Online-Nachricht - Dienstag, 05.07.2011

Investitionszulage | Gerichte müssen Zuordnung zu Wirtschaftszweigen prüfen (BVerfG)

Wird eine Investitionszulage mit der Begründung abgelehnt, dass der zu fördernde Betrieb keinem der vom Statistischen Bundesamt definierten Wirtschaftszweige zugeordnet werden kann, müssen die Finanzgerichte die Begründung der Statistikbehörden dafür grundsätzlich nachprüfen ().

Hintergrund: Das Investitionszulagengesetz regelt die Gewährung staatlicher Zuschüsse für förderungswürdig erachtete betriebliche Anschaffungen. Insbesondere das verarbeitende Gewerbe wird bzw. wurde bereits in den Vorgängerregelungen des Berlinhilfegesetzes von 1968 und in den nachfolgenden Investitionszulagengesetzen bei der Gewährung von Investitionszulagen berücksichtigt. Es entspricht der gefestigten Rechtsprechung der Finanzgerichte, dass die Zuordnung der Tätigkeit eines Betriebs zum verarbeitenden Gewerbe in aller Regel nach der von den Statistikbehörden erstellten Klassifikation der Wirtschaftszweige in der jeweiligen gültigen Fassung zu bestimmen ist. Erst mit dem Investitionszulagengesetz 2010 vom wurde erstmals ausdrücklich gesetzlich festgeschrieben, dass die Zuordnung eines Betriebs zu dem verarbeitenden Gewerbe nach der von dem Statistischen Bundesamt herausgegebenen Klassifikation der Wirtschaftszweige vorzunehmen ist.

Sachverhalt: Die Beschwerdeführerin ist ein Unternehmen mit Sitz in Sachsen und bearbeitet Altasphalte und Altbeton, wobei sie mit ihren Maschinen das von ihren Auftraggebern bereit gelegte Material zerkleinert. Für die Anschaffung diverser Fahrzeuge und Maschinen beantragte sie 2005 beim Finanzamt die Gewährung einer Investitionszulage. Auf ihre Anfrage teilte das Statistische Bundesamt mit näherer Begründung mit, dass ihr Betrieb nicht dem verarbeitenden Gewerbe zuzuordnen sei, woraufhin das Finanzamt die Gewährung einer Investitionszulage ablehnte. Das Landesfinanzgericht stellte dagegen auf die Klage der Beschwerdeführerin unter Aufhebung des Finanzamtsbescheides fest, dass die Tätigkeit der Beschwerdeführerin in Abweichung von der Einordnung des Statistischen Bundesamts dem verarbeitenden Gewerbe unterfalle; dessen Einstufung sei offenkundig unzutreffend. Der BFH hob das Urteil auf. Der Betrieb der Beschwerdeführerin sei nicht dem verarbeitenden Gewerbe zuzuordnen. Zur Auslegung des unbestimmten Rechtsbegriffs des verarbeitenden Gewerbes seien mangels gesetzlicher Begriffsbestimmung die vom Statistischen Bundesamt herausgegebenen Verzeichnisse der Wirtschaftszweige heranzuziehen. Halte das Statistische Landes- oder Bundesamt danach die Einordnung eines Betriebs in einen bestimmten Wirtschaftszweig für zutreffend, so sei diese Zuordnung nach ständiger Rechtsprechung des BFHs von den Finanzämtern in aller Regel bei der Entscheidung über die Gewährung der Investitionszulage zu übernehmen, soweit sie nicht zu einem offensichtlich falschen Ergebnis führe. Letzteres sei hier nicht der Fall. Das BVerfG hat das Urteil des BFHs aufgehoben und die Sache zur erneuten Entscheidung an ihn zurückverwiesen.

Dazu führt das BVerfG weiter aus: Das Urteil verletzt die Beschwerdeführerin dadurch in ihrem Grundrecht auf effektiven Rechtsschutz aus Art. 19 Abs. 4 Satz 1 GG, dass es die Versagung der begehrten Investitionszulage durch das Finanzamt nur eingeschränkt auf ihre Rechtmäßigkeit überprüft.

Aus dem Grundrecht auf effektiven Rechtsschutz folgt ein Anspruch des Bürgers auf eine möglichst wirksame gerichtliche Kontrolle des angegriffenen Hoheitsaktes. Die Gerichte sind verpflichtet, die angefochtenen Verwaltungsakte in rechtlicher und tatsächlicher Hinsicht vollständig nachzuprüfen. Dies gilt auch, wenn die angefochtene Verwaltungsentscheidung auf der Anwendung unbestimmter Rechtsbegriffe beruht. Deren Konkretisierung ist grundsätzlich Sache der Gerichte.

Der BFH schränkt in seinem Urteil die gerichtliche Kontrolle der Entscheidung des Finanzamts über die Ablehnung der Investitionszulage in zweifacher Hinsicht ein:

Zum einen sieht sich der BFH bei der Zuordnung des Unternehmens der Beschwerdeführerin zum verarbeitenden Gewerbe grundsätzlich an die Klassifikation der Wirtschaftszweige gebunden, die weder Gesetz noch Verordnung ist, sondern allein für statistische Zwecke durch eine Verwaltungsbehörde geschaffen wurde. Dies führt jedoch nicht zu einer Verletzung der Rechtsschutzgarantie.

Das Urteil des BFH verletzt jedoch die Beschwerdeführerin in ihrem Grundrecht auf effektiven Rechtsschutz, soweit es zum anderen die Stellungnahme des Statistischen Bundesamts, wonach die Tätigkeit der Beschwerdeführerin nicht zu dem verarbeitenden Gewerbe zählt, als grundsätzlich verbindlich erachtet und nur auf offensichtliche Fehler prüft. Dies schmälert den individuellen Rechtsschutz, weil die gebotene vollständige Prüfung der Verwaltungsentscheidung, hier der Entscheidung des Finanzamts, unterbleibt und stattdessen nur noch eine bloße Offensichtlichkeitskontrolle erfolgt. Damit wird dem Statistischen Bundesamt ein partielles behördliches Letztentscheidungsrecht eingeräumt.

Die auf eine Offensichtlichkeitskontrolle beschränkte Prüfung des BFH ist mit der Rechtsschutzgarantie des Art. 19 Abs. 4 Satz 1 GG nicht vereinbar, weil es bereits an der erforderlichen gesetzlichen Grundlage für diese Beschränkung fehlt. Weder im Investitionszulagengesetz 1999 noch in den Gesetzesmaterialien finden sich tragfähige Hinweise auf eine Finanzbehörden und Finanzgerichte bindende Einbeziehung der Statistikbehörden in die Investitionszulagenentscheidung oder auch nur auf ein insoweit dem Finanzamt selbst einzuräumendes Letztentscheidungsrecht. Die unzureichende gerichtliche Prüfung der Zuordnungsentscheidung des Statistischen Bundesamts und nachfolgend des Finanzamts durch den BFH wird auch nicht durch Rechtsschutzmöglichkeiten gegen die Stellungnahme des Statistischen Bundesamts selbst kompensiert.

Durch die Garantie effektiven Rechtsschutzes werden zwar Verfahrensstufungen mit gespaltener Rechtsschutzgewährung nicht ausgeschlossen. Die Stellungnahme des Statistischen Bundesamts ist jedoch weder ein selbständig angreifbarer Grundlagenbescheid in einem gestuften Verfahren noch musste sich die Beschwerdeführerin auf einen möglicherweise dagegen eröffneten verwaltungsgerichtlichen Rechtsschutz verweisen lassen weil die fachliche Stellungnahme der Statistikbehörde nicht gesetzlich in das Verfahren über die Gewährung einer Investitionszulage einbezogen ist.

Quelle: Bundesverfassungsgericht, Pressemitteilung 42/2011

 

Fundstelle(n):
NWB NAAAF-17414