FinMin Nordrhein-Westfalen - S 0335

Schätzung von Besteuerungsgrundlagen nach § 162 AO wegen Nichtabgabe der Steuererklärung

1. Grundsätzliches zur Schätzung nach § 162 AO

Eine Schätzung soll in sich schlüssig sein; ihre Ergebnisse sollen wirtschaftlich vernünftig und möglich sein. Ziel der Schätzung ist es deshalb, diejenigen Besteuerungsgrundlagen zu ermitteln, die die größte Wahrscheinlichkeit der Richtigkeit für sich haben. Dabei ist das Finanzamt grundsätzlich gehalten, diejenigen Erkenntnisse, deren Beschaffung und Verwertung ihm zumutbar und möglich sind, auszuschöpfen. Eine Schätzung ist aber nicht schon deswegen rechtswidrig, weil sie von den – später bekannt gewordenen – tatsächlichen Verhältnissen abweicht; solche Abweichungen sind notwendig mit einer Schätzung verbunden, die in Unkenntnis der wahren Gegebenheiten erfolgt. Die Unsicherheit, die einer Schätzung anhaftet, kann daher nicht zu Lasten der Finanzverwaltung gehen, weil der Steuerpflichtige durch seine Säumigkeit den Anlass für die Schätzung gegeben hat. Es ist in der Regel ermessensgerecht, wenn sich das Finanzamt bei steuererhöhenden Besteuerungsgrundlagen an der oberen, bei steuermindernden Besteuerungsgrundlagen an der unteren Grenze des unter Berücksichtigung aller Umstände in Betracht kommenden Schätzungsrahmens ausrichtet, weil der Steuerpflichtige durch die Nichtabgabe seiner Erklärung möglicherweise Einkünfte verheimlichen will (vgl. BStBl 1986 II 226, und vom , BStBl 2001 II 381).

Nichtigkeit ist selbst bei groben Schätzungsfehlern, die auf einer Verkennung der tatsächlichen Gegebenheiten oder der wirtschaftlichen Zusammenhänge beruhen, regelmäßig nicht anzunehmen. Etwas anderes gilt nur dann, wenn das Finanzamt sich nicht an den wahrscheinlichen Besteuerungsgrundlagen orientiert, sondern bewusst zum Nachteil des Steuerpflichtigen geschätzt hat. So kann es sich verhalten, wenn das Schätzungsergebnis trotz vorhandener Möglichkeiten, den Sachverhalt aufzuklären und Schätzungsgrundlagen zu ermitteln, erheblich von den tatsächlichen Gegebenheiten abweicht und in keiner Weise erkennbar ist, dass überhaupt und ggf. welche Schätzungserwägungen angestellt wurden. Die Schätzung darf nicht dazu verwendet werden, die Steuererklärungspflichtverletzung zu sanktionieren und den Steuerpflichtigen zur Abgabe der Erklärungen anzuhalten. „Strafschätzungen eher enteignungsgleichen Charakters” gilt es zu vermeiden ( a. a. O.).

Auch für Schätzungsbescheide gilt das Bestimmtheitsgebot des § 119 Abs. 1 AO. Hinsichtlich der in diesem Zusammenhang auch geforderten Begründung des Verwaltungsakts (§ 121 Abs. 1 AO) genügt grundsätzlich die bloße Angabe der Besteuerungsgrundlagen und der Hinweis, dass diese geschätzt wurden ( EFG 1986, 429). Angaben zu den geschätzten Besteuerungsgrundlagen und den hierzu führenden Anhaltspunkten und Überlegungen sind regelmäßig nicht erforderlich. Der Schätzungsbescheid ist nur dann der Höhe nach zu begründen, wenn hierfür ein besonderer Anlass (z. B. erhebliches Abweichen von den Umsatzsteuer-Voranmeldungen) besteht ( BStBl 1999 II 382).

Vgl. zu den Anforderungen an die Schlüssigkeit sowie die Begründung des Schätzungsergebnisses auch: BFH/NV 2001,1217; BFH/NV 2004,1618. Schätzungen sind als Tatsachenfeststellungen in vollem Umfang durch das Finanzgericht nachprüfbar. Sie sollen deshalb grundsätzlich unter Verwendung des Vordrucks Nr. 605/015 „Schätzung von Besteuerungsgrundlagen” (für Körperschaften: Nr. 605/016) durchgeführt werden.

Ein Verfahrensfehler, der nach § 115 Abs. 2 Nr. 2 FGO zur Zulassung der Revision führt, liegt in Schätzungsfällen erst dann vor, wenn

  • die Schätzung gegen das Willkürverbot verstößt,

  • wenn das Schätzungsergebnis schlechthin unvertretbar ist (z. B. weil es wirtschaftlich unmöglich ist und sich offensichtlich als realitätsfremd darstellt),

  • wenn das Finanzamt bewusst zum Nachteil des Steuerpflichtigen schätzt oder

  • wenn in keiner Weise erkennbar ist, dass überhaupt und ggf. welche Schätzungserwägungen vorgenommen worden sind ( BFH/NV 2011, 760 – 761 m. w. N.).

Als Verfahrensrüge kann regelmäßig nicht geltend gemacht werden,

  • ob das FG zur Schätzung von Besteuerungsgrundlagen befugt war,

  • ob die richtige Schätzungsmethode gewählt wurde,

  • in welcher Höhe zu schätzen war und

  • ob das FG hierbei gegen Schätzungsgrundsätze verstoßen hat ( aaO)

Der Steuerpflichtige hat es durch die Abgabe der Steuererklärung in der Hand, die zutreffenden Besteuerungsgrundlagen nachzuweisen und die Schätzung zu korrigieren. Sind Einkünfte aus nichtselbständiger Arbeit und damit im Zusammenhang stehende Steuerabzugsbeträge zu schätzen, so kann es vielfach zweckmäßig sein, den Sachverhalt durch Ermittlungsmaßnahmen beim Arbeitgeber aufzuklären, falls dieser dem Finanzamt bekannt ist.

2. Anrechnung der Steuerabzugsbeträge bei der Einkommensteuerveranlagung

→ Hinweis auf AO-Kartei Karte 801 zu § 130 und Karte 801 zu § 173

2.1 Werden bei der Schätzung auch Einkünfte aus nichtselbständiger Arbeit angesetzt, bei denen ein Lohnsteuer-Abzug vorzunehmen war, sind grundsätzlich auch einbehaltene Lohnsteuer-Abzugsbeträge in geschätzter Höhe auf die festgesetzte Einkommensteuer anzurechnen. Bei diesen Anrechnungsbeträgen handelt es sich zwar nicht um Besteuerungsgrundlagen im Sinne des § 162 AO, weil sie den Abrechnungsteil des Bescheides betreffen. Die grundsätzliche Verpflichtung zur Anrechnung ergibt sich jedoch in verfassungskonformer Auslegung aus § 88 Abs. 2 AO (Willkür- und Übermaßverbot).

Insoweit kommt eine Anrechnung von Lohnsteuer in Abweichung von der Regelung des § 36 Abs. 2 Nr. 2 EStG auch dann in Betracht, wenn die Einbehaltung nicht durch eine (besondere) Lohnsteuerbescheinigung nachgewiesen ist.

Etwas anderes kann nur dann gelten, wenn dem Finanzamt bekannt ist oder sicher anzunehmen ist, dass der Arbeitgeber des Steuerpflichtigen zum Lohnsteuerabzug nicht verpflichtet ist (z. B. ausländischer Arbeitgeber ohne inländischen Vertreter, vgl. § 38 Abs. 1 Satz 1 Nr. 1 EStG) oder dass Arbeitslohn ausgezahlt worden ist und Lohnsteuer nicht einbehalten wurde (z. B. Schwarzarbeiter).

Die Steuerabzugsbeträge sind im Einzelfall nach dem geschätzten Arbeitslohn unter Berücksichtigung aller bekannten Umstände (z. B. Familienstand usw.) zu ermitteln. Unsicherheiten gehen dabei zu Lasten des Steuerpflichtigen, weil er seine Mitwirkungspflicht verletzt hat.

Führt die Schätzung zu einem Erstattungsbetrag, so wird der Hinweis 3040 „In einem Schätzungsfall ist die verbleibende Einkommensteuer kleiner Null.” ausgegeben. Hierbei sind folgende Bearbeitungshinweise zu beachten:

a) Soweit dem Finanzamt die Einnahmen aus nichtselbständiger Arbeit sowie die einbehaltenen Lohnsteuerabzugsbeträge aus den elektronischen Lohnsteuerbescheinigungen, die im „e-Speicher” abgelegt sind, bekannt sind, hat es diese Daten der Schätzung zugrunde zu legen, soweit ihm nicht Anhaltspunkte dafür vorliegen, dass die Daten falsch sind bzw. dass der Steuerpflichtige weitere Einkünfte bezogen hat. Die Möglichkeit, einen Verspätungszuschlag auch dann festzusetzen, wenn sich durch die Anrechnung von Steuerabzugsbeträgen eine Erstattung ergibt (Nummer 7 des AEAO zu § 152), bleibt unberührt. Der Hinweis 3040 wird in diesem Fall ggf. als PHW ausgegeben und steht der Erstellung eines Steuerbescheides somit nicht entgegen.

b) Bei einer (ab VZ 2004 ausnahmsweise erfolgten) maschinellen Schätzung von Lohnsteuerabzugsbeträgen sollte die Anrechnung der Steuerabzugsbeträge jedoch in der Regel nicht zu einer Steuererstattung führen. Der Hinweis 3040 wird deshalb bei einem Erstattungsbetrag als AHW ausgegeben (vgl. DA-ADV Fach 10 Teil 47/48.10).

c) Soweit die Voraussetzungen für die Änderung eines bestandskräftigen Einkommensteuerbescheides vorliegen und dadurch geschätzte Steuerabzugsbeträge erstattet würden, ist das Zwangsgeldverfahren zur Erzwingung der Abgabe der Steuererklärung (weiter) zu betreiben (vgl. Tz. 4).

2.2 Kapitalertragsteuer wird nicht angerechnet, wenn die Steuerbescheinigung gem. § 45a Abs. 2 oder 3 EStG nicht vorgelegt wird (§ 36 Abs. 2 Nr. 2 Satz 2 EStG). Daher kommt bei der Schätzung von Einkünften aus Kapitalvermögen eine Anrechnung von geschätzten Kapitalertragsteuerbeträgen regelmäßig nicht in Betracht.

3. Verfahrensfragen

3.1 Erinnerung an die Abgabe der Steuererklärung

Es besteht grundsätzlich keine rechtliche Verpflichtung, vor einer Schätzung nochmals an die Abgabe einer ausstehenden Steuererklärung zu erinnern.

Bei einer im Einzelfall für zweckmäßig erachteten Erinnerung ist es ausreichend, in dem – maschinell oder mit Vordruck Nr. 724/004 – ergehenden Erinnerungsschreiben darauf hinzuweisen, dass die Besteuerungsgrundlagen geschätzt werden können, wenn der Steuerpflichtige der Aufforderung auch weiterhin nicht nachkommt.

Eine weitere Anhörung oder die vorherige Mitteilung, in welcher Höhe voraussichtlich geschätzt werden soll, ist nicht erforderlich. Sie kann aber im Einzelfall zweckmäßig sein, z. B. wenn die Schätzung auf Tatsachen gestützt werden soll, von denen zweifelhaft ist, ob sie dem Steuerpflichtigen bekannt sind.

3.2 Vorbehalt der Nachprüfung

  1. Werden die Besteuerungsgrundlagen wegen Nichtabgabe der Steuererklärung geschätzt, ist die Steuer unter dem Vorbehalt der Nachprüfung (§ 164 AO) festzusetzen, wenn der Fall für eine eventuelle spätere Überprüfung offen gehalten werden soll (AEAO zu § 162 Nr. 4). Eine Vorbehaltsfestsetzung kommt hiernach stets in Betracht, wenn

    • bei dem Steuerpflichtigen eine den Schätzungszeitraum umfassende Außenprüfung vorgesehen ist,

    • sich aus den Akten keine oder kaum ausreichende Anhaltspunkte für eine zutreffende Schätzung ergeben und der Sachverhalt weiter aufgeklärt werden soll oder

    • zu erwarten ist, dass der Steuerpflichtige nach Erlass des Bescheids die Steuererklärung nachreicht. Diese Voraussetzung ist immer dann als erfüllt anzusehen, wenn

      • die Besteuerungsgrundlagen erstmals wegen Nichtabgabe der Steuererklärung geschätzt werden oder

      • der Steuerpflichtige sich in der Vergangenheit zwar ständig hat schätzen lassen, die Steuererklärung aber regelmäßig nach Ergehen des Schätzungsbescheides, ggf. auch erst im Klageverfahren, nachgereicht hat.

    Hat der Steuerpflichtige demnach auf eine für das Vorjahr erfolgte Schätzung der Besteuerungsgrundlagen hin keine Steuererklärung abgegeben, kann bei der nachfolgenden Schätzungsveranlagung nicht mehr davon ausgegangen werden, dass die Steuererklärung nach Erlass des Steuerbescheides nachgereicht wird. Diese Schätzungsveranlagung ist daher endgültig durchzuführen.

    Maschinelle Unterstützung:

    Schätzungsbescheide werden programmgesteuert grundsätzlich unter dem Vorbehalt der Nachprüfung erlassen. Das Programm knüpft insoweit an die Erläuterungstexte 702 und 717 (zusätzlich 410 bei der USt) an.

    Soll die Schätzung ausnahmsweise endgültig ergehen (z. B., wenn regelmäßig keine Erklärungen abgegeben werden), so kann das programmgesteuerte Ergänzen der Bescheidkennzeichnung „Vorbehalt der Nachprüfung” durch die Anweisung der Bescheidkennzeichnung „60” vermieden werden.

    Daneben besteht auch die Möglichkeit, Steuerfestsetzungen durch die Anweisung der Bescheidkennzeichnung „13” oder „24” unter dem Vorbehalt der Nachprüfung durchzuführen.

  2. Die Pflicht, eine Steuererklärung abzugeben, wird durch die Schätzung nicht berührt. Die Finanzämter sollen ggf. mit geeigneten Mitteln darauf hinwirken, dass der Steuerpflichtige seiner Erklärungspflicht noch nachkommt. So sollten im Falle einer Nichtzahlung der mit einem Schätzungsbescheid festgesetzten Abgabenbeträge möglichst bald die jeweils gebotenen Vollstreckungsmaßnahmen ergriffen werden, um den Steuerpflichtigen noch zu einer Erklärungsabgabe zu veranlassen oder andere Erkenntnisse über die steuerlichen Verhältnisse des Steuerpflichtigen (z. B. Betriebseinstellung vor dem oder im Veranlagungszeitraum) zu gewinnen.

    Die unter Nachprüfungsvorbehalt stehende Steuerfestsetzung ist sofern der Steuerpflichtige keinen Rechtsbehelf eingelegt bzw. keinen Änderungsantrag gestellt hat (vgl. hierzu Tz. 7) und auch keine Außenprüfung vorgesehen ist – bei der Durchführung der Veranlagung für das Folgejahr zu überprüfen. Dabei sind die in einem eventuellen Vollstreckungsverfahren gewonnenen Erkenntnisse zu berücksichtigen. Der Vorbehalt der Nachprüfung ist danach grundsätzlich aufzuheben, auch wenn die Steuerfestsetzung nicht zu ändern ist.

4. Zwangsgeldverfahren im Falle einer Schätzung

Soweit sich aus den Steuerakten keine oder nur unzureichende Anhaltspunkte für eine zutreffende Schätzung ergeben (vgl. Tz. 3.2 Buchstabe a) und Vollstreckungsmaßnahmen wegen Zahlung der festgesetzten Steuer nicht in Betracht kommen (vgl. Tz. 3.2 Buchstabe b), kann es angezeigt sein, für Zwecke einer zutreffenden Besteuerung auch nach Erlass des Schätzungsbescheides ein Zwangsgeldverfahren zur Erzwingung der Abgabe der Steuererklärung (weiter) zu betreiben. Dies könnte insbesondere geboten sein, wenn ein bestandskräftiger Einkommensteuerbescheid nach einer Schätzung der Besteuerungsgrundlagen aus anderen Gründen (z. B. nach § 175 Abs. 1 Satz 1 Nr. 1 AO oder nach § 10d EStG) zu ändern ist und diese Änderung zu einer Erstattung geschätzter Steuerabzugsbeträge führen würde (vgl. Tz. 2).

Das Zwangsgeldverfahren (vgl. hierzu AO-Kartei NRW § 328 Karte 801) ist zügig und konsequent durchzuführen. Rechtsgrundlage ist dabei § 149 Abs. 1 Satz 4 AO, wonach die Verpflichtung zur Abgabe einer Steuererklärung trotz Schätzung weiterhin fortbesteht. Im Schätzungsbescheid ist ggf. ausdrücklich darauf hinzuweisen, dass sich ein eingeleitetes Zwangsgeldverfahren hierdurch nicht erledigt.

5. Verspätungszuschläge

Wegen der Festsetzung von Verspätungszuschlägen wird auf AO-Kartei NRW § 152 Karte 801 verwiesen.

6. Einleitung eines Straf- und Bußgeldverfahrens

Durch die Nichtabgabe der Steuererklärung kann u. U. der Tatbestand der Steuerhinterziehung (§ 370 AO) oder der leichtfertigen Steuerverkürzung (§ 378 AO) verwirklicht werden. Aufgrund dessen ist zu prüfen, ob eine Meldung an die zuständige Straf- und Bußgeldsachenstelle zu erfolgen hat. Dies gilt insbesondere dann, wenn sich ein Steuerpflichtiger wiederholt schätzen lässt.

7. Einwendungen gegen Schätzungsbescheide

7.1 Verfahren bei Einsprüchen und Änderungsanträgen

Reicht der Steuerpflichtige innerhalb der Einspruchsfrist die Steuererklärung nach, ist dies mangels anderweitiger Anhaltspunkte als Einspruch gegen den Schätzungsbescheid zu behandeln, da ein förmlicher Rechtsbehelf die Rechte des Steuerpflichtigen umfassender wahrt als ein Korrekturantrag (vgl. AEAO vor § 347 Nr. 1 bzw. BStBl 2003 II, 505).

Steht der Schätzungsbescheid unter dem Vorbehalt der Nachprüfung, ist zu einem späteren Zeitpunkt zu prüfen, ob dieser aufrecht erhalten werden soll. Die Schätzung unter dem Vorbehalt der Nachprüfung soll eine Überprüfung bei der Durchführung der Veranlagung für das Folgejahr ermöglichen. Hat der Steuerpflichtige gegen den Schätzungsbescheid Einspruch eingelegt oder seine Änderung beantragt und erfolgt in diesem Verfahren eine abschließende Prüfung i. S. d. § 164 Abs. 1 AO, ist der Nachprüfungsvorbehalt bereits mit der Einspruchsentscheidung bzw. dem Abhilfebescheid aufzuheben; ein Verböserungshinweis ist nicht notwendig ( BStBl 1997 II, 5). Insoweit bedarf es der weiteren Aufrechterhaltung des Vorbehalts bis zur Veranlagung für das Folgejahr nicht (vgl. Tz. 3.2 Buchstabe b).

Lediglich in den Fällen, in denen eine befriedigende Sachverhaltsaufklärung nicht möglich ist und z. B. im Hinblick auf ein laufendes Vollstreckungs- oder Zwangsmittelverfahren (vgl. Tz. 3.2 Buchstabe b und Tz. 4) noch mit weiteren Erkenntnissen gerechnet werden kann oder noch eine Außenprüfung vorgesehen ist, ist der Vorbehalt der Nachprüfung nicht aufzuheben.

In Fällen, in denen dem Steuerpflichtigen im Einspruchsverfahren eine Ausschlussfrist nach § 364b AO gesetzt wird, ist der Vorbehalt der Nachprüfung spätestens mit der Fristsetzung aufzuheben (AEAO zu § 364b Nr. 2 Satz 3). Mit Urteil vom (BStBl. 1999 II, 26) hat der BFH zu der Frage der Entschuldbarkeit der Fristversäumnis ausgeführt, dass in den Fällen, in denen die angefochtene Steuerfestsetzung unter dem Vorbehalt der Nachprüfung (§ 164 AO) ergangen ist, zu berücksichtigen sei, dass der Stpfl. durchaus davon ausgehen kann, dass nach Fristablauf eingereichte Unterlagen aufgrund des Vorbehaltes der Nachprüfung noch berücksichtigt werden können (vgl. Pkt. 3b) aa) der Urteilsgründe).

War der Schätzungsbescheid vorbehaltlos ergangen und soll der Abhilfebescheid nunmehr – erstmals – mit dem Nachprüfungsvorbehalt versehen werden, ist dazu grundsätzlich die Zustimmung des Steuerpflichtigen erforderlich. Wird die Zustimmung nicht erteilt, so ist die Steuer entsprechend der Erklärung durch Einspruchsentscheidung festzusetzen und der Vorbehalt der Nachprüfung nach vorherigem Hinweis nach § 367 Abs. 2 AO auf die hierin liegende Verböserung zu setzen. Gleiches gilt, wenn der nachgereichten Steuererklärung nur teilweise gefolgt werden kann.

Geht die Erklärung nach Ablauf der Einspruchsfrist ein und steht der Schätzungsbescheid nicht unter dem Vorbehalt der Nachprüfung, ist die Erklärung als Änderungsantrag nach § 173 AO zu behandeln. Führt die Berücksichtigung der Angaben zu einer höheren Steuer, so ist die Änderung gemäß § 173 Abs. 1 Satz 1 Nr. 1 AO vorzunehmen, andernfalls ist die Änderung unter Hinweis auf § 173 Abs. 1 Satz 1 Nr. 2 AO abzulehnen (zur Berücksichtigung von Anrechnungsbeträgen vgl. AO-Kartei NRW § 130 Karte 801 und AO-Kartei NRW § 173 Karte 801). Gegen die Ablehnung des Änderungsantrages ist der Einspruch gegeben. Eine Aussetzung der Vollziehung ist nicht möglich, da die Ablehnung der Änderung eines Verwaltungsaktes nicht vollziehbar ist.

7.2 Einwendungen nach Einspruchsentscheidung

Geht die Erklärung erst nach Erlass einer den Einspruch zurückweisenden Einspruchsentscheidung, aber noch innerhalb der Klagefrist ein, ist sie als Änderungsantrag nach § 164 Abs. 2 AO oder als Antrag auf schlichte Änderung nach § 172 Abs. 1 Satz 1 Nr. 2 a i. V. m. Satz 3 1. Halbsatz AO zu behandeln, wenn der Steuerpflichtige nicht ausdrücklich Klage erhebt. Durch eine schlichte Änderung dürfen aber die Wirkungen einer nach § 364b Abs. 2 AO im Einspruchsverfahren gesetzten Ausschlussfrist nicht unterlaufen werden. Erklärungen und Beweismittel, die nach § 364b Abs. 2 AO in der Einspruchsentscheidung nicht berücksichtigt wurden, dürfen daher auch nicht im Rahmen eines Änderungsantrags berücksichtigt werden (§ 172 Abs. 1 Satz 3 2. Halbsatz AO).

Eine Umdeutung in eine Klage ist grundsätzlich nicht möglich, wenn der Steuerpflichtige nicht eindeutig zu erkennen gegeben hat, dass er den für ihn ggf. mit Kosten verbundenen Klageweg tatsächlich beschreiten will. Erforderlichenfalls ist Rücksprache mit dem Steuerpflichtigen zu halten.

Geht die Erklärung erst nach Ablauf der Klagefrist ein, gelten die Ausführungen zur Abgabe der Erklärung nach Ablauf der Einspruchsfrist entsprechend (vgl. Tz. 7.1 a. E.).

7.3 Besonderheiten bei der Umsatzsteuer-Jahreserklärung

Nach einer Steuerfestsetzung ohne Vorbehalt der Nachprüfung ist das Steueranmeldungsverfahren nicht mehr anwendbar. Die Abgabe der Steuererklärung nach Schätzung gem. § 162 AO wegen Nichtabgabe der Steueranmeldung (§ 167 Abs. 1 Satz 1 2. Alternative AO) stellt deshalb unabhängig von der Selbstberechnung der Steuer lediglich einen Antrag auf Änderung der Steuerfestsetzung nach §§ 172 ff. AO dar. Über diesen Antrag ist durch Steuerbescheid oder durch einen Bescheid über die Ablehnung des Änderungsantrags zu entscheiden.

Steht die Steuerfestsetzung hingegen (noch) unter dem Vorbehalt der Nachprüfung, handelt es sich bei der Steuererklärung um eine Anmeldung im Sinne der §§ 167, 168 AO, die zugleich einen Antrag auf Änderung der bisherigen Steuerfestsetzung nach § 164 Abs. 2 AO enthält.

Führt die Steueranmeldung zu einer Erhöhung der zu entrichtenden Steuer, steht sie mit ihrem Eingang einer nach § 164 Abs. 2 AO geänderten Steuerfestsetzung gleich. Führt die Steueranmeldung hingegen zu einer Herabsetzung der bisher zu entrichtenden Steuer oder zu einer Steuervergütung, treten diese Rechtswirkungen erst ein, wenn das Finanzamt der Steueranmeldung gemäß § 168 Satz 2 AO zustimmt ().

Soweit dem Einspruch des Steuerpflichtigen durch das Einreichen der Steueranmeldung abgeholfen worden ist, bedarf es einer Einspruchsentscheidung nicht mehr (§ 367 Abs. 2 Satz 3 AO).

7.4 Besonderheiten bei Lohnsteueranmeldungen

In Fällen, in denen der Steuerpflichtige nach Schätzung der Besteuerungsgrundlagen (§ 162 AO) und bestandskräftiger endgültiger Steuerfestsetzung seine Lohnsteueranmeldung abgibt, bitte ich wie folgt zu verfahren:

Die nachträglich abgegebene Steueranmeldung wirkt in diesen Fällen nicht als neue Steuerfestsetzung, da § 168 AO nur gilt, solange noch keine endgültige Steuerfestsetzung erfolgt ist. Die Steueranmeldung ist vielmehr als Antrag auf Änderung der Steuerfestsetzung aufzufassen. Führt sie zu einer höheren Steuer, wird in ihr die Zustimmung zur nachteiligen Änderung der Steuerfestsetzung gemäß § 172 Abs. 1 Satz 1 Nr. 2 Buchstabe a AO gesehen werden können. Eine Änderung zugunsten des Steuerpflichtigen gemäß § 173 Abs. 1 Nr. 2 AO wird jedoch regelmäßig am groben Verschulden des Steuerpflichtigen scheitern.

Steht die Steuerfestsetzung (Schätzung) unter dem Vorbehalt der Nachprüfung, wirkt eine nachträgliche Steueranmeldung im Hinblick auf §§ 164 Abs. 2, 168 AO dann als geänderte Steuerfestsetzung, wenn sie zu einer Erhöhung der bisher festgesetzten Steuer führt. Bei einer Minderung der bisher festgesetzten Steuer tritt diese Wirkung erst nach Zustimmung durch das Finanzamt ein (§ 168 Satz 2 AO; vgl. AEAO § 168 Nr. 4).

Die Frage, ob Schätzungen der Lohnsteuer unter dem Vorbehalt der Nachprüfung durchzuführen sind, richtet sich nach den allgemeinen Grundsätzen, die unter Tz. 3.2 Buchstabe a dargestellt sind.

FinMin Nordrhein-Westfalen v. - S 0335

Fundstelle(n):
DB 2017 S. 1418 Nr. 25
WAAAG-49261