Haftung des an einer Bau-GmbH der Lebensgefährtin (spätere Ehefrau) nicht beteiligten Steuerpflichtigen als Verfügungsberechtigter
nach § 35 AO durch Abschluss einer Vielzahl von Verträgen für die GmbH aufgrund mündlicher Bevollmächtigung durch die Geschäftsführerin
Indizien für Scheinrechnungen von Subunternehmern in der Baubranche zur Abdeckung von Schwarzlohnzahlungen
Lohnsteuer auf Schwarzlohnzahlungen in der Baubranche
Richterwechsel zwischen mehreren Verhandlungen
Leitsatz
1. Verfügungsberechtigter i. S. d. § 35 AO ist jeder, der rechtlich und wirtschaftlich über Mittel, die einem anderen zuzurechnen
sind, verfügen kann und als Verfügungsberechtigter auftritt. Unter rechtlicher Verfügungsbefugnis ist die Fähigkeit zu verstehen,
im Außenverhältnis wirksam zu handeln, d. h. die bürgerlich-rechtliche Verfügungsmacht, wobei es hinsichtlich des zu fordernden
Auftretens nach außen ausreicht, dass der Verfügungsberechtigte gegenüber irgendjemanden – auch nur gegenüber einer begrenzten
Öffentlichkeit – auftritt.
2. Der selbst an einer GmbH, bei der seine Lebensgefährtin und spätere Ehefrau zunächst als Mehrheitsgesellschafterin, später
als Alleingesellschafterin zur alleinigen Geschäftsführerin bestellt ist, nicht beteiligte Steuerpflichtige ist für die GmbH
i.S. d. § 35 AO verfügungsberechtigt und kommt folglich gemäß § 69 i. V. m. § 35 AO als Haftungsschuldner für Steuerverbindlichkeiten
der GmbH in Betracht, wenn er in einer Vielzahl von Fällen mittels mündlicher Bevollmächtigung seitens seiner früheren Lebensgefährtin
bzw. jetzigen Ehefrau wirtschaftlich bedeutsame Verträge mit bindender Wirkung für die GmbH abgeschlossen hat, die typischerweise
in die Kompetenz eines GmbH-Geschäftsführers fallen (z. B. Abschluss von Bauverträgen im Namen der in der Baubranche tätigen
GmbH). Insoweit ist es unerheblich, ob der Steuerpflichtige zusätzlich auch noch Kontovollmacht hinsichtlich eines oder mehrerer
Geschäftskonten der GmbH innegehabt bzw. von dieser Vollmacht ggf. Gebrauch gemacht hat, und ob er darüber hinaus auch gegenüber
den für die Arbeitnehmer der GmbH zuständigen gesetzlichen Krankenkassen sowie der Deutschen Rentenversicherung Bund als „faktischer
Geschäftsführer” der GmbH aufgetreten ist.
3. Zum Indizienbeweis für die Frage, ob mehrere Subunternehmer die der GmbH in Rechnung gestellten Bauleistungen in Millionenhöhe
tatsächlich erbracht haben oder ob es sich um Scheinrechnungen gehandelt hat „Abdeckrechnungen”) und ob die GmbH das durch
die Abdeckrechnungen verschleierte Kapital für Schwarzlohnzahlungen an eigene Arbeitnehmer verwendet hat.
4. Wenn die sog. Mindestlohnquote in der Baubranche 66,67 Prozent des Umsatzes beträgt, die GmbH selbst aber nach ihren eigenen
Angaben in ihren Lohnsteueranmeldungen nur Löhne in Höhe von weniger als zehn Prozent ihres Umsatzes gezahlt hat, obwohl sie
ihrerseits als Subunternehmerin tätig war und nahezu das gesamte Baumaterial vom Auftraggeber gestellt worden ist, muss es
nicht in den Lohnsteueranmeldungen erklärte, von der GmbH „schwarz” vergütete Arbeitsleistungen gegeben haben.
5. Es entspricht allgemeinen Gepflogenheiten im illegalen Bereich der Baubranche, dass Abdeckrechnungen in erster Linie dazu
genutzt werden, um buchhalterisch Schwarzgeld zu generieren, welches dann wiederum zum Einsatz von eigenen Arbeitnehmern als
Schwarzarbeiter (deren Aufwand naturgemäß keinen Eingang in die Finanzbuchhaltung finden kann) genutzt wird. Die Abdeckrechnungen
erteilenden Serviceunternehmen besitzen dabei typischerweise das rechtliche Gerüst einer offiziell am Markt agierenden Firma
(Gewerbeanmeldung, Handelsregistereintrag, Unbedenklichkeitsbescheinigung etc.), sind tatsächlich jedoch – oft – wirtschaftlich
inaktiv.
6. Beim lohnintensiven Baugewerbe ist bei illegalen Beschäftigungsverhältnissen in Form von Schwarzarbeit davon auszugehen,
dass grundsätzlich zwei Drittel des Nettoumsatzes als Lohnsumme – und zwar als Nettolohnsumme – zu veranschlagen sind (Anschluss
an ).
7. Muss infolge „Schwarzlohnzahlungen” der Arbeitslohn geschätzt werden, ist auf die Arbeitslöhne die Lohnsteuerklasse VI
anwendbar.
8. Bei mündlicher Verhandlung an mehreren Sitzungstagen ist ein Richterwechsel nach Beweisaufnahme und Vertagung unschädlich,
wenn sich die neue Richterbank anhand der Akten über das Ergebnis der Beweisaufnahme unterrichten kann; entscheidend ist,
dass die Zeugenaussagen vom Gericht vollständig protokolliert worden sind.
Auf diese Entscheidung wird Bezug genommen in folgenden Gerichtsentscheidungen:
Fundstelle(n): DStR 2017 S. 11 Nr. 23 EFG 2017 S. 13 Nr. 1 WAAAF-88611
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Online-Dokument
FG Berlin-Brandenburg, Urteil v. 06.07.2016 - 9 K 9267/12
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