BFH Beschluss v. - VI B 115/15

Entscheidung ohne mündliche Verhandlung und Verletzung des rechtlichen Gehörs

Leitsatz

Verbindet der Steuerpflichtige seine Erklärung, er verzichte auf eine mündliche Verhandlung, mit der Einschränkung, dies gelte nicht für den Fall, dass der Senat den Rechtsstreit einem seiner Mitglieder als Einzelrichter übertrage, verletzt das FG den Anspruch des Steuerpflichtigen auf rechtliches Gehör, wenn es trotz Einzelrichterübertragung ohne mündliche Verhandlung entscheidet .

Gesetze: Art 103 Abs 1 GG, § 6 FGO, § 90 Abs 2 FGO, § 96 Abs 2 FGO, § 115 Abs 2 Nr 3 FGO, § 119 Nr 3 FGO, § 119 Nr 4 FGO

Instanzenzug: Az: 11 K 1575/15 Urteilnachgehend Az: 11 K 2059/16 Beschluss

Gründe

1Die Beschwerde der Kläger und Beschwerdeführer (Kläger) ist zulässig und nach § 115 Abs. 2 Nr. 3 der Finanzgerichtsordnung (FGO) begründet. Sie führt zur Aufhebung des angefochtenen Urteils und zur Zurückverweisung der Sache zur erneuten Verhandlung und Entscheidung an das Finanzgericht --FG-- (§ 116 Abs. 6 FGO).

21. Die angegriffene Entscheidung verletzt den Anspruch der Kläger auf rechtliches Gehör (Art. 103 Abs. 1 des Grundgesetzes --GG--, § 96 Abs. 2 FGO) und stellt eine Rechtsverletzung i.S. von § 119 Nr. 3 und Nr. 4 FGO dar. Das FG hätte nicht ohne mündliche Verhandlung entscheiden dürfen, weil die Kläger nicht ihr Einverständnis mit einer Entscheidung ohne mündliche Verhandlung durch die Einzelrichterin erklärt hatten (§ 90 Abs. 2 FGO).

3a) Nach ständiger Rechtsprechung des Bundesfinanzhofs (BFH) ist ein Verfahrensmangel i.S. der vorgenannten Vorschrift u.a. dann anzunehmen, wenn die Voraussetzungen für eine Entscheidung des FG ohne mündliche Verhandlung nach § 90 Abs. 1 und Abs. 2 FGO nicht gegeben sind (vgl. , BFH/NV 1993, 372; vom X R 39/93, BFHE 178, 301, BStBl II 1995, 842, und vom VIII R 36/08, BFHE 231, 1, BStBl II 2011, 126; jeweils m.w.N.). Das Fehlen dieser Voraussetzungen haben die Kläger im Streitfall zu Recht geltend gemacht.

4b) Das FG konnte im Zeitpunkt seiner Entscheidung auf der Grundlage der Erklärung vom nicht von einem Verzicht der Kläger auf mündliche Verhandlung ausgehen. Die Kläger hatten unstreitig schriftlich den Verzicht auf mündliche Verhandlung für den Fall ausgeschlossen, dass der Senat den Rechtsstreit einem seiner Mitglieder als Einzelrichter zur Entscheidung überträgt. Dennoch hat das den Rechtsstreit auf die Einzelrichterin übertragen und am ohne mündliche Verhandlung durch Urteil entschieden.

5Ein Beteiligter kann sein Einverständnis mit einer Entscheidung ohne mündliche Verhandlung grundsätzlich gegenständlich beschränken, z.B. indem er den Verzicht auf mündliche Verhandlung auf eine Entscheidung durch den Vorsitzenden bzw. den Berichterstatter anstelle des Senats oder aber allein auf eine Entscheidung durch den Senat beschränkt (vgl. Schallmoser in Hübschmann/Hepp/Spitaler, § 90 FGO Rz 46, 72). Nach Auffassung des erkennenden Senats bezieht sich jedoch selbst ein vor der Übertragung des Rechtsstreits auf den Einzelrichter vorbehaltlos erklärtes Einverständnis mit einer Entscheidung ohne mündliche Verhandlung nur auf die Entscheidung durch den Senat, es sei denn, das Einverständnis ist ausdrücklich auch für den Fall der Entscheidung durch den Einzelrichter erklärt worden (Senatsurteil vom VI R 37/96, BFHE 181, 115, BStBl II 1997, 77).

6Diese einschränkende Auslegung der Verzichtserklärung und die Beschränkung ihrer Wirkung bis zur nächsten eine Sachentscheidung vorbereitenden Entscheidung des FG ist aufgrund der besonderen Interessenlage der Beteiligten geboten (vgl. BFH-Urteile in BFHE 181, 115, BStBl II 1997, 77, und in BFHE 231, 1, BStBl II 2011, 126). Denn der Verzicht hat für die Beteiligten weitreichende Folgen, weil er als Prozesshandlung nicht wegen Irrtums anfechtbar und auch nicht frei widerrufbar ist (vgl. , BFHE 90, 82, BStBl III 1967, 794; vom IV R 131/69, BFHE 101, 61, BStBl II 1971, 241; vom V R 161/72, BFHE 112, 316, BStBl II 1974, 532; , BFH/NV 1991, 402; für eine Zulässigkeit des Widerrufs bei wesentlicher Änderung der Prozesslage: , BFHE 160, 405, BStBl II 1990, 744).

7Ist eine Verzichtserklärung nach den vorstehenden Maßstäben wirkungslos (geworden), ist eine gleichwohl ohne mündliche Verhandlung ergehende Entscheidung zugleich wegen eines Mangels der Vertretung verfahrensfehlerhaft i.S. des § 119 Nr. 4 FGO (BFH-Urteil in BFHE 231, 1, BStBl II 2011, 126, m.w.N.; Senatsbeschluss vom VI B 147/10, BFHE 232, 322, BStBl II 2011, 556).

82. Aufgrund der Verletzung des Anspruchs auf rechtliches Gehör (Art. 103 Abs. 1 GG, § 96 Abs. 2 FGO) und des gleichzeitig vorliegenden Mangels der Vertretung ist das angefochtene Urteil aufzuheben und die Sache an das FG zurückzuverweisen. Der Verfahrensfehler ist ein absoluter Revisionsgrund, bei dem gemäß § 119 Nr. 3, Nr. 4 FGO davon auszugehen ist, dass das angefochtene Urteil auf der Verletzung von Bundesrecht beruht. Eine Sachentscheidung ist dem erkennenden Senat verwehrt (s. Senatsbeschlüsse vom VI B 15/15, nicht veröffentlicht, und in BFHE 232, 322, BStBl II 2011, 556, m.w.N.).

93. Von einer Darstellung des Sachverhalts und einer weiteren Begründung sieht der Senat nach § 116 Abs. 5 Satz 2 Halbsatz 2 FGO ab.

104. Die Übertragung der Kostenentscheidung beruht auf § 143 Abs. 2 FGO.

Fundstelle(n):
BFH/NV 2016 S. 1482 Nr. 10
MAAAF-80036