BFH Beschluss v. - X B 16/02

Hinweispflicht des Gerichts und Verletzung der Sachaufklärungspflicht

Gesetze: FGO § 76

Gründe

I. In ihrer Einkommensteuererklärung für das Streitjahr 1993 deklarierte die Klägerin und Beschwerdeführerin (Klägerin) die folgenden Einkünfte aus ihrem gewerblichen Betrieb:


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laufender Gewinn
762 858 DM  
tarifbegünstigter Betriebsaufgabegewinn
  1 684 048 DM  
insgesamt:
2 446 906 DM

Ausweislich des den Steuererklärungen 1993 beigefügten Jahresabschlusses 1993 setzte sich der erklärte Betriebsaufgabegewinn wie folgt zusammen:


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Veräußerungserlöse  
 
-
1 170 000,00 DM  
-
700 000,00 DM  
-
2 608,70 DM  
-
17 217,39 DM  
-
145 000,00 DM  
- Einrichtung, Bestände
12 860,00 DM  
- Grundstück X-Straße
20 000,00 DM  
- Entnahme Grundstück Y-Straße  
    119 000,00 DM  
Zwischensumme:
2 186 686,09 DM  
./. Buchwerte
  502 638,00 DM  
Summe
1 684 048,09 DM

Das Grundstück X-Straße hatte die Klägerin im Streitjahr 1993 veräußert. Der Kaufpreis in Höhe von 750 000 DM wurde vom Käufer in Höhe eines Teilbetrages von 20 000 DM bar gezahlt und in Höhe des Rests (730 000 DM) dadurch geleistet, dass der Käufer auf dem Grundstück dinglich gesicherte Verbindlichkeiten persönlich übernahm.

Der Beklagte und Beschwerdegegner (das Finanzamt —FA—) setzte die Einkommensteuer 1993 im ursprünglichen, unter dem Vorbehalt der Nachprüfung stehenden Bescheid vom zunächst erklärungsgemäß fest.

Im Rahmen einer späteren Betriebsprüfung gelangte der Prüfer zu dem Ergebnis, dass eine (begünstigte) Betriebsaufgabe nicht in Betracht komme; er ordnete demgemäß die gesamten von der Klägerin im Streitjahr 1993 erzielten gewerblichen Einkünfte dem laufenden Gewinn zu. Dabei erhöhte er u.a. den von der Klägerin bislang mit lediglich 20 000 DM erfassten Erlös aus der Veräußerung des Grundstücks X-Straße um den Schuldübernahmebetrag in Höhe von 730 000 DM. Der Prüfer gelangte aufgrund dieser und weiterer Korrekturen des von der Klägerin mit 2 446 906 DM erklärten Gesamtgewinns zu einem laufenden Gewinn in Höhe von 2 779 240 DM.

Den Erkenntnissen des Prüfers folgend erließ das FA den angefochtenen Einkommensteueränderungsbescheid 1993 vom .

Im anschließenden Einspruchsverfahren wendete sich die Klägerin dagegen, dass das FA eine (tarifbegünstigte) Betriebsaufgabe im Jahr 1993 abgelehnt hatte. Ausdrücklich heißt es in der Einspruchsbegründung vom u.a.:

”Bestritten wird, dass die Veräußerung des Grundstücks X-Straße, die Veräußerung der…und die Entnahme des Grundstücks Y-Straße dem laufenden Gewinn hinzuzurechnen sind. ...

Beantragt wird, die Veräußerungen des Grundstücks und der…sowie die Entnahme des Grundstücks Y-Straße nicht dem laufenden Gewinn hinzuzurechnen .... ”

Einen bezifferten Antrag stellte die Klägerin im Einspruchsverfahren nicht.

Das FA wies den Einspruch als unbegründet zurück (vgl. Einspruchsentscheidung vom ). Mit ihrer dagegen gerichteten Klage hat die Klägerin ihr Begehren weiterverfolgt und sich gegen die vom Betriebsprüfer und FA vorgenommene Einordnung der o.g. Veräußerungs- und Entnahmevorgänge —darunter auch die Veräußerung des Grundstücks X-Straße— in den laufenden Gewinn gewandt. Bei der Bezifferung ihres Klageantrags hat die Klägerin allerdings die vom FA im angefochtenen Einkommensteueränderungsbescheid 1993 vom unter Auswertung der Erkenntnisse des Betriebsprüfers vorgenommenen Gewinnkorrekturen negiert und an den in der Einkommensteuererklärung 1993 und im Jahresabschluss 1993 deklarierten —zu niedrigen— ”Betriebsaufgabegewinn” in Höhe von 1 684 048 DM angeknüpft. So hat sie vor dem Finanzgericht (FG) beantragt, ”für 1993 einen gemäß §§ 16, 34 EStG ermäßigt zu besteuernden Veräußerungsgewinn von 1 684 048 DM zuzüglich 67 635 DM (letztgenannter Betrag betrifft Veräußerungs- und Entnahmegewinne, welche die Klägerin und der Betriebsprüfer sowie das FA zunächst dem Jahr 1995 zugeordnet hatten) anzusetzen, die Einspruchsentscheidung vom …aufzuheben und den Einkommensteuerbescheid für 1993 vom entsprechend zu ändern”.

Das FG schloss sich den rechtlichen Erwägungen der Klägerin, dass die streitigen Veräußerungs- und Entnahmevorgänge als tarifbegünstigter Betriebsaufgabegewinn zu qualifizieren und dementsprechend aus dem laufenden Gewinn auszugliedern seien, in vollem Umfang an. Es beabsichtigte daher, diesem Begehren in vollem Umfang stattzugeben, übersah aber —offensichtlich veranlasst durch den zu niedrig bezifferten Klageantrag—, dass der nach seiner Rechtsauffassung anzusetzende Betriebsaufgabegewinn 1993 —entsprechend den Korrekturen des Betriebsprüfers— höher und der laufende Gewinn entsprechend niedriger anzusetzen gewesen wären. Dabei hat das FG den von den Prozessbevollmächtigten der Klägerin bezifferten Klageantrag durchaus nicht ungeprüft übernommen, sondern —wenn auch unvollständig— korrigierend ausgelegt. So heißt es eingangs der Entscheidungsgründe des FG-Urteils (S. 8):

”Ein auf Gewinnminderung gerichtetes Klagebegehren umfasst zusätzlich die Auflösung einer für diesen Gewinnanteil gebildeten Gewerbesteuerrückstellung, da alle steuerlichen Auswirkungen zu berücksichtigen sind, selbst wenn sie sich zu Lasten des Steuerpflichtigen auswirken. Der Klageantrag der Klägerin ist daher entsprechend auszulegen, auch wenn auf die Gewerbesteuerrückstellung nicht ausdrücklich Bezug genommen worden ist. Die danach auf Anerkennung eines Veräußerungsgewinns unter gleichzeitiger Teilauflösung der Gewerbesteuerrückstellung gerichtete Klage hat im vollen Umfang Erfolg. Der angefochtene Einkommensteuerbescheid 1993 vom war unter Aufhebung der Einspruchsentscheidung für 1993 gemäß § 100 Abs. 2 Satz 1 FGO zu ändern und die Einkommensteuer neu festzusetzen.”

Mit ihrer Nichtzulassungsbeschwerde macht die Klägerin u.a. geltend, dass das FG gegen seine Sachaufklärungspflicht (§ 76 Abs. 1 der FinanzgerichtsordnungFGO—) sowie die richterliche Hinweis- und Fürsorgepflicht (§ 76 Abs. 2 FGO) verstoßen habe. Das FG sei gemäß § 76 Abs. 1 FGO verpflichtet gewesen, die Höhe des erzielten Betriebsaufgabegewinns korrekt zu ermitteln. Dies wäre ihm aufgrund der vorliegenden Steuerakten mit dem darin enthaltenen Betriebsprüfungsbericht ohne weiteres möglich gewesen. Das FG sei unter dem Aspekt des § 100 Abs. 2 FGO sogar zu erhöhter Sorgfalt verpflichtet gewesen, da es den Steuerbetrag selbst ermittelt habe.

Aus ihrem (der Klägerin) Sach- und Rechtsvortrag habe sich ihr Begehren ergeben, den gesamten im Streitjahr 1993 erzielten Aufgabegewinn der Tarifbegünstigung zu unterwerfen. Hierzu habe der von ihr bezifferte Antrag im Widerspruch gestanden, da er beim vollständigen Obsiegen nur zu einer teilweisen Tarifbegünstigung des erzielten Aufgabegewinns habe führen können. Jeder objektive Beobachter wäre bei Kenntnis der Fakten (insbesondere des Betriebsprüfungsberichts) zu dem Ergebnis gelangt, dass der gestellte Klageantrag unvollständig gewesen sei. Das FG hätte hierauf im Rahmen seiner Sachaufklärungs- und Hinweispflicht aufmerksam machen müssen. Dem stehe auch nicht entgegen, dass sie (Klägerin) fachkundig beraten gewesen sei.

II. Die Beschwerde ist begründet. Das angefochtene Urteil beruht auf einem Verfahrensmangel i.S. des § 115 Abs. 2 Nr. 3 FGO. Dies hat gemäß § 116 Abs. 6 FGO die Aufhebung der angefochtenen Vorentscheidung sowie die Zurückverweisung der Sache an das FG zur anderweitigen Verhandlung und Entscheidung zur Folge.

1. Die Vorentscheidung beruht auf einer Verletzung des § 76 Abs. 1 und 2 FGO.

a) aa) Gemäß § 76 Abs. 1 Satz 1 FGO hat das Gericht den Sachverhalt von Amts wegen zu erforschen. Zur Erfüllung dieser Pflicht hat das Gericht die entscheidungserheblichen Tatsachen so vollständig wie möglich und bis zur Grenze des Zumutbaren, d.h. unter Ausnutzung aller verfügbaren Beweismittel, aufzuklären (vgl. z.B. Tipke/Kruse, Abgabenordnung-Finanzgerichtsordnung, 16. Aufl., § 76 FGO Rz. 20, m.w.N. aus der ständigen Rechtsprechung des Bundesfinanzhofs —BFH—).

bb) Gemäß § 76 Abs. 2 FGO hat das Gericht u.a. darauf hinzuwirken, dass ”sachdienliche Anträge gestellt” und ”unklare Anträge erläutert ...” werden. Dabei beschränkt sich diese Verpflichtung nicht auf diejenigen Fälle, in denen die (Sach- oder Prozess-)Anträge der Beteiligten infolge Verkennung der Rechtslage nicht oder nicht richtig vorgebracht worden sind. Sie umfasst vielmehr auch solche Anträge, die ein Prozessbeteiligter aus Versehen, d.h. ohne dass dem Beteiligten der an sich erkennbare Mangel bewusst geworden ist, nicht oder nicht richtig gestellt hat (vgl. z.B. , Neue Juristische Wochenschrift —NJW— 1965, 1875, betreffend den mit § 76 Abs. 2 FGO inhaltsgleichen § 86 Abs. 3 der VerwaltungsgerichtsordnungVwGO—; vgl. auch Senatsurteil vom X R 1/86, BFHE 155, 521, BStBl II 1989, 376, unter II. der Gründe, betreffend offensichtlichen Widerspruch zwischen dem Inhalt des Klagebegehrens und der Fassung des Klageantrages; ferner z.B. Tipke/ Kruse, a.a.O., § 76 FGO Rz. 106; Hellwig in Hübschmann/Hepp/ Spitaler, Abgabenordnung-Finanzgerichtsordnung, 10. Aufl., § 76 FGO Rz. 76; Beermann/Stöcker, Steuerliches Verfahrensrecht, § 76 FGO Rz. 51).

Inhalt und Umfang dieser Hinweis- und Aufklärungspflichten richten sich hierbei nach den jeweiligen Umständen des Einzelfalles (vgl. Gräber/von Groll, Finanzgerichtsordnung, 5. Aufl., § 76 Rz. 41, m.w.N.; Beermann/Stöcker, a.a.O., § 76 FGO Rz. 51, m.w.N.; Hellwig in Hübschmann/Hepp/Spitaler, a.a.O., § 76 FGO Rz. 75; Tipke/Kruse, a.a.O., § 76 FGO Rz. 102, m.w.N.) und können in ihrer Intensität insbesondere auch dadurch beeinflusst werden, ob der Beteiligte im Prozess durch einen Angehörigen der rechts- und steuerberatenden Berufe vertreten war oder nicht (vgl. z.B. , BFH/NV 1994, 790, unter 1. b, m.w.N.; , BFH/NV 1996, 416; Beermann/ Stöcker, a.a.O., § 76 FGO Rz. 51; Hellwig in Hübschmann/Hepp/ Spitaler, a.a.O., § 76 FGO Rz. 73; kritisch dazu Tipke/Kruse, a.a.O., § 76 FGO Rz. 104).

Einigkeit besteht indessen darüber, dass die richterliche Hinweis- und Aufklärungspflicht auch dann nicht vollständig entfällt, wenn der Beteiligte vor Gericht fachkundig vertreten war (vgl. z.B. BFH-Urteil in BFH/NV 1994, 790, unter 1. c, m.w.N.; Tipke/Kruse, a.a.O., § 76 FGO Rz. 103, m.w.N.; Hellwig in Hübschmann/Hepp/Spitaler, a.a.O., § 76 FGO Rz. 73); die gegenteilige Interpretation des § 76 Abs. 2 FGO fände in dessen Wortlaut keine Stütze.

b) Bei Anlegung dieser Maßstäbe hat die Klägerin schlüssig gerügt, dass das FG seine von Amts wegen bestehende Pflicht zur Sachverhaltsaufklärung (§ 76 Abs. 1 Satz 1 FGO) sowie seine Verpflichtung zur Hinwirkung auf das Stellen sachdienlicher Anträge und die Erläuterung unklarer Anträge (§ 76 Abs. 2 FGO) verletzt hat. Die gerügten Verfahrensmängel liegen auch tatsächlich vor.

aa) Bei gehöriger Erfüllung seiner Sachaufklärungspflicht musste sich dem FG aufdrängen, dass der von der Klägerin bezifferte Klageantrag infolge eines offenkundigen Versehens hinter ihrem erstrebten Klageziel zurückblieb. Die Klägerin hatte ihrem Jahresabschluss für 1993 eine gesonderte Aufstellung über die Berechnung des Aufgabegewinns in Höhe von 1 684 048,09 DM beigefügt, in welcher sie die nach ihrer Auffassung dem tarifbegünstigten Betriebsaufgabegewinn i.S. von §§ 16 Abs. 3, 34 des Einkommensteuergesetzes (EStG) zuzuordnenden Veräußerungs- und Entnahmevorgänge im Einzelnen bezeichnet hatte. In dieser Aufstellung war auch die Veräußerung des Grundstücks X-Straße mit einem Veräußerungserlös von 20 000 DM enthalten. Im Rahmen der späteren Betriebsprüfung erhöhte der Prüfer —wie das FG dem Betriebsprüfungsbericht vom (Tz. 1.7) eindeutig hätte entnehmen können— diesen Veräußerungserlös, der lediglich dem Barkaufpreisteil entsprach, um 730 000 DM; in diesem Umfang hatte der Käufer die auf dem Grundstück dinglich gesicherten Verbindlichkeiten der Klägerin auch persönlich übernommen. Daneben nahm der Prüfer weitere Gewinnkorrekturen vor.

Die entsprechenden Korrekturen übernahm das FA vollumfänglich in den angefochtenen Einkommensteueränderungsbescheid 1993 vom . Wenn nun die Klägerin unter Außerachtlassung dieser Korrekturen bei der Bezifferung ihres Klageantrages gleichwohl an den durch den ausdrücklich angefochtenen Einkommensteueränderungsbescheid 1993 überholten, ursprünglich von ihr erklärten Betriebsaufgabegewinn in Höhe von 1 684 048,09 DM anknüpfte, so konnte dies mangels jeglicher gegenteiliger Anhaltspunkte im erstinstanzlichen Vortrag der Klägerin nur auf einem offenkundigen Versehen der Klägerin beruhen. Diesen augenscheinlichen Irrtum hätte das FG unbeschadet der fachkundigen Vertretung der Klägerin bemerken und diese auf ihn hinweisen müssen. Dies gilt umso mehr, als sich das FG ausdrücklich mit der Auslegung des Klagebegehrens befasst und den Klageantrag in Bezug auf die Minderung der Gewerbesteuerrückstellung korrigierend ausgelegt hat. Dies gilt vor allem aber auch deswegen, weil das FG im Streitfall von der Möglichkeit abgesehen hat, die Berechnung der Steuer gemäß § 100 Abs. 2 Satz 2 FGO dem FA zu übertragen, und stattdessen die nach seiner Rechtsauffassung zu mindernde Einkommensteuer gemäß § 100 Abs. 2 Satz 1 FGO selbst festgesetzt hat. Im Rahmen dieser Steuerfestsetzung musste sich das FG —unter Heranziehung der Steuerakten, insbesondere auch des Betriebsprüfungsberichts vom — sorgfältig mit der Abgrenzung der beiden Komplementärgrößen des laufenden und des Betriebsaufgabegewinns befassen. Spätestens hierbei musste dem FG der Irrtum der Klägerin ”ins Auge springen”.

bb) Mit Recht hat die Klägerin auch dargelegt, dass die angefochtene Vorentscheidung auf den gerügten Verfahrensmängeln beruht. Bei entsprechendem Hinweis hätte die Klägerin ihren Klageantrag in zutreffender —ihrem Klageziel entsprechender— Höhe beziffern können.

2. Unter den gegebenen Umständen konnte das angefochtene Urteil keinen Bestand haben. Die Sache geht daher gemäß § 116 Abs. 6 FGO an das FG zurück. Von einer weiteren Begründung wird abgesehen (§ 116 Abs. 5 Satz 2 FGO).

Fundstelle(n):
BFH/NV 2003 S. 1212
BFH/NV 2003 S. 1212 Nr. 9
IAAAA-69522