BFH Beschluss v. - IX B 151/01

Gründe

I. Der Kläger und Beschwerdeführer (Kläger) wurde in den Kalenderjahren 1995 und 1996 (Streitjahre) mit seiner Ehefrau zur Einkommensteuer zusammen veranlagt. Im Rahmen der Einkommensteuererklärung für die Streitjahre machte die Ehefrau des Klägers einen Werbungskostenüberschuss aus der Vermietung einer Zweizimmerwohnung an ihre Eltern geltend; ferner begehrten die Kläger den Ansatz eines Werbungskostenüberschusses aus der Vermietung des ausgebauten Dachgeschosses sowie eines Zimmers im Obergeschoss des von ihnen bewohnten Hauses an den Vater der Klägerin.

Im Einkommensteuerbescheid für das Streitjahr 1995 vom wich der Beklagte und Beschwerdegegner (das Finanzamt —FA—) zwar teilweise von der Einkommensteuererklärung ab, erkannte die Mietverhältnisse jedoch dem Grunde nach an. Im Einspruchsverfahren half das FA dem Einspruchsbegehren des Klägers teilweise ab; im Teilabhilfebescheid vom wurden die Mietverhältnisse weiter anerkannt. Im Einkommensteuerbescheid für das Streitjahr 1996 vom wich das FA erneut von der Einkommensteuererklärung zum Nachteil des Klägers ab, ohne jedoch die Anerkennung der Mietverhältnisse in Frage zu stellen. Der Kläger legte auch bezüglich dieses Bescheides Einspruch ein.

In dem sodann fortgesetzten, beide Streitjahre umfassenden Einspruchsverfahren vertrat das FA die Ansicht, die Mietverhältnisse seien in beiden Streitjahren wegen der Vereinbarung einer ”Gleitklausel” nicht anzuerkennen. Das FA erachtete auch eine Verböserung für 1995 für zulässig, da die gesetzlichen Voraussetzungen des § 173 Abs. 1 Nr. 1 der Abgabenordnung (AO 1977) erfüllt seien; es stellte dem Kläger anheim, seine Einsprüche betreffend die Streitjahre zurückzunehmen. In seiner Einspruchsentscheidung vom erkannte das FA die Mietverhältnisse nicht mehr an.

Hiergegen wendet sich der Kläger mit seiner Klage, die er u.a. damit begründet, er habe die Einsprüche rechtzeitig zurückgenommen. Ein diesbezügliches Schreiben, datierend vom , habe er persönlich in den Hausbriefkasten des FA geworfen. Eine Verböserung sei daher nicht zulässig gewesen.

Das Finanzgericht (FG) wies die Klage ab. Das Schreiben des Klägers vom sei bei dem FA nicht eingegangen. Üblicherweise gingen Schriftstücke im FA nicht verloren und zwar selbst dann nicht, wenn, wie im Streitfall, der Steuerpflichtige auf dem Schreiben eine unzutreffende Steuernummer angegeben hätte. Eine Verböserung sei daher möglich gewesen. Zutreffend sei das FA auch davon ausgegangen, dass die beanstandeten Mietverhältnisse einem Fremdvergleich nicht standhielten.

Mit der Beschwerde wegen Nichtzulassung der Revision rügt der Kläger die Verletzung formellen Rechts. Das FG habe es versäumt, den Sachverhalt hinreichend aufzuklären. Ferner hätte der anwaltschaftlich nicht vertretene Kläger darauf hingewiesen werden müssen, dass das FG den Zugang des Schreibens vom nicht als erwiesen ansehe.

Der Kläger beantragt, die Revision zuzulassen.

Das FA beantragt, die Beschwerde zurückzuweisen.

II. Die Beschwerde ist begründet; sie führt zur Aufhebung der Vorentscheidung und zur Zurückverweisung des Rechtsstreits zur erneuten Verhandlung und Entscheidung an das FG (§ 116 Abs. 6 der FinanzgerichtsordnungFGO—).

1. Die Revision gegen das angefochtene Urteil war nach § 115 Abs. 2 Nr. 3 FGO zuzulassen. Das FG hat die Frage des Zugangs des klägerischen Schreibens vom nicht geklärt und damit seine Aufklärungspflicht gemäß § 76 Abs. 1 FGO verletzt.

Eine Erklärung über die Rücknahme eines Einspruchs nach § 362 AO 1977 wird wirksam, wenn sie der zuständigen Finanzbehörde zugeht. Hierfür gelten die bürgerlich-rechtlichen Regelungen über den Zugang empfangsbedürftiger Willenserklärungen entsprechend. Danach ist eine empfangsbedürftige Willenserklärung in dem Zeitpunkt zugegangen, in dem die zuständige Finanzbehörde zu den behördenüblichen Zeiten die Möglichkeit der Kenntnisnahme vom Inhalt des Schriftstücks erhalten konnte (Birkenfeld in Hübschmann/Hepp/Spitaler, Abgabenordnung-Finanzgerichtsordnung, 10. Aufl., § 362 AO 1977 Rz. 15, m.w.N.).

Der Kläger hat vorgetragen, dass er das Schreiben vom eigenhändig in den Hausbriefkasten des FA geworfen hat, zu welchem Zeitpunkt dies geschehen sein soll und aus welchen Gründen er sich an diesen Zeitpunkt erinnern konnte. Zwar hat das FA eingewendet, eine Erklärung des Klägers über die Rücknahme seines Einspruchs liege ”weder der Rechtsbehelfsstelle, noch der zuständigen Veranlagungsstelle vor”. Der Kläger hat der Richtigkeit des finanzamtlichen Vortrags indes widersprochen. Angesichts dieser Einwände hätte das FG sich nicht auf die Feststellung beschränken dürfen, das Rücknahmeschreiben sei bei dem FA nicht eingegangen. Vielmehr hätte das FG nur dann auf die weitere Aufklärung des Sachverhalts verzichten können, wenn es im Einzelnen dargelegt hätte, aufgrund welcher Umstände es dem Bekunden des Klägers keinen Glauben geschenkt hat. Dies gilt umso mehr, als das FA selbst in seiner Stellungnahme vom lediglich ausführt, das Schreiben sei als Irrläufer offensichtlich nicht bei der zuständigen Stelle angekommen; diese Einlassung schließt es nicht aus, dass das Schreiben des Klägers nach den Regelungen über den Zugang empfangsbedürftiger Willenserklärungen als zugegangen angesehen werden muss.

2. Auch soweit der Kläger geltend macht, das FG hätte in der mündlichen Verhandlung im Rahmen der prozessualen Fürsorgepflicht (§ 76 Abs. 2 FGO) auf die Möglichkeit einer Beweiserhebung zur Frage des Zugangs des Rücknahmeschreibens hinweisen müssen, ist die Beschwerde begründet. Der Umfang der Hinweispflicht des Gerichts ist grundsätzlich davon abhängig, welche Rechtskenntnisse auf Seiten eines Beteiligten vorauszusetzen oder zu erwarten sind (, BFHE 195, 93, BStBl II 2001, 736). Die richterliche Hinweispflicht i.S. des § 76 Abs. 2 FGO sowie das Recht auf Gehör (Art. 103 Abs. 1 des Grundgesetzes) verlangen zwar nicht, dass das Gericht die maßgeblichen Rechtsfragen mit den Beteiligten umfassend erörtert. Auch ist das Gericht grundsätzlich nicht zu einem Hinweis auf seine Rechtsauffassung verpflichtet. Eine Überraschungsentscheidung und damit ein Verstoß gegen das Recht auf Gehör liegt gleichwohl vor, wenn das Gericht seine Entscheidung auf einen bis dahin nicht erörterten rechtlichen oder tatsächlichen Gesichtspunkt gestützt und damit dem Rechtsstreit eine Wendung gegeben hat, mit der ein nicht vertretener Prozessbeteiligter nach dem bisherigen Prozessverlauf nicht rechnen musste (vgl. , BVerfGE 84, 188). Der Senat sieht in dem angefochtenen Urteil eine derartige Überraschungsentscheidung. Der Kläger musste nicht damit rechnen, dass das FG keinerlei Hinweis darauf geben würde, dass sein Vorbringen betreffend den Zugang des Rücknahmeschreibens nicht genüge.

3. Der Senat hält es im Streitfall aus Gründen der Prozessökonomie für geboten, von dem Verfahren nach § 116 Abs. 6 FGO Gebrauch zu machen, wonach bei Vorliegen eines Verfahrensmangels, auf dem die Entscheidung beruhen kann (§ 115 Abs. 2 Nr. 3 FGO), der BFH in dem Beschluss über die Nichtzulassungsbeschwerde das angefochtene Urteil aufheben und den Rechtsstreit zur anderweitigen Verhandlung und Entscheidung an das FG zurückverweisen kann.

Fundstelle(n):
BFH/NV 2002 S. 900 Nr. 7
DAAAA-68945