Online-Nachricht - Mittwoch, 15.08.2012

Verfahrensrecht | Zur Verfahrensruhe wegen Beschwerde beim EGMR (BFH)

Selbst wenn ein vor dem EGMR anhängiges Beschwerdeverfahren dem Grunde nach in erweiternder Auslegung von § 363 Abs. 2 Satz 2 Halbsatz 1 AO geeignet sein könnte, die Verfahrensruhe zu begründen, hätte dieser Verfahrensruhe im Streitfall die vorläufige Festsetzung nach § 165 Abs. 1 Satz 2 Nr. 3 AO entgegengestanden (, NV; veröffentlicht am ).

Sachverhalt: Der Beschwerdeführer hatte Aufwendungen für Krankenversicherungen als Sonderausgaben geltend gemacht. Das Finanzamt ließ lediglich einen begrenzten Sonderausgabenabzug zu, erklärte allerdings die Festsetzung gemäß § 165 Abs. 1 Satz 2 Nrn. 3 und 4 AO für vorläufig u.a. hinsichtlich der beschränkten Abziehbarkeit von Vorsorgeaufwendungen (§ 10 Abs. 3, 4, 4a EStG). Im Einspruchsverfahren berief sich der Kläger auf das beim EGMR unter 2795/10 anhängige Beschwerdeverfahren gegen den , mit dem das BVerfG die Fortgeltung der dem Grunde nach für verfassungswidrig erachteten Vorschriften zum Sonderausgabenabzug (§ 10 Abs. 1 Nr. 3 Buchst. a i.V.m. § 10 Abs. 4 EStG) bis zum angeordnet hatte. Das Einspruchsverfahren war daher nach seiner Auffassung zum Ruhen zu bringen.

Hierzu führte der BFH u.a. aus: Soweit der Kläger die Grundsatzfrage aufwirft, ob ein vor dem EGMR anhängiges Beschwerdeverfahren ein laufendes Verfahren nach § 363 Abs. 2 Satz 2 AO zum Ruhen bringe, ist die Beschwerde mangels Klärungsfähigkeit der Frage unbegründet. Selbst wenn ein vor dem EGMR anhängiges Beschwerdeverfahren dem Grunde nach in erweiternder Auslegung von § 363 Abs. 2 Satz 2 Halbsatz 1 AO geeignet sein könnte, die Verfahrensruhe zu begründen, hätte dieser Verfahrensruhe im Streitfall gemäß § 363 Abs. 2 Satz 2 Halbsatz 2 AO die vorläufige Festsetzung nach § 165 Abs. 1 Satz 2 Nr. 3 AO entgegengestanden. Die von dem Kläger aufgeworfene Frage, ob die seitens des BVerfG angeordnete Fortgeltung des § 10 Abs. 3 bzw. Abs. 4 EStG gegen die EMRK verstößt, betrifft die Vereinbarkeit des (fortgeltenden) Rechts mit höherrangigem Recht. Sie ist damit eine Rechtsfrage, die grds. auch tauglicher Gegenstand einer vorläufigen Festsetzung nach § 165 Abs. 1 Satz 2 Nr. 3 AO sein kann.

Anmerkung: Während § 363 Abs. 2 Satz 2 Halbsatz 1 AO sich u.a. auf Verfahren bei dem "Europäischen Gerichtshof" (EuGH) bezieht, verweist § 165 Abs. 1 Satz 2 Nr. 3 AO auf Verfahren bei dem "Gerichtshof der Europäischen Gemeinschaften". Ungeachtet der unterschiedlichen Formulierungen, die auf den unterschiedlichen Bezeichnungen im Maastricht-Vertrag und im Vertrag von Lissabon beruhen, steht nach Auffassung des BFH fest, dass der EGMR vom Wortlaut beider Vorschriften nicht erfasst ist. Eine etwaige erweiternde Auslegung oder Analogie durch Ausdehnung auf Bezugsverfahren vor dem EGMR könnte nur für beide Vorschriften parallel in Betracht kommen. Sollte der EGMR dem in § 363 Abs. 2 Satz 2 Halbsatz 1 AO genannten EuGH gleichzustellen sein, so wäre er folglich auch dem in § 165 Abs. 1 Satz 2 Nr. 3 AO genannten Gerichtshof der Europäischen Gemeinschaften gleichzustellen. Die vorläufige Festsetzung umfasste im Streitfall dann genau die Rechtsfrage, die der Kläger beantwortet wissen möchte. Das bedeutete gleichzeitig aber auch, dass nach § 363 Abs. 2 Satz 2 Halbsatz 2 AO die Verfahrensruhe ausgeschlossen wäre, so der BFH in seinen Entscheidungsgründen.

Quelle: BFH online

 

Fundstelle(n):
NWB IAAAF-44458