BFH Beschluss v. - XI B 100/99

Gründe

I. Der Kläger und Beschwerdeführer (Kläger) ist als Rechtsanwalt in Kanada tätig. Zustellungsbevollmächtigt ist sein in Deutschland lebender Sohn. Das Finanzgericht (FG) stellte dem Kläger mit Verfügung vom einen Schriftsatz des Beklagten und Beschwerdegegners (Finanzamt —FA—) vom zur Kenntnisnahme zu; eine Äußerung wurde dem Kläger ohne Angabe einer Frist anheim gestellt.

Das FA hatte sich in dem Schriftsatz u.a. auf das (BFH/NV 1998, 942) bezogen. Mit Schreiben vom bat der Kläger, ihm eine Abschrift des angeführten BFH-Urteils zuzusenden, da es ihm nicht vorläge. Dem entsprach das FG mit Schreiben vom .

Der Kläger kündigte daraufhin mit Schreiben vom eine abschließende Stellungnahme bis zum Ende des Monats Juni 1999 an. Diese ging am beim FG ein.

Das FG hatte die Klage mit Einverständnis der Beteiligten ohne mündliche Verhandlung bereits mit Urteil vom abgewiesen. Das Urteil wurde am 1. Juli ausgefertigt und dem Kläger am zugestellt.

Mit seiner Nichtzulassungsbeschwerde macht der Kläger geltend, das Urteil verletze ihn in seinem Anspruch auf rechtliches Gehör gemäß Art. 103 Abs. 1 des Grundgesetzes (GG). Dies stelle einen Verfahrensmangel dar. Außerdem weiche das FG vom Urteil des BFH in BFH/NV 1998, 942 ab. Das FG stelle die Nichtbeachtung der Anweisung der Oberfinanzdirektion (OFD) vom einem mechanischen Fehler gleich. Nach dem BFH-Urteil müsse es sich bei einer offenbaren Unrichtigkeit aber um eine Unrichtigkeit handeln, die ohne weitere Prüfung erkannt und berichtigt werden kann.

II. Die Beschwerde des Klägers ist zulässig und begründet.

1. Nach Art. 4 des Zweiten Gesetzes zur Änderung der Finanzgerichtsordnung und anderer Gesetze (2.FGOÄndG) vom (BGBl I 2000, 1757) richtet sich die Zulässigkeit des Rechtsbehelfs nach den bis zum geltenden Vorschriften.

a) Die Nichtzulassungsbeschwerde ist unzulässig, soweit der Kläger die Zulassung der Revision wegen Abweichung der Vorentscheidung von der Entscheidung des BFH in BFH/NV 1998, 942 begehrt (§ 115 Abs. 2 Nr. 2 der FinanzgerichtsordnungFGO— a.F.). Er hat nicht abstrakte Rechtssätze aus dem Urteil des BFH und abstrakte entscheidungserhebliche Rechtssätze aus dem FG-Urteil entsprechend den gesetzlichen Anforderungen (§ 115 Abs. 3 Satz 3 FGO a.F.) so genau bezeichnet, dass eine Abweichung erkennbar wird (BFH-Beschlüsse vom VIII B 49/90, BFHE 167, 488, BStBl II 1992, 671, und vom VIII B 134/95, BFH/NV 1996, 691).

b) Die Nichtzulassungsbeschwerde ist jedoch zulässig soweit der Kläger Verfahrensfehler geltend macht (§ 115 Abs. 2 Nr. 3 FGO a.F.). Der Kläger hat in der dafür gesetzlich vorgeschriebenen Form (§ 115 Abs. 3 Satz 3 FGO a.F.) und innerhalb der dafür bestimmten Frist von einem Monat nach Zustellung des Urteils (§ 115 Abs. 3 Satz 1 FGO a.F.) Verfahrensfehler dargelegt, auf denen das Urteil des FG beruhen kann.

Der Kläger war befugt, sich bei Einlegung der Nichtzulassungsbeschwerde vor dem BFH selbst zu vertreten (Art. 1 Nr. 1 des Gesetzes zur Entlastung des Bundesfinanzhofs —BFHEntlG—, ab § 62a FGO). Dass er durch Schreiben des Präsidenten des von der Pflicht, eine Kanzlei zu unterhalten, nach § 29a Abs. 2 der Bundesrechtsanwaltsordnung (BRAO) befreit worden ist, steht dem nicht entgegen; er hat gleichwohl im Inland jederzeit das Recht zur Beratung und Vertretung in allen Rechtsangelegenheiten (vgl. Feuerich, Braun, Bundesrechtsanwaltsordnung, München, 1999, 4. Aufl., § 29a Anm. 10).

2. Die Beschwerde ist auch begründet. Die Voraussetzungen des § 115 Abs. 2 Nr. 3 FGO a.F. liegen vor. Das FG hat den Anspruch des Klägers auf rechtliches Gehör verletzt, weil es bei seiner Entscheidung den Schriftsatz des Klägers vom zu Unrecht nicht berücksichtigt hat.

Art. 103 Abs. 1 GG gibt den Beteiligten grundsätzlich das Recht, sich zu dem einer gerichtlichen Entscheidung zugrunde liegenden Sachverhalt zu äußern. Diesem Recht entspricht die Pflicht des Gerichts, die Ausführungen der Beteiligten nicht nur zur Kenntnis zu nehmen, sondern bei seiner Entscheidung auch in Erwägung zu ziehen (vgl. Gräber/Koch, Finanzgerichtsordnung, 4. Aufl., § 93 Anm. 1, m.w.N.; Stöcker in Beermann, Steuerliches Verfahrensrecht, § 90 FGO Rz. 42, m.w.N.). Haben die Beteiligten auf die Durchführung einer mündlichen Verhandlung nach § 90 Abs. 2 FGO verzichtet, so tritt an die Stelle des Endes der mündlichen Verhandlung der Zeitpunkt des Absendens der Urteilsausfertigungen. Bis zu diesem Zeitpunkt beim Gericht eingehende Schriftsätze der Beteiligten müssen noch verwertet werden (vgl. , BFH/NV 1988, 310). Ggf. ist die Sache neu zu beraten (vgl. Gräber/Koch, a.a.O., § 90 Anm. 19, m.w.N.).

Im Streitfall hat das FG diese Grundsätze verletzt, indem es das bereits am beschlossene Urteil trotz des zwischenzeitlich eingegangenen Schriftsatzes am ausgefertigt und anschließend zugestellt hat. Der Schriftsatz vom kann in dem Urteil keine Berücksichtigung gefunden haben. Es handelte sich bei dem Vorbringen des Klägers auch nicht etwa lediglich um eine Wiederholung oder Zusammenfassung früheren Vorbringens oder um Darlegungen, die aus anderen Gründen offensichtlich unerheblich waren. Der Kläger nimmt hierin, wie er in seiner Beschwerde vorträgt, Stellung zu den vom FA vorgelegten ADV-Dienstanweisungen und führt aus, die maßgebliche Tz. 17.14.9., auf die sich das FA berufe, beziehe sich nur auf den Fall eines Verlustrücktrags aus 1990, nicht aber auf den streitigen Fall eines Verlustvortrags nach 1990. Das FG hat sich hierzu auch nicht geäußert. Das FG hat damit den Anspruch des Klägers auf rechtliches Gehör verletzt. Nach § 119 Nr. 3 FGO ist das Urteil als auf diesem Fehler beruhend anzusehen.

Es kann dahingestellt bleiben, ob —wie der Kläger vorträgt— das FG den Anspruch auf rechtliches Gehör auch deshalb verletzte, weil der Kläger zum einen erst nach Erhalt des mit Schreiben vom übersandten BFH-Urteils in der Sache Stellung nehmen konnte und zum anderen das FG aus dem Schreiben des Klägers vom ersehen musste, dass er sich zum Schreiben des FA äußern wollte (vgl. BFH-Beschluss in BFH/NV 1988, 310).

3. Die Aufhebung des FG-Urteils und die Zurückverweisung des Rechtsstreits an das FG zur anderweitigen Verhandlung und Entscheidung beruht auf § 116 Abs. 6 FGO i.d.F. des 2.FGOÄndG, der im Streitfall gemäß Art. 6 2.FGOÄndG anzuwenden ist.

Auf diese Entscheidung wird Bezug genommen in folgenden Gerichtsentscheidungen:


Fundstelle(n):
BFH/NV 2002 S. 356 Nr. 3
VAAAA-67915