BVerwG Urteil v. - 2 C 21/15

Instanzenzug: Oberverwaltungsgericht für das Land Nordrhein-Westfalen Az: 1 A 419/14 Urteilvorgehend Az: 15 K 3/13 Urteil

Tatbestand

1Die Beteiligten streiten über den Freizeitausgleich bei Bereitschaftsdienstzeiten im Polizeivollzugsdienst.

2Der Kläger ist Polizeivollzugsbeamter bei der Bundespolizei. Er war in den Jahren 2010 und 2011 für jeweils ca. drei Monate bei den deutschen Botschaften in Kabul und Bagdad tätig und hat dort Aufgaben des Personen- und Objektschutzes wahrgenommen. In dieser Zeit war er jeweils an das Auswärtige Amt abgeordnet und erhielt zusätzlich zu seinen regelmäßigen Bezügen Auslandsbesoldung.

3Im Rahmen des Dienstes bei den deutschen Botschaften in Kabul und in Bagdad - bei dem aus Sicherheitsgründen das Botschaftsgelände nur im Rahmen von Einsätzen verlassen werden durfte - fielen als Mehrarbeit angeordnete Überstunden an, für die Freizeitausgleich gewährt wurde. Die Beklagte hat Mehrarbeit in Form von Bereitschaftsdienst dabei zeitlich nur hälftig in Ansatz gebracht; bei der deutschen Botschaft in Bagdad als Rufbereitschaftsdienst gewertete Zeiten hat sie zu einem Achtel als Mehrarbeit berücksichtigt.

4Das Berufungsgericht hat dem Kläger pro Bereitschaftsstunde eine Stunde Freizeitausgleich zuerkannt, weil die streitgegenständlichen Zeiten als Bereitschaftsdienst und nicht nur als Rufbereitschaftsdienst einzuordnen seien. In den über den Dienst der Polizeivollzugsbeamten geführten Stundenlisten seien mit dem Begriff "Bereitschaft 100 %" Volldienst-Zeiten gekennzeichnet, mit dem Begriff "Bereitschaft 50 %" dagegen die Bereitschaftsdienst-Zeiten. Diese Bereitschaftsstunden seien als Mehrarbeit angeordnet worden. Hieraus ergebe sich gemäß § 88 Satz 2 BBG ein Anspruch auf vollen Freizeitausgleich. Eine Differenzierung beim Umfang des Freizeitausgleichs nach der Arbeitsintensität sei weder mit dem Wortlaut der Norm noch mit unionsrechtlichen Vorgaben zu vereinbaren. Hingegen könnten weitere Anwesenheitszeiten auf dem Botschaftsgelände nicht als nach nationalem Recht oder nach Unionsrecht ausgleichspflichtige Arbeitszeiten angesehen werden. Sie seien außerdem nicht als Mehrarbeit angeordnet oder genehmigt worden. Des Weiteren hätten die Beamten - wie der Kläger - auch nie die Rechtswidrigkeit dieser Zeiten vorgetragen und Ausgleichsansprüche auch erst nach Beendigung dieser Zeiten geltend gemacht. Schließlich könne für die Zeit des Freizeitausgleichs weder eine Verlängerung der Abordnung noch die Zahlung von Auslandsbesoldung verlangt werden. Auslandsdienstbezüge setzten einen dienstlichen und tatsächlichen Wohnsitz im Ausland voraus.

5Die Beklagte macht mit ihrer Revision geltend, dass der Freizeitausgleich bei Bereitschaftsdienst geringer ausfallen dürfe als bei Volldienst.

6Die Beklagte beantragt,

das Urteil des Oberverwaltungsgerichts für das Land Nordrhein-Westfalen vom und das Urteil des Verwaltungsgerichts Köln vom aufzuheben, soweit die Beklagte verpflichtet wurde, dem Kläger weitere Dienstbefreiung (Freizeitausgleich) für die streitbefangenen Abordnungszeiträume in Höhe des von den Vorinstanzen zugesprochenen Umfangs zu gewähren.

7Der Kläger beantragt,

die Revision der Beklagten zurückzuweisen.

Gründe

8Die Revision der Beklagten ist unbegründet. Das Berufungsurteil verletzt kein revisibles Recht. Bei Mehrarbeit in der Form des Bereitschaftsdienstes ist gemäß § 88 Satz 2 Bundesbeamtengesetz (BBG) in der insoweit unverändert gültigen Fassung vom (BGBl. I S. 160) voller Freizeitausgleich zu gewähren.

91. Nach § 88 Satz 2 BBG ist Beamtinnen und Beamten, die durch eine dienstlich angeordnete oder genehmigte Mehrarbeit mehr als fünf Stunden im Monat über die regelmäßige Arbeitszeit hinaus beansprucht werden, innerhalb eines Jahres für die Mehrarbeit, die sie über die regelmäßige Arbeitszeit hinaus leisten, entsprechende Dienstbefreiung zu gewähren. Voraussetzung für den Freizeitausgleich ist damit, dass Mehrarbeit angeordnet oder genehmigt worden ist; es kommt nicht darauf an, ob sie auch angeordnet oder genehmigt werden durfte (vgl. 6 C 79.63 - Buchholz 232 § 72 BBG Nr. 2 S. 12 f.).

10Mehrarbeit im Sinne des § 88 Satz 2 BBG ist der Dienst, den der einer Arbeitszeitregelung unterliegende Beamte aufgrund dienstlicher Anordnung oder Genehmigung zur Wahrnehmung der Obliegenheiten des Hauptamts oder, soweit ihm ein Amt nicht verliehen ist, zur Erfüllung der einem Hauptamt entsprechenden Aufgaben über die regelmäßige Arbeitszeit hinaus - d.h. nicht im Rahmen des normalen Arbeitsumfangs - verrichtet (vgl. 2 C 61.03 - BVerwGE 122, 65 <68> = juris Rn. 14 f.).

11Die Anordnung oder Genehmigung von Mehrarbeit unterliegt keinem Schriftformerfordernis, sie muss sich aber auf konkrete und zeitlich abgegrenzte Mehrarbeitstatbestände beziehen; nicht erforderlich ist, dass im Zeitpunkt der Anordnung oder Genehmigung die Anzahl der zu leistenden oder bereits geleisteten Mehrarbeitsstunden bekannt ist. Der Dienstherr entscheidet über die Anordnung oder Genehmigung von Mehrarbeit nach Ermessen. Dabei hat er insbesondere zu prüfen, ob nach dienstlichen Notwendigkeiten überhaupt Mehrarbeit erforderlich ist und welchem Beamten sie übertragen werden soll (vgl. 2 C 1.81 - Buchholz 237.7 § 78a LBG NW Nr. 2 S. 3 f. = juris Rn. 20, vom - 2 C 28.02 - Buchholz 232 § 72 BBG Nr. 38 S. 5 = juris Rn. 14 und vom - 2 C 61.03 - BVerwGE 122, 65 <69> = juris Rn. 18).

12Bereitschaftsdienst ist nach § 88 Satz 2 BBG abgeltungsfähiger Dienst (stRspr, vgl. 6 C 21.71 - Buchholz 232 § 72 BBG Nr. 10 S. 24 ff. und vom - 2 C 7.78 - BVerwGE 59, 45 <46 f.> = juris Rn. 41). Bereitschaftsdienst liegt vor, wenn der Beamte sich an einem vom Dienstherrn bestimmten Ort außerhalb des Privatbereichs zu einem jederzeitigen unverzüglichen Einsatz bereitzuhalten hat und erfahrungsgemäß mit einer dienstlichen Inanspruchnahme zu rechnen ist ( 2 C 90.07 - Buchholz 240.1 BBesO Nr. 31 Rn. 14, 17 m.w.N.; vgl. auch die Legaldefinition in § 2 Nr. 12 Arbeitszeitverordnung - AZV - vom <BGBl. I S. 427>).

132. "Entsprechende Dienstbefreiung" in § 88 Satz 2 BBG heißt bei Bereitschaftsdienst - ebenso wie bei Volldienst - voller Freizeitausgleich im Verhältnis "1 zu 1". Dies ergibt sich aus der Auslegung dieser Bestimmung nach Wortlaut, Sinn und Zweck sowie ihrer Entstehungsgeschichte.

14Der Wortlaut der Norm schließt es zwar nicht aus, zur Bestimmung des Umfangs des zu gewährenden Freizeitausgleichs auf das Maß und die Intensität der Inanspruchnahme während der geleisteten Mehrarbeit abzustellen, legt aber wegen des Fehlens der Benennung dieses Kriteriums gleichwohl nahe, dass allein an den zeitlichen Umfang der geleisteten Mehrarbeit angeknüpft und damit ohne Unterscheidung nach der Art des Dienstes - Volldienst oder Bereitschaftsdienst - voller Freizeitausgleich gewährt wird.

15Entscheidend für die Auslegung, dass auch bei Bereitschaftsdienst ein Anspruch auf vollen Freizeitausgleich besteht, sprechen Sinn und Zweck des § 88 Satz 2 BBG. Nach besonderer dienstlicher Beanspruchung dient der Freizeitausgleichsanspruch nicht in erster Linie der Regeneration des durch Mehrarbeit überobligationsmäßig herangezogenen Beamten. Dienstbefreiung für Mehrarbeit soll vielmehr die Einhaltung der regelmäßigen Arbeitszeit - jedenfalls im Gesamtergebnis - gewährleisten. Dem Beamten soll in ungeschmälertem Umfang Freizeit zur Verwendung nach seinen persönlichen Bedürfnissen und Interessen zur Verfügung stehen (vgl. 2 C 45.68 - BVerwGE 37, 21 <24 f.> = juris Rn. 31 und vom - 2 C 70.11 - NVwZ 2012, 1472 Rn. 29). Auf die sich aus der gesetzlichen Arbeitszeitregelung ergebende Freizeit hat der Beamte auch dann einen Anspruch, wenn er sie nicht zur Wiederherstellung seiner Kräfte benötigt.

16Bestätigt wird dieses Ergebnis durch die Entstehungsgeschichte der Norm. Der Begriff der "entsprechenden" Dienstbefreiung wurde 1965 in den damals den Freizeitausgleichsanspruch regelnden § 72 Abs. 2 BBG eingefügt. Zurück ging diese Formulierung auf einen Vorschlag aus der Mitte des Bundestages, wonach dem Mehrarbeit leistenden Beamten "dem Umfang der Mehrleistungen entsprechend" Dienstbefreiung zu gewähren sein sollte (BT-Drs. IV/2214 S. 1 und 3). Beabsichtigt war eine "klare gesetzliche Regelung ... des Umfanges der als Äquivalent für die gegenüber der regelmäßigen Arbeitszeit erhöhten Dienstleistungen zu gewährenden Dienstbefreiung". Ohne dass damit eine Inhaltsänderung beabsichtigt war, erhielt der Freizeitausgleichsanspruch in § 72 Abs. 2 BBG sodann die auch heute in § 88 Satz 2 BBG enthaltene Fassung, wonach "entsprechende Dienstbefreiung" gewährt wird (BT-Drs. IV/3624, S. 1 ff.). "Entsprechend" meint damit dem (zeitlichen) Umfang - nicht: der Intensität der Mehrleistung - entsprechend.

173. Dieses Ergebnis steht auch in Einklang mit Unionsrecht. Nach der Rechtsprechung des Gerichtshofs der Europäischen Union (EuGH) ist Bereitschaftsdienst hinsichtlich der Einhaltung der wöchentlichen Höchstarbeitszeit ohne Einschränkung wie Volldienst zu behandeln (vgl. [ECLI: EU:C:2000:528], Simap - Slg. 2000, I-7963 Rn. 48 und 52, vom - C-151/02 [ECLI:EU:C:2003:437], Jaeger - Slg. 2003, I-8389 Rn. 71, 75 und 103 und vom - C-14/04 [ECLI:EU:C:2005:728], Dellas - Slg. 2005, I-10253 Rn. 46; Beschluss vom - C-437/05 [ECLI:EU:C:2007:23], Vorel - Slg. 2007, I-331 Rn. 27). Art. 2 Nr. 1 der RL 2003/88/EG des Europäischen Parlaments und des Rates vom über bestimmte Aspekte der Arbeitszeitgestaltung - Arbeitszeitrichtlinie - definiert den Begriff der Arbeitszeit, der autonom, d.h. unabhängig von nationalstaatlichen Erwägungen und Besonderheiten auszulegen ist, weil nur so die einheitliche Anwendung in allen Mitgliedstaaten sichergestellt werden kann (vgl. , Vorel - Slg. 2007, I-331 Rn. 26). Die Anwendung dieses Arbeitszeitbegriffs ist zwar auf den Regelungsbereich der Richtlinie beschränkt und erstreckt sich deshalb nicht auf Fragen der Vergütung (vgl. , Vorel - Slg. 2007, I-331 Rn. 32) oder des Schadensersatzes (vgl. [ECLI:EU:C:2010:717], Fuß - Slg. 2010, I-12167 Rn. 44). Beim Anspruch auf Freizeitausgleich für Mehrarbeit steht aber der Umfang der zu leistenden Arbeitszeit selbst in Rede. Würde Bereitschaftsdienst nicht in vollem Umfang ausgeglichen, müssten die betroffenen Beamten ggf. mehr als die in der Arbeitszeitrichtlinie festgelegten 48 Wochenstunden arbeiten.

184. Die Kostenentscheidung beruht auf § 154 Abs. 2 VwGO.

ECLI Nummer:
ECLI:DE:BVerwG:2016:171116U2C21.15.0

Fundstelle(n):
LAAAG-38940