BAG Urteil v. - 10 AZR 211/17

Tarifliche Funktionszulage für Kassierer/innen des Lebensmitteleinzelhandels in Baden-Württemberg - Auslegung der Tarifvorschrift I 2 a der Tarifverträge über Gehälter, Löhne, Ausbildungsvergütungen und Sozialzulagen für die Arbeitnehmer/innen und Auszubildenden des Einzelhandels in Baden-Württemberg (GTV)

Gesetze: § 1 TVG, § 133 BGB

Instanzenzug: Az: 6 Ca 355/15 Urteilvorgehend Landesarbeitsgericht Baden-Württemberg Az: 14 Sa 33/16 Urteil

Tatbestand

1Die Parteien streiten über tarifliche Funktionszulagen für den Zeitraum von Januar 2015 bis Februar 2016.

2Die Klägerin ist bei der Beklagten, einem Unternehmen des Einzelhandels, als Kassiererin in Teilzeit in einem Umfang von 30,12 Wochenstunden beschäftigt. Sie war im entscheidungserheblichen Zeitraum in einem Verbrauchermarkt in K eingesetzt, der über eine Verkaufsfläche von 4.500 m² verfügt und in dem ca. 81 % der Waren im Lebensmittelbereich umgesetzt werden. Der Markt ist verkehrsgünstig gelegen. Es bestehen gute Parkmöglichkeiten.

3Auf das Arbeitsverhältnis der Parteien fanden im Streitzeitraum kraft beiderseitiger Tarifbindung der Manteltarifvertrag für die Angestellten und gewerblichen Arbeitnehmer/innen des Einzelhandels in Baden-Württemberg vom (MTV) und die - soweit für die Revision von Interesse - inhaltsgleichen Tarifverträge über Gehälter, Löhne, Ausbildungsvergütungen und Sozialzulagen für die Arbeitnehmer/innen und Auszubildenden des Einzelhandels in Baden-Württemberg vom und vom (GTV) Anwendung. Der GTV vom enthält ua. folgende Bestimmungen:

4§ 5 MTV lautet auszugsweise:

5Die Klägerin war in die Beschäftigungsgruppe III GTV eingruppiert und wurde entsprechend vergütet. Eine Funktionszulage nach I 2 a GTV zahlte die Beklagte nicht.

6Mit Schreiben vom machte die Klägerin die Zahlung dieser Funktionszulage ab dem und rückwirkend für die letzten drei Monate gegenüber der Beklagten geltend. Diese lehnte eine Zahlung ab.

7Die Klägerin hat die Auffassung vertreten, sie erfülle mit ihrer Tätigkeit als Kassiererin in einem Schnell- und Selbstbedienungsladen des Lebensmitteleinzelhandels sämtliche Voraussetzungen der Funktionszulage nach I 2 a GTV. Auf ihre Eingruppierung komme es hierfür nicht an.

8Die Klägerin hat - soweit für die Revision von Bedeutung - beantragt,

9Die Beklagte hat beantragt, die Klage abzuweisen. Sie hat die Auffassung vertreten, der Anspruch ergebe sich bei zweckorientierter Auslegung des GTV weder aus dessen Wortlaut und Gesamtzusammenhang noch aus Sinn und Zweck der Norm. Ein anderes Ergebnis sei nicht praktikabel und widersprüchlich. Wesentliches Kriterium für die Zahlung der Funktionszulage sei die Befassung mit Lebensmitteln. Dem werde jedoch bereits durch das Regelbeispiel „Kassierer/innen Verbrauchermarktkassen“ der Gehaltsgruppe III Rechnung getragen, so dass nur Kassiererinnen der Gehaltsgruppe II die Funktionszulage beanspruchen könnten.

10Arbeitsgericht und Landesarbeitsgericht haben der Klage - soweit für die Revision von Interesse - stattgegeben. Mit der vom Landesarbeitsgericht zugelassenen Revision begehrt die Beklagte weiterhin die vollständige Abweisung der Klage.

Gründe

11Die zulässige Revision der Beklagten ist unbegründet.

12I. Die zulässige noch rechtshängige Klage hat in der Sache Erfolg. Die Klägerin hat für den Streitzeitraum nach I 2 a GTV iVm. § 5 Abs. 1 MTV dem Anteil ihrer Arbeitszeit entsprechende Ansprüche auf die tarifliche Funktionszulage in Höhe von insgesamt 230,02 Euro brutto. Hiervon geht das Landesarbeitsgericht zutreffend aus.

131. Die Klägerin war im maßgeblichen Zeitraum als Kassiererin in einem Schnell- und Selbstbedienungsladen des Lebensmitteleinzelhandels iSv. I 2 a GTV tätig. Dies steht zwischen den Parteien nicht im Streit. Der Umstand, dass sie diese Tätigkeit in einem Verbrauchermarkt ausübte und deshalb nach Beschäftigungsgruppe III GTV vergütet wurde, steht dem Anspruch auf die Funktionszulage nicht entgegen. Das ergibt eine Auslegung der Tarifvorschrift.

14a) Der Tarifwortlaut des GTV, von dem vorrangig auszugehen ist (st. Rspr., vgl. zB  - Rn. 10, BAGE 144, 117), ist eindeutig. Der Begriff der „Funktionszulage“ kennzeichnet Arbeitsentgelt für die Verrichtung von Arbeit in einer bestimmten Funktion ( - Rn. 16). In der Tarifnorm wird diese zu vergütende Funktion mit „Tätigkeit als Kassierer/-in in Schnell- und Selbstbedienungsläden des Lebensmitteleinzelhandels“ beschrieben. Weitere Bedingungen oder Voraussetzungen, beispielsweise eine bestimmte Eingruppierung (vgl. zu einer solchen Tarifregelung zB  - Rn. 8), werden nicht aufgestellt. Die Tarifnorm unterscheidet auch nicht zwischen dem Einsatz der Beschäftigten in Verbrauchermärkten (zu diesem Begriff  - Rn. 19 ff.) und anderen Schnell- und Selbstbedienungsläden des Lebensmitteleinzelhandels. Insbesondere finden sich im Wortlaut der Norm keinerlei Anhaltspunkte dafür, dass die Funktionszulage nur Kassierern/Kassiererinnen der Beschäftigungsgruppe II GTV zusteht, wie die Revision meint.

15b) Die Tarifsystematik und der Tarifzusammenhang machen ebenfalls deutlich, dass der Anspruch auf die Funktionszulage nicht von der Eingruppierung der Kassiererin oder des Kassierers abhängt, sondern unabhängig hiervon besteht, wenn die tariflichen Voraussetzungen vorliegen.

16aa) In I 1 GTV werden zunächst die Beschäftigungsgruppen mit Tätigkeitsmerkmalen und Beispielen näher geregelt. Sodann werden unter I 2 a GTV die Gehaltssätze der Angestellten in den jeweiligen Beschäftigungsgruppen gestaffelt nach Tätigkeitsjahr tabellarisch aufgelistet. Daran anschließend findet sich in einem eigenen Absatz die Bestimmung über die Funktionszulage. Sie ist systematisch keiner bestimmten Beschäftigungsgruppe zugeordnet, sondern findet nach ihrer Stellung im Tariftext grundsätzlich auf alle vorstehenden Beschäftigungsgruppen Anwendung. Hätten die Tarifvertragsparteien die Funktionszulage nur Beschäftigten der Gruppe II gewähren wollen, hätte es nahegelegen, die Regelung dieser Beschäftigungsgruppe unmittelbar textlich zuzuordnen (vgl. zu einem solchen Fall zB  - Rn. 8).

17bb) Diesem Verständnis steht - anders, als die Revision annimmt - § 11 Nr. 3 MTV nicht entgegen. Die Tarifnorm bestimmt, dass für die Einreihung in die Beschäftigungsgruppen II bis V nach I 1 GTV regelmäßig eine abgeschlossene kaufmännische Berufsausbildung mit zwei- oder dreijähriger Ausbildungszeit erforderlich ist, der eine einschlägige Berufstätigkeit bestimmter Dauer gleichgestellt wird (§ 11 Nr. 3 Abs. 2 Satz 2 GTV). Weder lässt sich aus dieser Bestimmung in Bezug auf die Regelung der Funktionszulage in I 2 a GTV eine Beschränkung auf eine bestimmte Beschäftigungsgruppe ableiten, noch stünde sie - bei entsprechendem Regelungswillen der Tarifvertragsparteien - einer solchen Beschränkung entgegen.

18c) Entgegen der Auffassung der Revision gebieten auch Sinn und Zweck der Regelung, soweit sie aus dem Tarifwerk erkennbar sind, nicht, die Zahlung der Funktionszulage nur solchen Kassierern/Kassiererinnen zu gewähren, die der Beschäftigungsgruppe II GTV zugeordnet sind. Ebenso wenig stehen Praktikabilitätserwägungen einem solchen Verständnis entgegen.

19aa) Eine tarifliche Funktionszulage ist Arbeitsentgelt für die Verrichtung von Arbeit in einer bestimmten Funktion. Je nach tariflicher Struktur kann sie eine zusätzliche Vergütung für herausgehobene Tätigkeiten darstellen, die noch nicht die Voraussetzungen der nächsthöheren Vergütungsgruppe erfüllen ( - Rn. 16). Zwingend ist das aber nicht. In Betracht kommt auch allgemein die Vergütung einer von den Tarifvertragsparteien als höherwertig angesehenen Tätigkeit, die in den allgemeinen Vergütungsgruppen nicht abgebildet ist (vgl. zB  - zu II 2 der Gründe). Dadurch können zB auch erschwerende Umstände bei der Tätigkeit zusätzlich vergütet werden. Letzteres ist hier der Fall (vgl. zu der umstrittenen Tarifbestimmung in einer früheren - wortgleichen - Fassung  - Rn. 44). Die Besonderheiten der Tätigkeit als Kassierer/in in Schnell- und Selbstbedienungsläden gerade des Lebensmitteleinzelhandels, die durch eine hohe Kundenfrequenz und eine Vielzahl von Waren geprägt ist, sind durch die tarifliche Eingruppierung nicht abgebildet (vgl. auch  - Rn. 26). Dies gilt bei einer Eingruppierung sowohl in die Beschäftigungsgruppe II als auch in die Beschäftigungsgruppe III. Die in die Beschäftigungsgruppe III eingruppierten Kassierer/innen an Verbrauchermarktkassen werden wegen des Begriffs des Verbrauchermarkts (vgl.  - Rn. 19 ff.) zwar häufig gleichzeitig die Voraussetzungen der Funktionszulage nach I 2 a GTV erfüllen. Für andere in Beschäftigungsgruppe III eingruppierte Kassierer/innen gilt das aber nicht, soweit sie nicht im Lebensmitteleinzelhandel tätig sind. Einen Vergütungsanspruch nach Beschäftigungsgruppe III haben hingegen beide Gruppen, unabhängig von einer Tätigkeit im Bereich des Lebensmitteleinzelhandels. Um die von den Tarifvertragsparteien in diesem Branchensegment angenommenen Besonderheiten zu berücksichtigen, muss die Funktionszulage deshalb als eigenständiger, neben der eigentlichen Eingruppierung stehender Anspruch verstanden werden.

20bb) Diese Bewertung liegt im Rahmen der tariflichen Regelungsfreiheit. Eine Überprüfung der Billigkeit und Angemessenheit tariflicher Tätigkeitsbewertungen durch die Arbeitsgerichte scheidet im Hinblick auf die durch Art. 9 Abs. 3 GG verfassungsrechtlich geschützte Tarifautonomie grundsätzlich aus ( - Rn. 44). Davon geht das Landesarbeitsgericht zu Recht aus. Daher steht der Umstand, dass Kassierer/innen etwa in Möbelmärkten keinen Anspruch auf eine solche Funktionszulage haben, dem hier gefundenen Auslegungsergebnis nicht entgegen. Im Übrigen würde die von der Beklagten monierte Ungleichbehandlung beim Entgelt den bestehenden tariflichen Anspruch der Klägerin nicht berühren, sondern bis zu einer Änderung der Norm zu einer Anpassung „nach oben“ zugunsten der benachteiligten Beschäftigtengruppen führen (vgl. zB  - Rn. 58).

21cc) Praktikabilitätserwägungen stehen dem gefundenen Auslegungsergebnis ebenso wenig entgegen; die von der Revision angeführten allgemeinen Bedenken überzeugen nicht. Die tariflichen Tatbestandsvoraussetzungen für die Funktionszulage sind unschwer zu ermitteln.

222. Der Klägerin stand im Hinblick auf ihre Teilzeitbeschäftigung nach § 5 Abs. 1 MTV die tarifvertragliche Funktionszulage anteilig in Höhe von monatlich 16,43 Euro brutto zu. Für den Streitzeitraum von Januar 2015 bis einschließlich Februar 2016 ergibt dies einen Gesamtbetrag von 230,02 Euro brutto. Nach den nicht angegriffenen Feststellungen des Landesarbeitsgerichts hat die Klägerin den Anspruch rechtzeitig nach § 26 Nr. 1 Buchst. c MTV geltend gemacht. Der Zinsanspruch ergibt sich aus § 286 Abs. 2 Nr. 1, § 288 Abs. 1 BGB.

23II. Die Beklagte hat nach § 97 Abs. 1 ZPO die Kosten ihrer erfolglosen Revision zu tragen.

Auf diese Entscheidung wird Bezug genommen in folgenden Gerichtsentscheidungen:

ECLI Nummer:
ECLI:DE:BAG:2018:150818.U.10AZR211.17.0

Fundstelle(n):
WAAAG-96452