NWB Nr. 1 vom Seite 1

Quo vadis, Mehrwertsteuer?

Ralf Sikorski | Dipl.-Finanzwirt, Dorsten

Die Umsatzsteuer ist in die Jahre gekommen

1918 wurde die Umsatzsteuer in Deutschland eingeführt, sie feiert also in diesem Jahr ihren 100. Geburtstag. Und 1968 folgte die Einführung des Allphasen-Netto-Mehrwertsteuersystems nach europäischem Vorbild, also haben wir auch einen 50. Geburtstag zu feiern. Während des Ersten Weltkriegs wurde zur Finanzierung der Militärausgaben 1916 eine reichseinheitliche Warenumsatz-Stempelsteuer eingeführt, die 1918 zur Umsatzsteuer ausgebaut wurde. Anfangs auf jeder Wirtschaftsstufe vom Bruttopreis erhoben, konterkarierte die dadurch entstandene Kumulation den niedrigen Steuersatz von zunächst einem halben Prozent. Die Wurzeln des kompletten, uns heute bekannten Steuersystems liegen aber schon in dieser Zeit, also zu Beginn des zwanzigsten Jahrhunderts.

Die Umsatzsteuer ist heute die größte fiskalische Einnahmequelle Deutschlands. Von ihr wird der gesamte private und öffentliche Verbrauch von Gütern und Dienstleistungen erfasst. Sie ist zurzeit die einzige Steuer, die maßgeblich von der Gesetzgebung der Europäischen Union abhängt. Sie ist allerdings in die Jahre gekommen. Zwar sind die Vorstellungen, die einige europäische Politiker bereits kurz nach dem Ende des Zweiten Weltkriegs hatten, zum Teil Wirklichkeit geworden und keine Visionen mehr. Aber die aktuellen Herausforderungen sind gewaltig, ob Finanzkrisen, Flüchtlingsproblematik oder der unerwartete Ausstieg eines Mitglieds dieser Gemeinschaft, denn auch wenn es sich nur um eine Wirtschafts- und teilweise Währungsunion und damit nur um einen losen Verbund einzelner souveräner Staaten handelt, lassen sich die politischen Probleme schlicht nicht ausblenden. Während die einen in diesem Krisen-Potpourri den Beginn des Untergangs Europas sehen, behaupten die anderen, die Zeit sei reif für die Grundsteinlegung einer europäischen Republik, zunächst mit der Umsatzsteuer als eigene Einnahmequelle. Aber beides ist weit von der Wirklichkeit entfernt. Aktuell gilt es, die Bestände Europas zu sichern und wieder zu ordnen. Denn im 21. Jahrhundert steht die Finanzierung all dieser Aufgaben im Mittelpunkt unserer Lebenswirklichkeit.

Ein nicht zu unterschätzendes Problem ist dabei die Regelungswut der Europäer. Mit ihrem mittlerweile vorgelegten „Aktionsplan zur Mehrwertsteuer“ stellt die EU-Kommission selbst klar, dass „das System der Mehrwertsteuer insbesondere kleinen und mittleren Unternehmen zu schaffen macht“, weil es „zu fragmentiert und zu kompliziert ist“. Aber schon die ersten vorgelegten Entwürfe zeigen, dass der Name Programm ist. Der Glaube, das Bestimmungslandprinzip, wonach der leistende Unternehmer die Umsatzsteuer des Landes seines Leistungsempfängers in Rechnung zu stellen hat, sei die Lösung zur Beseitigung eines überregulierten Bürokratiemonsters, zeugt von fehlendem Praxisbewusstsein. Wer sich je im Inland mit der Frage des Steuersatzes bei der Besteuerung von Adventskränzen auseinandergesetzt hat, freut sich schon auf die entsprechenden Rechtsfragen im europäischen Ausland. Die Erstellung einer Umsatzsteuererklärung für das Ausland – die letzte Herausforderung einer zivilisierten Menschheit?

Ralf Sikorski

Fundstelle(n):
NWB 2018 Seite 1
NWB IAAAG-68772