BFH Urteil v. - III R 27/13

Kindergeld: Anspruchsberechtigung bei grenzüberschreitenden Sachverhalten

Leitsatz

Die Fiktion des Art. 60 Abs. 1 Satz 2 der VO Nr. 987/2009 kann dazu führen, dass der Anspruch auf Kindergeld nach §§ 62 ff. EStG nicht dem in Deutschland, sondern vorrangig dem im EU-Ausland lebenden Elternteil zusteht (Anschluss an die , BFHE 253, 134, BStBl II 2016, 612, und vom III R 68/13, BFHE 254, 20, BStBl II 2016, 776) .

Gesetze: § 62 Abs 1 Nr 1 EStG 2009, § 63 Abs 1 EStG 2009, § 64 Abs 2 S 1 EStG 2009, § 64 Abs 2 S 2 EStG 2009, Art 1 Buchst z EGV 883/2004, Art 2 Abs 1 EGV 883/2004, Art 3 Abs 1 Buchst j EGV 883/2004, Art 11 Abs 1 EGV 883/2004, Art 11 Abs 3 Buchst e EGV 883/2004, Art 67 EGV 883/2004, Art 60 Abs 1 S 2 EGV 987/2009, EStG VZ 2011

Instanzenzug: Az: 7 K 1530/11 Kg Urteil,

Tatbestand

1I. Streitig ist der Kindergeldanspruch für das Kind V für den Zeitraum Januar 2011 bis April 2011.

2Der Kläger und Revisionsbeklagte (Kläger) ist der Vater der im Januar 2011 geborenen Tochter V. Er ist deutscher Staatsangehöriger und lebt in der Bundesrepublik Deutschland (Deutschland). V lebt bei der erwerbstätigen Kindsmutter in Polen. Diese erhält für V aufgrund zu hoher eigener Einkünfte keine polnischen Familienleistungen.

3Mit Bescheid vom lehnte die Beklagte und Revisionsklägerin (Familienkasse) den Antrag des Klägers auf Kindergeld für V ab, da die Kindsmutter vorrangig kindergeldberechtigt sei. Der dagegen gerichtete Einspruch hatte keinen Erfolg (Einspruchsentscheidung vom ).

4Das Finanzgericht (FG) gab der hiergegen gerichteten Klage mit Urteil vom   7 K 1530/11 Kg statt. Es verpflichtete die Familienkasse, dem Kläger ab Januar 2011 Kindergeld für V in gesetzlicher Höhe zu gewähren.

5Mit der Revision rügt die Familienkasse die sich aus einer unzutreffenden Auslegung des § 64 des Einkommensteuergesetzes (EStG) ergebende Verletzung materiellen Rechts.

6Die Familienkasse beantragt,das aufzuheben und die Klage abzuweisen.

7Der Kläger beantragt, die Revision als unbegründet zurückzuweisen.

8Mit hat der Bundesfinanzhof das Ruhen des Verfahrens bis zur Entscheidung des Gerichtshofs der Europäischen Union (EuGH) über das bei ihm anhängige Vorabentscheidungsersuchen C-378/14 angeordnet. Der EuGH hat mit Urteil Trapkowski vom C-378/14 (EU:C:2015:720, Deutsches Steuerrecht/Entscheidungsdienst 2015, 1501) über die Vorlagefragen entschieden.

Gründe

9II. Die Revision ist begründet. Sie führt zur Aufhebung des angefochtenen Urteils und zur Abweisung der Klage (§ 126 Abs. 3 Satz 1 Nr. 1 der Finanzgerichtsordnung --FGO--). Das FG hat zu Unrecht entschieden, dass der Anspruch auf Kindergeld für V dem Kläger zusteht. Der Kläger ist zwar nach nationalem Recht (§ 62 EStG) anspruchsberechtigt (dazu 1.). Der Kindsmutter steht aber nach § 64 Abs. 2 Satz 1 EStG ein vorrangiger Kindergeldanspruch zu (dazu 2. bis 6.).

101. Nach den für den Senat bindenden tatsächlichen Feststellungen des FG (vgl. § 118 Abs. 2 FGO) erfüllt der Kläger --was zwischen den Beteiligten nicht streitig ist-- die Anspruchsvoraussetzungen nach § 62 Abs. 1 Nr. 1 i.V.m. § 63 Abs. 1 Satz 1 Nr. 1, Satz 2, § 32 Abs. 1 Nr. 1, Abs. 3 EStG. Unerheblich ist, dass V ihren Wohnsitz in Polen hat (§ 63 Abs. 1 Satz 3 EStG).

112. Allerdings ist die Kindsmutter --entgegen der Rechtsauffassung des FG-- nach § 64 Abs. 2 Satz 1 EStG vorrangig anspruchsberechtigt. Denn gemäß Art. 67 der Verordnung (EG) Nr. 883/2004 des Europäischen Parlaments und des Rates vom zur Koordinierung der Systeme der sozialen Sicherheit (Amtsblatt der Europäischen Union --ABlEU-- 2004 Nr. L 166, S. 1) in der für den Streitzeitraum maßgeblichen Fassung --VO Nr. 883/2004 (Grundverordnung)-- i.V.m. Art. 60 Abs. 1 Satz 2 der Verordnung (EG) Nr. 987/2009 des Europäischen Parlaments und des Rates vom zur Festlegung der Modalitäten für die Durchführung der Verordnung (EG) Nr. 883/2004 über die Koordinierung der Systeme der sozialen Sicherheit (ABlEU 2009 Nr. L 284, S. 1) in der für den Streitzeitraum maßgeblichen Fassung --VO Nr. 987/2009 (Durchführungsverordnung)-- ist zu unterstellen, dass sie mit V in Deutschland wohnt.

12a) Nach § 64 Abs. 1 EStG wird für jedes Kind nur einem Berechtigten Kindergeld gezahlt. Bei mehreren Berechtigten wird das Kindergeld demjenigen gezahlt, der das Kind in seinen Haushalt aufgenommen hat (§ 64 Abs. 2 Satz 1 EStG).

13b) Im Streitfall ergibt sich die Anspruchsberechtigung der Kindsmutter aus § 62 Abs. 1 Nr. 1 EStG. Zwar liegt der nach dieser Vorschrift erforderliche Inlandswohnsitz tatsächlich nicht vor. Es finden jedoch die Vorschriften der VO Nr. 883/2004 und der VO Nr. 987/2009 Anwendung. Dadurch wird gemäß Art. 67 der VO Nr. 883/2004 i.V.m. Art. 60 Abs. 1 Satz 2 der VO Nr. 987/2009 ein Inlandswohnsitz der Kindsmutter fingiert. Zudem erfüllt die Kindsmutter auch die übrigen Voraussetzungen für eine vorrangige Anspruchsberechtigung.

143. Der Anwendungsbereich der VO Nr. 883/2004 ist im Streitfall eröffnet und Deutschland ist danach der zuständige Mitgliedstaat.

15a) Der Kläger ist deutscher Staatsangehöriger und fällt damit nach Art. 2 Abs. 1 der VO Nr. 883/2004 in den persönlichen Anwendungsbereich der Grundverordnung. Ebenso ist das Kindergeld nach dem EStG eine Familienleistung i.S. des Art. 1 Buchst. z der VO Nr. 883/2004, weshalb auch deren sachlicher Anwendungsbereich nach Art. 3 Abs. 1 Buchst. j der VO Nr. 883/2004 eröffnet ist.

16b) Gemäß Art. 11 Abs. 1 der VO Nr. 883/2004 unterliegen die von der Verordnung erfassten Personen den Rechtsvorschriften nur eines Mitgliedstaats. Im Streitfall ergibt sich die Anwendung der deutschen Rechtsvorschriften jedenfalls aus Art. 11 Abs. 3 Buchst. e der VO Nr. 883/2004.

174. Aus Art. 67 Satz 1 der VO Nr. 883/2004 i.V.m. Art. 60 Abs. 1 Satz 2 der VO Nr. 987/2009 folgt, dass die Wohnsituation der Kindsmutter (fiktiv) in das Inland übertragen wird. Zur Vermeidung von Wiederholungen wird auf die Entscheidungsgründe in dem Senatsurteil vom III R 68/13 (BFHE 254, 20, BStBl II 2016, 776, Rz 19 ff.) Bezug genommen.

185. Die Kindsmutter erfüllt neben dem Wohnsitzerfordernis auch die übrigen Voraussetzungen für einen vorrangigen Kindergeldanspruch.

19a) Anhaltspunkte dafür, dass die Kindsmutter eine nicht freizügigkeitsberechtigte Ausländerin i.S. des § 62 Abs. 2 EStG ist, hat das FG nicht festgestellt.

20b) Anders als der Kläger meint, beträfe eine etwaige Vereinbarung der Eltern über die Geltendmachung des Kindergeldanspruchs auch nicht die tatsächliche (vorrangige) Anspruchsberechtigung der Kindsmutter (vgl. z.B. Senatsbeschluss vom III B 176/11, BFH/NV 2012, 1304, Rz 13, m.w.N.).

21c) Ein vorrangiger Anspruch des Klägers ergibt sich auch nicht aus § 64 Abs. 2 Satz 2 EStG; denn diese Bestimmung setzt einen gemeinsamen Haushalt zwischen dem Kläger und der Kindsmutter voraus. Nach den Feststellungen des FG unterhielten der Kläger und die Kindsmutter jedoch keinen gemeinsamen Haushalt. Ein gemeinsamer Haushalt kann sich auch nicht aus der Fiktionswirkung des Art. 60 Abs. 1 Satz 2 der VO Nr. 987/2009 ergeben. Demnach ist im Streitfall der Anspruch der Kindsmutter nach § 64 Abs. 2 Satz 1 EStG vorrangig, da nur bei dieser, nicht dagegen beim Kläger eine Haushaltsaufnahme der V vorliegt.

226. Schließlich kommt es nicht darauf an, ob die Kindsmutter selbst einen Antrag auf Kindergeld in Deutschland gestellt hat. Vielmehr hätte die deutsche Familienkasse einen Antrag des Klägers auf Kindergeld auch als solchen zugunsten des Kindergeldanspruchs der Kindsmutter zu berücksichtigen. Zur Vermeidung von Wiederholungen wird auf die Entscheidungsgründe in dem Senatsurteil in BFHE 254, 20, BStBl II 2016, 776, Rz 27 f. Bezug genommen.

237. Die Kostenentscheidung beruht auf § 135 Abs. 1 FGO.

Auf diese Entscheidung wird Bezug genommen in folgenden Gerichtsentscheidungen:

ECLI Nummer:
ECLI:DE:BFH:2016:U.261016.IIIR27.13.0

Fundstelle(n):
BFH/NV 2017 S. 299 Nr. 3
DAAAF-90187