EuGH Urteil v. - C-178/15

Verfall von Urlaubsansprüchen

Leitsatz

Art. 7 Abs. 1 der Richtlinie 2003/88/EG des Europäischen Parlaments und des Rates vom über bestimmte Aspekte der Arbeitszeitgestaltung ist dahin auszulegen, dass er einer innerstaatlichen Regelung oder Praxis wie der im Ausgangsverfahren in Rede stehenden, wonach einem Arbeitnehmer, der sich während des Zeitraums, der im Urlaubskalender der ihn beschäftigenden Einrichtung für den Jahresurlaub festgelegt ist, in einem gemäß dem innerstaatlichen Recht gewährten Genesungsurlaub befindet, nach dessen Ende das Recht verweigert werden kann, seinen bezahlten Jahresurlaub in einem späteren Zeitraum in Anspruch zu nehmen, entgegensteht, sofern, was vom nationalen Gericht zu beurteilen ist, mit dem Anspruch auf Genesungsurlaub ein anderer Zweck verfolgt wird als mit dem Anspruch auf Jahresurlaub.

Instanzenzug: Sąd Rejonowy dla Wrocławia-Śródmieścia we Wrocławiu X Wydział Pracy i Ubezpieczeń Społecznych (Rayongericht Breslau-Mitte in Breslau, X. Abteilung für Arbeits- und Sozialversicherungssachen, Polen)

Gründe

Zur Vorlagefrage

Mit seiner Frage möchte das vorlegende Gericht im Wesentlichen wissen, ob Art. 7 der Richtlinie 2003/88 dahin auszulegen ist, dass er einer innerstaatlichen Regelung oder Praxis wie der im Ausgangsverfahren in Rede stehenden entgegensteht, wonach einem Arbeitnehmer, der sich während des Zeitraums, der im Urlaubskalender der ihn beschäftigenden Einrichtung für den Jahresurlaub festgelegt ist, in einem gemäß dem innerstaatlichen Recht gewährten Genesungsurlaub befindet, nach dessen Ende das Recht verweigert werden kann, seinen Jahresurlaub in einem späteren Zeitraum in Anspruch zu nehmen.

Insoweit ist erstens darauf hinzuweisen, dass jeder Arbeitnehmer, wie sich bereits aus dem Wortlaut von Art. 7 Abs. 1 der Richtlinie 2003/88 ergibt - einer Bestimmung, von der diese Richtlinie keine Abweichung zulässt -, Anspruch auf einen bezahlten Mindestjahresurlaub von vier Wochen hat. Dieser Anspruch auf bezahlten Jahresurlaub ist als ein besonders bedeutsamer Grundsatz des Sozialrechts der Union anzusehen, dessen Umsetzung durch die zuständigen nationalen Stellen nur in den Grenzen erfolgen kann, die in der Richtlinie 2003/88 selbst ausdrücklich vorgesehen sind (Urteil vom , Vicente Pereda, C-277/08, EU:C:2009:542, Rn. 18 und die dort angeführte Rechtsprechung).

Zweitens ist festzustellen, dass dem Anspruch auf bezahlten Jahresurlaub als Grundsatz des Sozialrechts der Union nicht nur besondere Bedeutung zukommt, sondern dass er auch in Art. 31 Abs. 2 der Charta der Grundrechte der Europäischen Union, der von Art. 6 Abs. 1 EUV der gleiche rechtliche Rang wie den Verträgen zuerkannt wird, ausdrücklich verankert ist (Urteile vom , KHS, C-214/10, EU:C:2011:761, Rn. 37, und vom , Neidel, C-337/10, EU:C:2012:263, Rn. 40).

Drittens darf der Anspruch auf bezahlten Jahresurlaub nicht restriktiv ausgelegt werden (vgl. Urteil vom , Zentralbetriebsrat der Landeskrankenhäuser Tirols, C-486/08, EU:C:2010:215, Rn. 29).

Weiter hat der Gerichtshof bereits entschieden, dass Art. 7 Abs. 1 der Richtlinie 2003/88 einer nationalen Regelung, die für die Wahrnehmung des mit dieser Richtlinie ausdrücklich verliehenen Anspruchs auf bezahlten Jahresurlaub Modalitäten vorsieht, die sogar den Verlust dieses Anspruchs am Ende eines Bezugszeitraums beinhalten, grundsätzlich nicht entgegensteht, was jedoch unter der Bedingung steht, dass der Arbeitnehmer, dessen Anspruch auf bezahlten Jahresurlaub erloschen ist, tatsächlich die Möglichkeit hatte, diesen Anspruch wahrzunehmen (Urteil vom , Vicente Pereda, C-277/08, EU:C:2009:542, Rn. 19 und die dort angeführte Rechtsprechung).

Aus der Rechtsprechung des Gerichtshofs geht auch hervor, dass der Anspruch auf bezahlten Jahresurlaub es dem Arbeitnehmer ermöglichen soll, sich zu erholen und über einen Zeitraum für Entspannung und Freizeit zu verfügen (vgl. Urteil vom , Schultz-Hoff u. a., C-350/06 und C-520/06, EU:C:2009:18, Rn. 25).

Der Gerichtshof hat daraus abgeleitet, dass im Fall des Überlappens eines Jahresurlaubs und eines Krankheitsurlaubs Art. 7 Abs. 1 der Richtlinie 2003/88 dahin auszulegen ist, dass er einzelstaatlichen Bestimmungen oder Gepflogenheiten entgegensteht, nach denen der Anspruch auf bezahlten Jahresurlaub mit Ablauf des Bezugszeitraums und/oder eines im nationalen Recht festgelegten Übertragungszeitraums erlischt, wenn sich der Arbeitnehmer während des gesamten Bezugszeitraums oder eines Teils davon im Krankheitsurlaub befand und es ihm deshalb tatsächlich nicht möglich war, diesen Anspruch wahrzunehmen (vgl. insbesondere Urteile vom , Schultz-Hoff u. a., C-350/06 und C-520/06, EU:C:2009:18, Rn. 49, und vom , Vicente Pereda, C-277/08, EU:C:2009:542, Rn. 19).

Der Zweck des Anspruchs auf bezahlten Jahresurlaub, der darin liegt, es dem Arbeitnehmer zu ermöglichen, sich zu erholen und über einen Zeitraum für Entspannung und Freizeit zu verfügen, weicht nämlich vom Zweck des Anspruchs auf Krankheitsurlaub ab, der dem Arbeitnehmer die Genesung von einer Krankheit ermöglichen soll (vgl. in diesem Sinne Urteil vom , ANGED, C-78/11, EU:C:2012:372, Rn. 19 und die dort angeführte Rechtsprechung).

In Anbetracht dieser unterschiedlichen Zwecke der beiden Urlaubsarten ist der Gerichtshof zu dem Ergebnis gelangt, dass ein Arbeitnehmer, der sich während eines im Voraus festgelegten bezahlten Jahresurlaubs im Krankheitsurlaub befindet, berechtigt ist, den Jahresurlaub auf seinen Antrag zu einer anderen als der mit dem Krankheitsurlaub zusammenfallenden Zeit zu nehmen, damit er ihn tatsächlich in Anspruch nehmen kann (vgl. Urteile vom , Vicente Pereda, C-277/08, EU:C:2009:542, Rn. 22, und vom , ANGED, C-78/11, EU:C:2012:372, Rn. 20).

Diese Erwägungen, die sich vollständig auf eine Situation wie die im Ausgangsverfahren in Rede stehende übertragen lassen, in der ein Genesungsurlaub einen im Voraus festgelegten Jahresurlaub überlagert, bilden den Hintergrund für die Prüfung, ob diese Überlagerung unter Berücksichtigung des gegebenenfalls unterschiedlichen Zwecks der beiden fraglichen Urlaubsarten dem entgegenstehen kann, dass der vom Arbeitnehmer erworbene Jahresurlaub zu einem späteren Zeitpunkt genommen wird.

Insoweit kommt die Entscheidung, ob sich der Zweck des Genesungsurlaubs von dem des in Art. 7 der Richtlinie 2003/88 definierten bezahlten Jahresurlaubs in seiner Auslegung durch den Gerichtshof unterscheidet, zwar letztlich dem nationalen Gericht zu, das für die Auslegung des innerstaatlichen Rechts die alleinige Zuständigkeit hat, doch der Gerichtshof, der dazu aufgerufen ist, dem nationalen Gericht eine Antwort zu geben, die im Hinblick auf die Entscheidung des bei diesem anhängigen Rechtsstreits nützlich ist, kann dem nationalen Gericht zu diesem Zweck Hinweise geben, die er aus sämtlichen von diesem gegebenen Anhaltspunkten und insbesondere der Begründung der Vorlageentscheidung ableitet.

Zum Zweck des Anspruchs auf Genesungsurlaub, wie er vom polnischen Recht vorgesehen ist, ist darauf hinzuweisen, dass es in Art. 73 Abs. 1 des Lehrerstatuts heißt, dass dieser Urlaub für eine zusammenhängend bewilligte Dauer von höchstens einem Jahr gewährt wird, „um sich einer ärztlich verschriebenen Behandlung zu unterziehen“. Nach Abs. 10 desselben Artikels ist es der behandelnde Vertragsarzt des Lehrers, der über die „Notwendigkeit eines Genesungsurlaubs zur Durchführung einer verschriebenen Behandlung“ entscheidet. Außerdem sieht Art. 73 Abs. 6 dieses Statuts vor, dass sich der Lehrer zwei Wochen vor Ende des Genesungsurlaubs Kontrolluntersuchungen zwecks der Feststellung unterziehen muss, ob nichts gegen die Wiederaufnahme seiner Tätigkeit spricht.

Wie das vorlegende Gericht in seinem Vorabentscheidungsersuchen selbst festgestellt hat, sind diese Gesichtspunkte aber dazu angetan, es plausibel erscheinen zu lassen, dass der Genesungsurlaub, wie er im Ausgangsverfahren in Rede steht, die Verbesserung des Gesundheitszustands der Arbeitnehmer, denen er verschrieben wird, bezweckt und diesen anders als der in Art. 7 Abs. 1 der Richtlinie 2003/88 vorgesehene bezahlte Jahresurlaub keinen Zeitraum für Entspannung und Freizeit verschaffen soll, da sie sich einer ärztlich verschriebenen Behandlung unterziehen müssen.

Es ist vom vorlegenden Gericht im Licht dieser Hinweise sowie aller Einzelheiten, die auf nationaler Ebene die Gewährung des Rechts auf Genesungsurlaub regeln, zu beurteilen, ob sich der Zweck des letztgenannten Rechts von dem des in Art. 7 der Richtlinie 2003/88 definierten Rechts auf bezahlten Jahresurlaub in seiner Auslegung durch den Gerichtshof unterscheidet.

Sollte das vorlegende Gericht einen solchen Unterschied bejahen, muss die nationale Regelung die Pflicht für den Arbeitgeber vorsehen, dem betroffenen Arbeitnehmer den Jahresurlaub in einem anderen, vom Arbeitnehmer vorgeschlagenen Zeitraum zu gewähren, der gegebenenfalls mit zwingenden Gründen des Arbeitgeberinteresses vereinbar ist, ohne von vornherein auszuschließen, dass sich dieser Zeitraum außerhalb des Bezugszeitraums für den fraglichen Jahresurlaub befindet (vgl. in diesem Sinne Urteil vom , Vicente Pereda, C-277/08, EU:C:2009:542, Rn. 22 und 23).

Wie sich nämlich aus der Rechtsprechung des Gerichtshofs ergibt, entfaltet sich die positive Wirkung des bezahlten Jahresurlaubs für die Sicherheit und die Gesundheit des Arbeitnehmers zwar dann vollständig, wenn der Urlaub in dem hierfür vorgesehenen, also dem laufenden Jahr genommen wird, doch verliert diese Ruhezeit ihre Bedeutung insoweit nicht, wenn sie in einem späteren Zeitraum genommen wird (vgl. Urteile vom , Federatie Nederlandse Vakbeweging, C-124/05, EU:C:2006:244, Rn. 30, und vom , Schultz-Hoff u. a., C-350/06 und C-520/06, EU:C:2009:18, Rn. 30).

Nach alledem ist auf die Vorlagefrage zu antworten, dass Art. 7 Abs. 1 der Richtlinie 2003/88 dahin auszulegen ist, dass er einer innerstaatlichen Regelung oder Praxis wie der im Ausgangsverfahren in Rede stehenden, wonach einem Arbeitnehmer, der sich während des Zeitraums, der im Urlaubskalender der ihn beschäftigenden Einrichtung für den Jahresurlaub festgelegt ist, in einem gemäß dem innerstaatlichen Recht gewährten Genesungsurlaub befindet, nach dessen Ende das Recht verweigert werden kann, seinen bezahlten Jahresurlaub in einem späteren Zeitraum in Anspruch zu nehmen, entgegensteht, sofern, was vom nationalen Gericht zu beurteilen ist, mit dem Anspruch auf Genesungsurlaub ein anderer Zweck verfolgt wird als mit dem Anspruch auf Jahresurlaub.

Kosten

Für die Parteien des Ausgangsverfahrens ist das Verfahren ein Zwischenstreit in dem beim vorlegenden Gericht anhängigen Rechtsstreit; die Kostenentscheidung ist daher Sache dieses Gerichts. Die Auslagen anderer Beteiligter für die Abgabe von Erklärungen vor dem Gerichtshof sind nicht erstattungsfähig.

Aus diesen Gründen hat der Gerichtshof (Zehnte Kammer) für Recht erkannt:

Art. 7 Abs. 1 der Richtlinie 2003/88/EG des Europäischen Parlaments und des Rates vom über bestimmte Aspekte der Arbeitszeitgestaltung ist dahin auszulegen, dass er einer innerstaatlichen Regelung oder Praxis wie der im Ausgangsverfahren in Rede stehenden, wonach einem Arbeitnehmer, der sich während des Zeitraums, der im Urlaubskalender der ihn beschäftigenden Einrichtung für den Jahresurlaub festgelegt ist, in einem gemäß dem innerstaatlichen Recht gewährten Genesungsurlaub befindet, nach dessen Ende das Recht verweigert werden kann, seinen bezahlten Jahresurlaub in einem späteren Zeitraum in Anspruch zu nehmen, entgegensteht, sofern, was vom nationalen Gericht zu beurteilen ist, mit dem Anspruch auf Genesungsurlaub ein anderer Zweck verfolgt wird als mit dem Anspruch auf Jahresurlaub.

ECLI Nummer:
ECLI:EU:C:2016:502

Fundstelle(n):
AAAAF-89463