BGH Beschluss v. - 4 StR 597/17

Sexueller Missbrauch widerstandsunfähiger Personen: Feststellung der Widerstandsunfähigkeit nach altem Recht

Gesetze: § 179 Abs 1 StGB vom

Instanzenzug: LG Halle (Saale) Az: 14 KLs 11/16

Gründe

1Das Landgericht hat den Angeklagten T.    D.    wegen schweren sexuellen Missbrauchs eines Kindes in Tateinheit mit sexuellem Missbrauch eines Schutzbefohlenen in zwei Fällen sowie schweren sexuellen Missbrauchs einer widerstandsunfähigen Person in fünf Fällen zu einer Gesamtfreiheitsstrafe von vier Jahren und drei Monaten verurteilt. Die nicht revidierende Mitangeklagte M.   D.    hat es wegen sexuellen Missbrauchs einer widerstandsunfähigen Person und Beihilfe zum schweren sexuellen Missbrauch einer widerstandsunfähigen Person zu einer Gesamtfreiheitsstrafe von einem Jahr und neun Monaten verurteilt und deren Vollstreckung zur Bewährung ausgesetzt. Der Angeklagte T.    D.    wendet sich mit der allgemeinen Sachrüge gegen seine Verurteilung. Sein Rechtsmittel hat den aus der Beschlussformel ersichtlichen Erfolg und führt zu einer Erstreckung der Aufhebung auf die nicht revidierende Mitangeklagte M.   D.    (§ 357 Satz 1 StGB). Im Übrigen ist es unbegründet im Sinne des § 349 Abs. 2 StPO.

21. Die Verurteilung des Angeklagten T.    D.    wegen schweren sexuellen Missbrauchs einer widerstandsunfähigen Person in den Fällen III. 3 bis 7 der Urteilsgründe nach dem zur Tatzeit geltenden § 179 Abs. 1 Nr. 1, Abs. 5 Nr. 1 StGB in der bis zum geltenden Fassung hält revisionsrechtlicher Überprüfung nicht stand, weil die Urteilsgründe eine Widerstandsunfähigkeit des Nebenklägers nicht belegen.

3a) Nach den Feststellungen leidet der zu den Tatzeiten 18 Jahre alte Nebenkläger unter einer leichten geistigen Behinderung, die im Grenzbereich zu einer mittelgradigen geistigen Behinderung liegt. Aufgrund dessen verfügte er nur über die Intelligenz eines etwa neun bis zehn Jahre alten Kindes und eine dementsprechend entwickelte soziale Kompetenz.

4In der Zeit zwischen dem und dem forderte der Angeklagte den Nebenkläger mehrfach dazu auf, mit ihm den Analverkehr (Fälle III. 3, 4 und 7 der Urteilsgründe) oder den Oralverkehr (Fall III. 6 der Urteilsgründe) auszuüben. In einem Fall sollte er zusätzlich an der Scheide der Mitangeklagten M.   D.    (seiner Mutter) lecken (Fall III. 6 der Urteilsgründe). Der Nebenkläger kam diesem Ansinnen jeweils nach, weil er „aufgrund seiner psychischen Situation nicht in der Lage war, einen entgegenstehenden Willen zu bilden und deutlich zu machen bzw. durchzusetzen“. In den Fällen III. 3 und 4 der Urteilsgründe handelte er auch aus Angst vor körperlichen Züchtigungen. Im Fall III. 6 der Urteilsgründe brach die Mitangeklagte M.   D.    die sexuellen Handlungen mit dem Nebenkläger ab, nachdem dieser durch ein Kopfschütteln signalisiert hatte, dass er dies nicht wolle. In einem weiteren Fall (Fall III. 5 der Urteilsgründe) führte der Angeklagte - bestärkt von der zusehenden Mitangeklagten M.   D.    - einen Dildo in den Anus des Nebenklägers ein. Als er anschließend den Penis des Nebenklägers in den Mund nahm, versuchte dieser seinen Unwillen durch ein Kopfschütteln deutlich zu machen. Der Angeklagte erwiderte daraufhin, dass sich der Nebenkläger „nicht so haben soll“ und führte den Oralverkehr an ihm aus. Der Nebenkläger ließ dies geschehen, weil er „aufgrund seiner geistigen Behinderung nicht in der Lage war, die Situation ausreichend zu erfassen und einen entgegenstehenden Willen durchzusetzen“.

5Nach der Einschätzung des Sachverständigen Dr. Da.  , der sich die Strafkammer angeschlossen hat, könne bei dem Nebenkläger weder die Fähigkeit zur sexuellen Selbstbestimmung noch die Möglichkeit für eine „altersadäquate Widerständigkeit“ gegenüber den Handlungen des Angeklagten festgestellt werden. Ihm sei es aufgrund seiner Entwicklungsdefizite und der Beeinträchtigung seiner geistigen Fähigkeiten nicht möglich gewesen, die Absichten des Angeklagten umfassend zu reflektieren und die Folgen für seine sexuelle Selbstbestimmung abzuschätzen (UA 21).

6b) Diese Feststellungen rechtfertigen nicht den Schluss, dass der Nebenkläger in den konkreten Tatsituationen im Sinne von § 179 Abs. 1 StGB in der bis zum geltenden Fassung widerstandsunfähig war.

7aa) Nach dieser Vorschrift machte sich strafbar, wer eine Person, die aus den in der Norm näher genannten Umständen zum Widerstand unfähig war, dadurch missbrauchte, dass er unter Ausnutzung der Widerstandsunfähigkeit sexuelle Handlungen an ihr vornahm oder an sich von ihr vornehmen ließ. Als widerstandsunfähig galt, wer - wenn auch nur vorübergehend - gänzlich unfähig war, einen zur Abwehr ausreichenden Widerstandswillen gegen das an ihn herangetragene sexuelle Ansinnen zu bilden, zu äußern oder durchzusetzen. Die Feststellung der Widerstandsunfähigkeit erforderte eine normative Entscheidung, die der Tatrichter auf der Grundlage einer Gesamtbetrachtung zu treffen hatte, in welche auch das aktuelle Tatgeschehen und etwaige Beeinträchtigungen des Tatopfers durch die Tatsituation einzubeziehen waren (st. Rspr.; vgl. , NStZ-RR 2017, 240, 241; Beschluss vom - 3 StR 43/17, NStZ 2018, 33; Urteil vom - 2 StR 662/88, BGHSt 36, 145, 147 mwN). Eine Widerstandsunfähigkeit konnte danach nicht schon ohne nähere Begründung auf die Feststellung einer geistigen Behinderung und daraus resultierende allgemeine Kompetenzmängel gestützt werden (vgl. , NStZ-RR 2009, 14; Beschluss vom - 2 StR 456/04, NStZ-RR 2005, 172, 173; Beschluss vom - 4 StR 96/03, NStZ 2003, 602, 603).

8bb) Diesen Anforderungen werden die Urteilsgründe nicht gerecht. Aus der allgemein gehaltenen Feststellung, dass es dem Nebenkläger aufgrund seiner Entwicklungsdefizite und der Beeinträchtigung seiner geistigen Fähigkeiten nicht möglich gewesen sei, die Absichten des Angeklagten umfassend zu reflektieren und die Folgen für seine sexuelle Selbstbestimmung abzuschätzen, folgt nicht ohne weiteres, dass es ihm in den einzelnen Tatsituationen unmöglich war, einen zur Abwehr ausreichenden Widerstandswillen zu bilden, zu äußern oder durchzusetzen. Eine das konkrete jeweilige Tatgeschehen einbeziehende Gesamtbetrachtung hat das Landgericht in keinem der abgeurteilten Fälle erkennbar vorgenommen. Dabei hätte insbesondere näher erörtert werden müssen, dass es dem Nebenkläger im Fall III. 6 der Urteilsgründe möglich war, die Mitangeklagte M.   D.    durch ein bloßes Kopfschütteln zum Abbruch der sexuellen Handlungen zu bewegen und er auch im Fall III. 5 der Urteilsgründe seinen Unwillen zur Durchführung des Oralverkehrs zum Ausdruck brachte. Dafür, dass der Nebenkläger - jedenfalls in eingeschränktem Umfang - zu einer Reflektion seines Verhaltens und zu Folgeabschätzungen in der Lage war, spricht überdies, dass er in den Fällen III. 3 und 4 der Urteilsgründe die sexuellen Handlungen des Angeklagten an sich auch aus Angst vor körperlichen Züchtigungen duldete. Schließlich durfte die Strafkammer in den Fällen III. 3, 4, 6 und 7 der Urteilsgründe auch nicht ohne nähere Begründung offenlassen, ob dem Nebenkläger aufgrund seiner Defizite bereits die Fähigkeit fehlte, einen Widerstandswillen zu bilden oder ob es ihm lediglich unmöglich war, einen solchen Willen in den konkreten Tatsituationen zu äußern oder durchzusetzen.

9c) Die Sache bedarf daher insoweit neuer Verhandlung und Entscheidung. Die Aufhebung ist in den Fällen III. 5 und 6 der Urteilsgründe nach § 357 Satz 1 StPO auf die nicht revidierende Mitangeklagte M.   D.    zu erstrecken, weil in beiden Fällen ein innerer Zusammenhang zwischen ihrer Verurteilung und derjenigen des Angeklagten T.    D.    besteht.

10Sollte der neue Tatrichter wiederum zu der Überzeugung gelangen, dass sich die Angeklagten nach § 179 Abs. 1, Abs. 5 Nr. 1 StGB in der bis zum geltenden Fassung gegebenenfalls in Verbindung mit § 27 StGB strafbar gemacht haben, wird bei der Prüfung der Frage, ob der mit Wirkung zum neu gefasste § 177 StGB, der insbesondere in den Abs. 1, 2 Nrn. 1 und 2 sowie Abs. 4 Nachfolgeregelungen zu § 179 StGB enthält, das nach § 2 Abs. 3 StGB mildere Gesetz darstellt, von ihm zu beachten sein, dass es insoweit auf eine konkrete Betrachtungsweise ankommt (vgl. dazu ; Beschluss vom - 4 StR 366/16, NStZ-RR 240, 241 f.; Beschluss vom - 3 StR 43/17, NStZ 2018, 33; Beschluss vom - 3 StR 524/16, NStZ-RR 2017, 242).

112. In den Fällen III. 1 und 2 der Urteilsgründe hält jeweils der Ausspruch über die Einzelstrafe revisionsrechtlicher Überprüfung nicht stand, weil die Strafkammer dem Angeklagten die Störung des Sexualverhaltens des Nebenklägers als Folge dieser Taten angelastet hat, obwohl die Feststellungen dafür keinen ausreichenden Beleg bieten.

12a) Als verschuldete Auswirkungen der Tat im Sinne von § 46 Abs. 2 StGB können nur Geschehnisse und Umstände angesehen werden, bei denen feststeht, dass sie durch die Tat verursacht worden sind. Kann das Gericht hierzu keine sicheren Feststellungen treffen, darf sich das nicht zu Lasten des Angeklagten auswirken (vgl. , NStZ-RR 2004, 41, 42; Beschluss vom - 4 StR 601/96, NStZ 1997, 336, 337). Den Urteilsgründen ist nicht zu entnehmen, dass die therapiebedürftige Unfähigkeit des Nebenklägers, seine eigene Sexualität zu regulieren und Schamgrenzen anderer zu erkennen, sicher auch auf die unter III. 1 und 2 der Urteilsgründe festgestellten Taten zurückzuführen ist. In den Feststellungen wird dazu - soweit nachvollziehbar - nur ein Zusammenhang zu der von beiden Angeklagten vorgelebten „offenen Sexualität“ hergestellt (UA 14 f.).

13b) Dies und die Aufhebung in den Fällen III. 3 bis 7 der Urteilsgründe zieht bei dem Angeklagten die Aufhebung der Gesamtstrafe nach sich.

ECLI Nummer:
ECLI:DE:BGH:2018:160118B4STR597.17.0

Fundstelle(n):
NAAAG-81518