Wiedereinsetzung nach Versäumung der Berufungsfrist: Hinweis- und Prüfungspflicht eines Beschwerdegerichts bei Zweifeln an der Glaubhaftmachung rechtzeitiger Absendung der Berufungsschrift durch anwaltliche Versicherung
Gesetze: § 85 Abs 2 ZPO, § 233 ZPO, § 234 ZPO, § 236 Abs 2 ZPO, § 511 ZPO, §§ 511ff ZPO, § 517 ZPO, Art 2 Abs 1 GG, Art 103 Abs 1 GG
Instanzenzug: OLG Celle Az: 14 U 101/13vorgehend LG Stade Az: 5 O 338/11
Gründe
I.
1Das klageabweisende Urteil des Landgerichts ist der Klägerin am zugestellt worden. Am hat ihr Prozessbevollmächtigter per Telefax Berufung eingelegt, sie sogleich begründet und Wiedereinsetzung in den vorigen Stand gegen die Versäumung der Berufungsfrist beantragt.
2Zur Begründung hat die Klägerin vorgetragen, ihr Prozessbevollmächtigter habe, was dieser anwaltlich versichert hat, am , einem Samstag, die Berufungsschrift, die das Datum trägt, gefertigt und am selben Tag mit ausreichend frankiertem Brief in den Postkasten am Marktplatz in S. eingeworfen. Am Montag, dem , habe er durch ein Telefonat mit einer Sachbearbeiterin des Berufungsgerichts erfahren, dass die Berufungsschrift dort nicht eingegangen sei.
3Das Berufungsgericht hat den Wiedereinsetzungsantrag zurückgewiesen und die Berufung der Klägerin als unzulässig verworfen, weil nicht hinreichend glaubhaft gemacht sei, dass die Fristversäumung nicht auf einem Verschulden ihres Prozessbevollmächtigten beruhe. Dagegen wendet sich die Klägerin mit der Rechtsbeschwerde.
II.
41. Die gemäß § 238 Abs. 2 Satz 1, § 522 Abs. 1 Satz 4, § 574 Abs. 1 Satz 1 Nr. 1 ZPO statthafte Rechtsbeschwerde ist zulässig, weil zur Sicherung einer einheitlichen Rechtsprechung eine Entscheidung des Rechtsbeschwerdegerichts erforderlich ist (§ 574 Abs. 2 Nr. 2 ZPO). Indem das Berufungsgericht der Klägerin zu Unrecht Wiedereinsetzung in den vorigen Stand gegen die Versäumung der Berufungsfrist verweigert hat, hat es das Verfahrensgrundrecht der Klägerin auf Gewährung wirkungsvollen Rechtsschutzes (Art. 2 Abs. 1 GG iVm dem Rechtsstaatsprinzip) und auf rechtliches Gehör (Art. 103 Abs. 1 GG) verletzt. Es hat zudem die nachstehend wiedergegebene Rechtsprechung des Bundesgerichtshofs nicht beachtet.
52. Die Rechtsbeschwerde ist begründet.
6a) Das Berufungsgericht hat zur Begründung seiner Entscheidung im Wesentlichen ausgeführt, die Klägerin habe, nachdem sie auf Bedenken gegen die Richtigkeit des vorgetragenen Geschehensablaufes hingewiesen worden sei, keine weiteren erläuternden Umstände zu dem nur in äußerster Knappheit in zwei Sätzen geschilderten Geschehensablauf vorgetragen. Obwohl die Beklagten ausdrücklich darauf hingewiesen hätten, dass der Prozessbevollmächtigte der Klägerin ausweislich der Eintragung im Fristenkalender am Tag vor der vermeintlichen Fertigung der Berufungsschrift Urlaub gehabt habe, habe er nicht erläutert, weshalb er am nächsten Tag, einem Samstag, im Büro gewesen sei. Weshalb der Rechtsmittelschriftsatz noch am Samstag erledigt worden sei, obwohl die Berufungsfrist erst über eine Woche später abgelaufen wäre, sei ebenfalls wenig nachvollziehbar. Keinesfalls erscheine es plausibel, dass der Prozessbevollmächtigte persönlich - ohne jeden Zeitdruck - zugleich auch das Fertigen der Abschriften und das Kuvertieren, Frankieren und Einliefern der Postsendung in einen ausweislich eines gängigen Routenplaners mehr als 500 Meter von seiner Kanzlei entfernten Postkasten ebenfalls selbst übernommen habe. Üblicherweise würden derartige Arbeiten im Geschäftsablauf einer Rechtsanwaltskanzlei den Fachangestellten überlassen. Es hätte mehr als nahegelegen, dass der Prozessbevollmächtigte der Klägerin - wenn er schon den Schriftsatz selbst im Computer erstellt und nicht diktiert hatte - jedenfalls die Ausfertigung der erforderlichen Abschriften und die Aufgabe zur Post am folgenden Montag von seinen Angestellten hätte erledigen lassen, wenn wie hier noch mehr als eine Woche Zeit dafür zur Verfügung gestanden habe. Eine inhaltliche Begründung für seine ungewöhnliche Verfahrensweise habe er trotz ausdrücklichen Bestreitens der Beklagten und entsprechenden Hinweises des Berufungssenats nicht gegeben.
7b) Dies hält rechtlicher Nachprüfung nicht stand. Das Berufungsgericht durfte der Klägerin aufgrund der bisherigen Feststellungen Wiedereinsetzung in den vorigen Stand gegen die Versäumung der Berufungsfrist nicht versagen.
8aa) Das Berufungsgericht ist zwar zutreffend davon ausgegangen, dass die Umstände, die die Klägerin vorgetragen hat, eine unverschuldete Fristversäumnis rechtfertigen würden. Denn wenn ein mit vollständiger und richtiger Anschrift versehenes, ausreichend frankiertes Schriftstück am in einen Postkasten eingeworfen wird, darf der Absender darauf vertrauen, dass es bis zum beim Berufungsgericht eingeht, ohne dass er dessen Eingang bei Gericht überwachen müsste (vgl. BVerfG, NJW 1992, 38; BGH, Beschlüsse vom - V ZB 187/12, juris Rn. 9; vom - VII ZB 19/14, NJW 2015, 2266 Rn. 14, jeweils mwN).
9bb) Soweit das Berufungsgericht der anwaltlichen Versicherung des Prozessbevollmächtigten der Klägerin keine hinreichende Glaubhaftmachung für die Absendung der Berufungsschrift am entnommen hat, hält dies den Angriffen der Rechtsbeschwerde hingegen nicht stand. Denn wenn das Berufungsgericht einer anwaltlichen Versicherung im Verfahren der Wiedereinsetzung keinen Glauben schenkt, muss es den Antragsteller darauf hinweisen und ihm Gelegenheit geben, entsprechenden Zeugenbeweis anzutreten (vgl. BGH, Beschlüsse vom - XII ZB 129/09, FamRZ 2010, 726 Rn. 10 und vom - VIII ZB 42/11, WuM 2012, 157 Rn. 8). Das Berufungsgericht hätte auch prüfen müssen, ob nicht bereits in der Vorlage der anwaltlichen Versicherung zugleich ein Beweisangebot auf Vernehmung des Prozessbevollmächtigten als Zeugen zu den darin genannten Tatsachen gelegen hat, weil in diesem Fall die Ablehnung der Wiedereinsetzung ohne vorherige Vernehmung des Zeugen auf eine unzulässige vorweggenommene Beweiswürdigung hinausgelaufen wäre (BGH, Beschlüsse vom - XII ZB 129/09, FamRZ 2010, 726 Rn. 11 und vom - VIII ZB 42/11, WuM 2012, 157 Rn. 8).
Galke Wellner Diederichsen
Stöhr von Pentz
Diese Entscheidung steht in Bezug zu
Fundstelle(n):
WM 2016 S. 895 Nr. 19
YAAAF-18712