Instanzenzug: (Verfahrensverlauf),
Gründe
I. Die Klägerin und Revisionsbeklagte (Klägerin) betreibt als GmbH ein Fachgeschäft für Hörgeräteakustik. Sie war Mitglied der Bundesinnung der Hörgeräteakustiker, die mit den Bundesverbänden der Orts-, Betriebs-, Innungs- und landwirtschaftlichen Krankenkassen Rahmenverträge über die Lieferung von Hörhilfen an Anspruchsberechtigte dieser Krankenkassen abgeschlossen hatte. Gegenstand der Verträge waren die Auswahl, Anpassung und Lieferung von Hörhilfen einschließlich der Nachbetreuung, die Erbringung von Reparaturen und sonstige Leistungen.
Die vorliegend streitige Nachbetreuung umfasste im Wesentlichen übereinstimmend nach den für die Streitjahre 1994 und 1995 geltenden Bestimmungen aller Rahmenverträge die Einweisung in den Gebrauch der Hörhilfe einschließlich des Zubehörs bis zur sicheren Bedienung und die damit gegebenenfalls verbundene Feinanpassung, die nach einer durchgeführten Reparatur erforderlichenfalls erneut vorzunehmen war, und die anschließende Beratung des Schwerhörigen bis zu fünf Jahren. Diese Beratung beinhaltete die Analyse der Veränderungen des Gehörs durch regelmäßige Funktionsprüfungen, Anpassung des Gerätes bei Änderung der Hörgewohnheiten und Hörbedürfnisse, Anpassung bei Änderung des akustischen Umfeldes des Hörgeschädigten, Fehlerdiagnose und Neueinstellung bei Fehlbedienungen. Die Nachbetreuung war nicht gesondert zu vergüten. Unabhängig davon übernahm die Klägerin die Gewährleistung für Material- und Herstellungsfehler für ein Jahr.
Die Klägerin gab in den Streitjahren jeweils Geräte ab. Für die damit verbundenen Nachbetreuungsleistungen bildete sie Rückstellungen, die der Beklagte und Revisionskläger (das Finanzamt —FA—) unter Hinweis auf das (BFHE 170, 149, BStBl II 1994, 158) nicht anerkannte.
Die Klage hatte Erfolg. Auf die in Entscheidungen der Finanzgerichte (EFG) 2001, 206 abgedruckten Entscheidungsgründe wird verwiesen.
Mit seiner Revision rügt das FA Verletzung von § 5 Abs. 1 Satz 1 des Einkommensteuergesetzes (EStG) i.V.m. § 249 Abs. 1 Satz 1 des Handelsgesetzbuchs (HGB). Es beantragt die Aufhebung der Vorentscheidung und die Abweisung der Klage.
Die Klägerin beantragt, die Revision zurückzuweisen.
II. Die Revision ist unbegründet; sie war daher zurückzuweisen (§ 126 Abs. 2 der Finanzgerichtsordnung —FGO—). Das Finanzgericht (FG) hat zu Recht entschieden, dass die Klägerin in ihren Bilanzen der Streitjahre für ihre Verpflichtung zur Nachbetreuung Rückstellungen zu bilden hat.
1. Gemäß § 8 Abs. 1 des Körperschaftsteuergesetzes (KStG) i.V.m. § 5 Abs. 1 Satz 1 EStG hat die Klägerin in ihren Bilanzen das Betriebsvermögen anzusetzen, das nach den handelsrechtlichen Grundsätzen ordnungsmäßiger Buchführung auszuweisen ist. Diese ergeben sich u.a. aus § 249 Abs. 1 Satz 1 HGB. Danach sind u.a. Rückstellungen für ungewisse Verbindlichkeiten zu bilden.
Voraussetzung für die Bildung einer Rückstellung für ungewisse Verbindlichkeiten ist nach ständiger Rechtsprechung des BFH entweder das Bestehen einer dem Betrag nach ungewissen Verbindlichkeit oder die hinreichende Wahrscheinlichkeit des künftigen Entstehens einer Verbindlichkeit dem Grunde nach —deren Höhe zudem ungewiss sein kann— und ihre wirtschaftliche Verursachung in der Zeit vor dem Bilanzstichtag (vgl. etwa , BFHE 196, 216). Diese Voraussetzungen sind im Einzelfall auf der Grundlage objektiver, am Bilanzstichtag vorliegender Tatsachen aus der Sicht eines sorgfältigen und gewissenhaften Kaufmanns zu beurteilen (, BFH/NV 2002, 845). Dieser muss darüber hinaus in beiden Fällen ernsthaft mit seiner Inanspruchnahme rechnen (vgl. , BFHE 172, 456, BStBl II 1993, 891, m.w.N.). Im Streitfall ist der erste Tatbestand gegeben; zu den maßgebenden Bilanzstichtagen bestanden (dem Betrage nach ungewisse) Verbindlichkeiten der Klägerin.
2. a) Verbindlichkeiten entsprechen dem Anspruch eines Gläubigers auf ein bestimmtes Handeln (§ 194 des Bürgerlichen Gesetzbuchs —BGB—). Sie verkörpern damit eine dem Inhalt und der Höhe nach bestimmte Leistungspflicht, die erzwingbar ist und zudem eine wirtschaftliche Belastung darstellt (, BFHE 187, 418, BStBl II 2000, 139; vom IV R 31/99, BFH/NV 2000, 1161). Durch die Auslieferung der Hörgeräte wurden Verbindlichkeiten der Klägerin zur Nachbetreuung der Geräte und der Benutzer begründet.
Aus den mit den Krankenkassen abgeschlossenen Verträgen ergibt sich die Verpflichtung der Klägerin zur Vornahme turnusmäßiger Prüfungen der ausgelieferten Hörgeräte zu festgelegten Zeitpunkten und zur Erbringung bestimmter Beratungs-, Anpassungs- und Nachbesserungsleistungen im Bedarfsfalle. Diese Verpflichtung besteht jedenfalls gegenüber den Krankenkassen und konkretisiert sich als Bestandteil des jeweiligen Veräußerungsgeschäfts über eine Hörhilfe. Daneben ist nicht entscheidend, inwieweit die Rahmenverträge auch dem jeweiligen Hörgeschädigten einen unmittelbaren Leistungsanspruch verschaffen. Dass die geschuldeten Leistungen für die Klägerin eine wirtschaftliche Belastung darstellen, liegt auf der Hand. Das vom FG zugrunde gelegte durchschnittliche Kostenvolumen von etwa 500 DM für Anpassung und Nachbetreuung pro ausgeliefertem Gerät ist vom FA nicht bestritten worden. Das Kostenvolumen ist im jeweiligen Einzelfall, wie die Klägerin einräumt, zwar unterschiedlich (”aleatorisch”) bemessen, diese Besonderheit berührt aber nicht die Verbindlichkeit dem Grunde nach, vielmehr betrifft sie deren Bewertung.
b) Die Verpflichtung zur Nachbetreuung entsteht entgegen der Ansicht des FA nicht erst mit dem Eintritt der Erforderlichkeit der jeweiligen Nachbetreuungsleistungen. Diese betrifft lediglich die bilanzsteuerlich nicht relevante Fälligkeit der jeweiligen (Teil-)Verpflichtung. Insoweit ist der Streitfall mit dem im BFH-Urteil in BFHE 170, 149, BStBl II 1994, 158 entschiedenen Fall nicht vergleichbar. Dort war nach den tatsächlichen Feststellungen des FG die Verpflichtung, Nachbetreuungsleistungen zu erbringen, aufgrund des Rahmenvertrages vom davon abhängig, dass solche Maßnahmen (beispielhaft ”das Reinigen der Otoplastiken, das Erneuern von Schläuchen, die halbjährliche Überprüfung des Geräts und die Überprüfung der Batterien soweit erforderlich”) nach den tatsächlichen Gegebenheiten (Verschleiß oder Verschmutzung, Behandlungsfehler des Kunden, Erschöpfung der Batterien) erforderlich wurden. Im Streitfall betrifft die Nachbetreuungspflicht, wie der oben unter I. dargestellte Katalog der zu erbringenden Leistungen erweist, hingegen umfassend die nach allgemeiner oder betrieblicher Erfahrung mit hinreichender Wahrscheinlichkeit und Regelmäßigkeit erforderlich werdenden Maßnahmen zur Gewährleistung der weiteren Funktionsfähigkeit der ausgelieferten Geräte nicht nur in technischer, sondern auch in medizinischer Hinsicht. Sie sind unabhängig von unsachgemäßer Behandlung oder Verschulden der Benutzer der Geräte vorgesehen und durchzuführen. ”Normale” Reparaturen sind nach den Rahmenverträgen nicht Gegenstand der Nachbetreuung. Weiterhin beinhaltet die vorliegend zu beurteilende Leistungspflicht —anders als in dem mit Urteil in BFHE 170, 149, BStBl II 1994, 158 entschiedenen Fall— wesentliche Elemente einer Dienstleistung, die über die Pflege der Hörhilfen als materiellem Gegenstand hinaus die einschlägige persönliche Betreuung der Hörgeschädigten in biologisch-pathologischer Hinsicht umfasst (vgl. für insoweit vergleichbare zahnprothetische Behandlungen das , BGHZ 63, 306).
Die Nachsorgeverpflichtung ”konkretisiert” sich auch nicht ratierlich mit zunehmendem Zeitablauf. Zwar ist die Nachbetreuung für einen bestimmten Zeitraum zu erbringen. Die Laufzeit bestimmt jedoch nicht lediglich den zeitlichen Rahmen für eine wiederkehrende inhaltlich unveränderte Leistungsverpflichtung (vgl. , BFHE 186, 429, BStBl II 1999, 21; vom X R 49/89, BFHE 168, 182, BStBl II 1992, 904); die Dauerhaftigkeit haftet vielmehr der Leistungspflicht selbst an.
Die Verpflichtung zur Nachbetreuung ergibt sich daher in vollem Umfange bereits aus dem jeweiligen Veräußerungsgeschäft (vgl. dazu , BFH/NV 1999, 1205) in Verbindung mit dem jeweils zugrunde liegenden Rahmenvertrag.
3. Da die streitige Verpflichtung der Klägerin am maßgeblichen Bilanzstichtag dem Grunde nach bestand, ist für ihre Passivierung in Form einer Rückstellung für ungewisse Verbindlichkeiten entgegen der Auffassung des FA nicht erheblich, ob sie wirtschaftlich vor diesem Bilanzstichtag verursacht war. Denn die wirtschaftliche Verursachung einer Verbindlichkeit im abgelaufenen Wirtschaftsjahr ist ein Merkmal, das nach der Rechtsprechung des BFH zwar bei der Passivierung künftig entstehender Verbindlichkeiten, nicht hingegen bei der Passivierung dem Grunde nach bereits bestehender —lediglich dem Betrage nach ungewisser— Verpflichtungen zu gelten hat (BFH-Urteil in BFHE 196, 216, m.w.N.). In diesen Fällen ist für die Passivierung der frühere Zeitpunkt der rechtlichen Entstehung maßgeblich. Der Rückstellungsbildung stünde daher nicht entgegen, wenn —wie das FA ausführt —auch die wesentlichen Merkmale der wirtschaftlichen Verursachung der Leistungsverpflichtung nicht bereits in der Veräußerung der Hörhilfen (so aber das Niedersächsische , Betriebs-Berater —BB— 1994, 971), sondern erst im Eintritt des jeweiligen konkreten Leistungserfordernisses zu erblicken wären.
4. Aus den vorgenannten Gründen wird die Rückstellbarkeit der Nachbetreuungsverpflichtung auch in der Literatur überwiegend bejaht (vgl. vor allem Lambrecht in Kirchhof/Söhn/Mellinghoff, Einkommensteuergesetz, § 5 Rdnr. D 400 ”Nachsorgeverpflichtung"; Blümich/Schreiber, Einkommensteuergesetz, Körperschaftsteuergesetz, Gewerbesteuergesetz, § 5 EStG Rz. 920 ”Kundenbetreuung/Kundendienst"; Clemm/Nonnenmacher in Beck'scher Bilanzkommentar, 4. Aufl., § 249 HGB Anm. 100 ”Nachbetreuungsleistungen"; Adler/Düring/Schmaltz, Rechnungslegung und Prüfung der Unternehmen, 6. Aufl., § 249 HGB Tz. 133 ”Nachbetreuungsleistungen"; a.A. Weber-Grellet in Schmidt, Einkommensteuergesetz, 21. Aufl., § 5 Rz. 550 ”Optiker"; vgl. auch die , BStBl I 1994, 140; vom IV C 2 -S 2137- 24/98).
5. Wegen der dargestellten Verschiedenheit der zugrunde liegenden Sachverhalte (oben II. 2. b) weicht der Senat mit seiner Entscheidung nicht i.S. des § 11 Abs. 2 der FGO in einer Rechtsfrage vom bezeichneten Urteil des XI. Senats in BFHE 170, 149, BStBl II 1994, 158 ab. Insbesondere ergibt sich keine Abweichung hinsichtlich der vom erkennenden Senat bejahten Frage der Passivierungspflicht für eine dem Grunde nach bestehende Verbindlichkeit unabhängig von ihrer wirtschaftlichen Verursachung. Diese Frage wird auch in der Entscheidung des XI. Senats (unter III. 1 c der Entscheidungsgründe) grundsätzlich bejaht; allerdings ging der XI. Senat in dem zu entscheidenden Fall aufgrund der tatsächlichen Feststellungen des FG und dessen Würdigung der zugrunde liegenden Verträge davon aus, dass das Entstehen der Leistungspflicht vom Eintritt bestimmter tatsächlicher Gegebenheiten (Verschleiß oder Verschmutzung, Behandlungsfehler des Kunden, Erschöpfung der Batterien) abhängig und daher erst mit Eintritt dieser Gegebenheiten zu bejahen war. Die Nachbetreuung ziele als typische Kundendienstleistung darauf ab, die Funktionstüchtigkeit der Produkte zu erhalten. Insofern beziehe sie sich lediglich auf die Hörhilfe als materiellem Gegenstand, nicht auch auf die medizinisch-psychologische Betreuung der Patienten. (vgl. unter III. 1 c a.E. der Entscheidungsgründe).
Da sich die im Streitfall zu beurteilende Verpflichtung der Klägerin zur Nachbetreuung als Teil ihrer Leistungsverpflichtung aus dem Veräußerungsgeschäft selbst ergibt, ist der Streitfall auch nicht mit den vom BFH entschiedenen Fällen vergleichbar, in denen über Rückstellungen für die Erledigung zukünftig erforderlich werdender Reinigungs- und Instandhaltungsarbeiten im Zusammenhang mit dem Betreiben eines Unternehmens (vgl. , BFH/NV 1987, 123; vom IV R 28/91, BFHE 167, 334, BStBl II 1992, 600) oder der Vermietung eines Mietwohngrundstücks (vgl. , BFHE 101, 513, BStBl II 1971, 391; vom I R 80/74, BFHE 119, 261, BStBl II 1976, 622) zu befinden war (vgl. dazu auch , BFH/NV 2000, 711).
Hingegen ist die Verpflichtung zur Erbringung von Nachbetreuungsleistungen insoweit mit der Verpflichtung zur Erbringung künftiger Garantieleistungen vergleichbar, die sich ebenfalls aus dem Veräußerungsgeschäft ergibt und über deren Passivierung dem Grunde nach (auch in Form einer Pauschalrückstellung) kein Streit besteht (vgl. etwa , BFHE 189, 45, BStBl II 2001, 612).
6. Die Bewertung der Rückstellung auf der Grundlage einer Schätzung des für die Nachbetreuung nach den Verhältnissen des Bilanzstichtages zu erwartenden Personal- und Sachaufwandes (vgl. Urteil des Niedersächsischen FG in BB 1994, 971) ist zwischen den Beteiligten nicht streitig.
Auf diese Entscheidung wird Bezug genommen in folgenden Gerichtsentscheidungen:
Fundstelle(n):
BFH/NV 2002 S. 1434 Nr. 11
DStRE 2002 S. 1180 Nr. 19
KÖSDI 2002 S. 13487 Nr. 11
VAAAA-68109