gesetze: § 103 SGG, § 160a Abs 2 S 3 SGG, § 160 Abs 2 Nr 3 Halbs 2 SGG

Instanzenzug: Az: S 16 R 5526/06 Urteilvorgehend Landessozialgericht Berlin-Brandenburg Az: L 3 R 150/09 Urteil

Gründe

1I. Der Kläger begehrt die Gewährung einer Rente wegen Erwerbsminderung.

2Verwaltungs-, Widerspruchs- und Klageverfahren waren erfolglos (Bescheid vom ; Widerspruchsbescheid vom ; ). Während des Berufungsverfahrens hat der Kläger mehrfach auf die bei ihm bestehenden, sich verschlimmernden psychischen Störungen - zB Angstneurose, massive Schlafstörungen, Depressionen - hingewiesen und die Einholung eines neuro-psychiatrischen Gutachtens gefordert (ua Schreiben vom , , , "31".9.2011 und ). Mit Schreiben vom hat der Kläger die im Verfahren S 40 SB 741/10 (SG Berlin) von dem dortigen Beklagten überreichte psychiatrische Stellungnahme des Facharztes für Psychiatrie und Psychotherapie B. vom - Landesamt für Gesundheit und Soziales Berlin - vorgelegt. Dieser ist unter Auseinandersetzung mit dem Befundbericht der Fachärztin für Psychiatrie Dr. W. vom und der Beurteilung der psychologischen Psychotherapeutin Ba. sowie der Diplom-Psychologin Z. vom zu dem Ergebnis gelangt, dass aus den vorliegenden Befunden keine wesentlichen Einschränkungen der Erlebnis- und Gestaltungsfähigkeit hervorgingen, dies aber nach Aktenlage auch nicht auszuschließen sei und sich bei einer Begutachtung herausstellen könnte.

3In der mündlichen Verhandlung vom hat der Kläger ausgeführt, er frage sich nach wie vor, warum kein neuro-psychiatrisches Gutachten eingeholt worden sei.

4Mit Urteil vom hat das LSG die Berufung des Klägers zurückgewiesen. Für die Einholung eines Gutachtens auf neurologisch-psychiatrischem Fachgebiet bestehe kein Anlass. Die psychischen Leiden des Klägers seien vielmehr aufgrund des Sachverständigengutachtens Dr. Wo. vom und des Gutachtens des Neurologen und Psychiaters N. vom geklärt. Anhaltspunkte für eine Verschlimmerung des psychischen Leidens des Klägers lägen nicht vor. Der Kläger habe erstmals im Laufe des Berufungsverfahrens eine neuro-psychiatrische Begutachtung verlangt, ohne vorzutragen, worin genau sein psychisches Leiden bestehen bzw inwieweit sich ein solches verschlimmert haben könnte. Auch ließen die von den Sachverständigen Dr. S. sowie Prof. Dr. Sp. Ärzte für Orthopädie und Rheumatologie - erhobenen Anamnesen anlässlich der am bzw durchgeführten ambulanten Untersuchungen keine Rückschlüsse auf psychisch-neurologisch bedingte Funktionsbeeinträchtigungen aufgrund sozialer Zurückgezogenheit und Kontaktarmut zu. Ebenso wenig ergäben sich aus den im Schwerbehindertenverfahren S 40 SB 741/10 eingeholten Befundberichten Anhaltspunkte für eine rentenberechtigende Verschlimmerung des psychischen Leidens.

5Gegen die Nichtzulassung der Revision in diesem Urteil hat der Kläger Beschwerde beim BSG eingelegt. Er beruft sich auf eine Verletzung der tatrichterlichen Sachaufklärungspflicht iS von § 103 SGG und einen Verstoß gegen seinen Anspruch auf Gewährung rechtlichen Gehörs iS von § 62 SGG, Art 103 Abs 1 GG.

6II. Die zulässige Beschwerde ist begründet.

7Das angefochtene Urteil beruht auf einem Verfahrensmangel iS von § 160 Abs 2 Nr 3 SGG. Das LSG hat § 103 SGG verletzt, weil es einem Beweisantrag des Klägers ohne hinreichende Begründung nicht gefolgt ist.

8Der Kläger hat einen ordnungsgemäßen Beweisantrag gestellt und diesen bis zum Schluss der mündlichen Verhandlung vor dem LSG aufrechterhalten.

9War der Beschwerdeführer in der Berufungsinstanz - wie hier - durch keinen rechtskundigen Prozessbevollmächtigten vertreten, sind an Form, Inhalt, Formulierung und Präzisierung eines Beweisantrags verminderte Anforderungen zu stellen (BSG SozR 4-1500 § 160 Nr 1 RdNr 5; - Juris RdNr 5; vgl auch BSG SozR 4-1500 § 160 Nr 13 RdNr 11; BVerfG SozR 3-1500 § 160 Nr 6 S 14; Kummer, Die Nichtzulassungsbeschwerde, 2. Aufl 2010, RdNr 733). Ein unvertretener Beteiligter muss einen konkreten Beweisantrag nur sinngemäß gestellt haben, dh angeben, welche konkreten Punkte er am Ende des Verfahrens noch für aufklärungsbedürftig gehalten hat und auf welche Beweismittel das Gericht hätte zurückgreifen sollen, um diese weiter aufzuklären (BSG Beschlüsse vom - B 2 U 80/03 B - Juris RdNr 4 und vom - B 13 R 585/09 B - Juris RdNr 11).

10Diesen Anforderungen hat der Kläger genügt.

11Er hat mehrfach schriftlich darauf hingewiesen, dass er unter psychischen Störungen - zB Angstneurose, Schlafstörungen, Depressionen - leide und die Einholung eines neurologisch-psychiatrischen Gutachtens gefordert (vgl ua Schreiben vom , , , "31".9.2011 und ). Mit seiner in der mündlichen Verhandlung vom abgegebenen Erklärung "Ich frage mich nach wie vor, warum kein neuro-psychiatrisches Gutachten eingeholt worden ist." hat der Kläger der Tatsacheninstanz auch unmittelbar vor der Entscheidung vor Augen geführt, dass er die Sachaufklärungspflicht des Gerichts noch nicht als erfüllt ansieht. Unter Berücksichtigung seiner schriftlich dargelegten Gesundheitsstörungen auf psychischem Fachgebiet hat der nicht rechtskundig vertretene Kläger zudem hinreichend deutlich gemacht, welche konkreten Tatsachen aufzuklären sind.

12Das LSG ist diesem Beweisantrag ohne hinreichende Begründung nicht gefolgt.

13Diese Voraussetzung ist erfüllt, wenn das Berufungsgericht objektiv im Rahmen der Amtsermittlungspflicht zu weiterer Sachaufklärung gehalten war, wenn es sich also von seinem Rechtsstandpunkt aus zur beantragten Beweiserhebung hätte gedrängt fühlen müssen (zB BSG Beschlüsse vom - B 5 R 208/09 B - Juris RdNr 5 und vom - B 9 VG 16/10 B - Juris RdNr 14, jeweils mwN).

14Dies ist zu bejahen.

15Für das LSG war das Ausmaß der Gesundheitsstörungen des Klägers und die hierdurch bedingte Einschränkung seiner Erwerbsfähigkeit entscheidungserheblich. Ausgehend von diesem Rechtsstandpunkt durfte es das psychische Leiden des Klägers nicht aufgrund von neurologisch-psychiatrischen Gutachten aus den Jahren 2006 (Dr. Wo.) und 2004 (N.) als geklärt ansehen, nach denen der Kläger damals unter einer Anpassungsstörung bei sozialer Belastungssituation, Mischkopfschmerz bei Migräne und Spannungskopfschmerz, einem Wurzelreizsyndrom S1 rechts, einer Persönlichkeitsakzentuierung und allenfalls einer leichten Herzphobie (Dr. Wo.) bzw lediglich Durchschlafstörungen und Kopfschmerzen (N.) litt. Demgegenüber beschreibt die Fachärztin für Psychiatrie Dr. W. in dem im Schwerbehindertenverfahren S 40 SB 741/10 (SG Berlin) eingeholten Befundbericht vom eine rezidivierende Depression des Klägers, die sie in der Ausprägung als somatoforme Störung mit wesentlicher Einschränkung der Erlebnis- und Gestaltungsfähigkeit einschätzt. Zwar vermag nach Auffassung des LSG ua der Befundbericht der Ärztin Dr. W. die abweichenden Diagnosen des Sachverständigen Dr. Wo. nicht zu entkräften, weil er keine konkret erhobenen Befunde angebe, die den Schluss auf ein bestimmtes Leiden rechtfertigten, und sich dem Bericht zudem Äußerungen zu rentenrechtlich bedeutsamen Funktionsbeeinträchtigungen nicht entnehmen ließen. Dass der Befundbericht vom keine konkret erhobenen Befunde und keine Funktionsbeeinträchtigungen beschreibt, bedeutet indes nicht, dass solche nicht vorhanden sind. Schon deshalb vermag die Schlussfolgerung des LSG, es bestünde kein Anlass zu weiteren Ermittlungen, nicht zu überzeugen. Dies gilt umso mehr, als der Facharzt für Psychiatrie und Psychotherapie B. in seiner Stellungnahme vom unter Auswertung der Befundberichte Dr. W. sowie der psychologischen Psychotherapeutin Ba. und der Diplom-Psychologin Z. ausgeführt hat, nach Aktenlage seien wesentliche Einschränkungen der Erlebnis- und Gestaltungsfähigkeit nicht auszuschließen und könnten sich bei Begutachtung herausstellen. Angesichts dieser fachkundigen Einschätzung lassen auch die Anamneseerhebungen der Orthopäden und Rheumatologen Dr. S. und Dr. Sp., die nach Auffassung des LSG keine Anhaltspunkte für psychiatrisch-neurologische Funktionsbeeinträchtigungen des Klägers enthalten, die Klärungsbedürftigkeit seines psychischen Leidens nicht entfallen, zumal das LSG nicht darstellt, woraus es seine Fachkunde bezieht.

16Die angefochtene Entscheidung kann auf der unterlassenen Beweisaufnahme beruhen. Es ist nicht auszuschließen, dass eine Begutachtung des Klägers auf neurologisch-psychiatrischem Fachgebiet ergibt, dass dieser an einem psychischen Leiden erkrankt ist, das seine Erwerbsfähigkeit in einem rentenberechtigenden Ausmaß einschränkt.

17Bei dieser Sachlage kann dahinstehen, ob das LSG auch den Anspruch des Klägers auf Gewährung rechtlichen Gehörs verletzt hat.

18Zur Vermeidung einer zeitlichen Verzögerung hat der Senat die Sache zur erneuten Verhandlung und Entscheidung an das LSG zurückverwiesen (§ 160a Abs 5 SGG).

19Die Kostenentscheidung bleibt der Entscheidung des LSG vorbehalten.

ECLI Nummer:
ECLI:DE:BSG:2013:310713BB5R5313B0

Fundstelle(n):
PAAAH-25098