BSG Urteil v. - B 11 AL 13/14 R

Arbeitslosengeldanspruch - Bemessungsentgelt - Arbeitsentgeltanspruch - tarifvertraglicher Entgeltverzicht - auflösende Bedingung - Wiederaufleben bei Insolvenzanmeldung

Leitsatz

Arbeitsentgelt, auf das die Arbeitnehmer im Rahmen eines Sanierungstarifvertrags verzichteten, ist, auch wenn der Anspruch im Fall der Insolvenz des Arbeitgebers wieder auflebt, nicht als Bemessungsentgelt bei der Berechnung des Arbeitslosengelds zu berücksichtigen.

Gesetze: § 131 Abs 1 S 1 SGB 3 vom , § 131 Abs 1 S 2 SGB 3 vom , § 421t Abs 7 SGB 3 vom

Instanzenzug: Az: S 17 AL 106/12 Urteilvorgehend Landessozialgericht Baden-Württemberg Az: L 8 AL 2833/13 Urteil

Tatbestand

1Der Kläger macht für die Zeit vom 1. bis einen Anspruch auf höheres Arbeitslosengeld (Alg) geltend.

2Der 1979 geborene Kläger war seit als Flachdrucker bei der schlott GmbH (S GmbH) in F. versicherungspflichtig beschäftigt. Die schlott gruppe AG (im Folgenden: AG), zu der die S GmbH als Konzernunternehmen gehörte, und die Gewerkschaft V. schlossen zur Abwendung einer existenzbedrohenden Situation mit Wirkung für die Zeit vom bis einen Konzerntarifvertrag (KTV), der neben der S GmbH auch Konzernunternehmen in N. und H. betraf. Ua war vereinbart worden:

4Zudem schlossen die S GmbH und V. im Oktober 2009 mit Wirkung zum einen "Firmentarifvertrag Konsolidierung" (FTV). Darin vereinbarten sie jeweils eine anteilige Kürzung der tariflichen Jahresleistung 2009 bis 2011 sowie des zusätzlichen Urlaubsgelds 2010 bis 2012 und in § 3 FTV (wiederum) den Ausschluss betriebsbedingter Kündigungen bis sowie das Aufleben der Ansprüche auf die tariflichen Leistungen im Falle der Insolvenzanmeldung der Arbeitgeberin. Von November 2009 bis Dezember 2010 zahlte die S GmbH die Konsolidierungsbeträge entsprechend den tariflichen Regelungen an den Kläger nicht aus.

5Am beantragte die S GmbH ebenso wie die AG die Eröffnung eines Insolvenzverfahrens, denen das Amtsgericht Stuttgart am stattgab. Die S GmbH und V. hatten zuvor am noch eine "Vereinbarung" zur Auslegung des KTV geschlossen, die ua folgende Regelung enthielt:

7Der Insolvenzverwalter kündigte dem Kläger am 27.5. ordentlich aus betrieblichen Gründen zum . Am vereinbarten beide jedoch die vorzeitige Aufhebung des Arbeitsverhältnisses zum , weil der Kläger eine Anschlussbeschäftigung gefunden habe. Am meldete sich der Kläger gleichwohl zum arbeitslos, weil er erst zum eine neue Beschäftigung aufnehmen könne.

8Die Beklagte bewilligte dem Kläger Alg für die Zeit vom 1. bis unter Berücksichtigung der in der Arbeitsbescheinigung angegebenen Entgelte (Bemessungszeitraum bis ; Bemessungsentgelt 140,65 Euro; zu Jahresbeginn eingetragene Lohnsteuerklasse III; erhöhter Leistungssatz) in Höhe von 61,95 Euro täglich (Bescheid vom ; Widerspruchsbescheid vom ). Die Entgeltbestandteile, auf die der Kläger verzichtet hatte, wurden nicht berücksichtigt.

9Das Sozialgericht (SG) Karlsruhe hat die Beklagte verurteilt, dem Kläger Alg unter Berücksichtigung eines um 2843,82 Euro erhöhten Bemessungsentgelts zu zahlen (Urteil vom ). Das Landessozialgericht (LSG) Baden-Württemberg hat die Berufung der Beklagten zurückgewiesen (Urteil vom ). Zur Begründung seiner Entscheidung hat das LSG ausgeführt, das Bemessungsentgelt sei um 2843,82 Euro zu erhöhen. Die Ansprüche auf höheres Arbeitsentgelt seien wieder existent. Die Folgen des Gehaltsverzichts würden durch diese Gestaltung zwar vergesellschaftet, dies sei aber nicht rechtsmissbräuchlich.

10Mit der Revision rügt die Beklagte eine Verletzung von § 131 Abs 1 Satz 2 Sozialgesetzbuch Drittes Buch - Arbeitsförderung - (SGB III). Für die Berücksichtigung von Entgeltanteilen genüge es nicht, dass deren Zahlung zunächst aus anderen Gründen (zB Unkenntnis, Zahlungsunwilligkeit, Verzicht) unterblieben sei und sich erst im weiteren Verlauf auch Zahlungsunfähigkeit des Arbeitgebers einstelle. Der Kläger habe zunächst gemäß § 3 Ziffer 3.3 KTV auf einen Teil seiner Entgeltansprüche verzichtet, womit die Zahlung aus anderen Gründen als der Zahlungsunfähigkeit des Arbeitgebers unterblieben sei.

11Die Beklagte beantragt,die Urteile des LSG sowie des SG aufzuheben und die Klage abzuweisen.

12Der Kläger beantragt,die Revision zurückzuweisen.

13Er hält die Entscheidung des LSG für zutreffend.

Gründe

14Die Revision der Beklagten ist zulässig und begründet. Die Urteile des LSG und des SG sind aufzuheben und die Klage ist abzuweisen (§ 170 Abs 2 Satz 1 SGG); der Kläger hat für die Zeit vom 1. bis keinen Anspruch auf höheres Alg.

15Gegenstand des Rechtsstreits und des Revisionsverfahrens ist der Bescheid vom in der Gestalt des Widerspruchsbescheids vom (§ 95 SGG), soweit darin eine höhere Leistung abgelehnt worden ist; dagegen wendet sich der Kläger mit der kombinierten Anfechtungs- und Leistungsklage (§ 54 Abs 1 Satz 1 und Abs 4 SGG, § 56 SGG).

16Der Kläger hat keinen Anspruch auf höheres Alg. Nach § 129 Nr 1 SGB III (in der ab geltenden Normfassung des Gesetzes über Eingetragene Lebenspartnerschaften vom - BGBl I 266) beträgt das Alg für Arbeitslose, die - wie der Kläger - mindestens ein Kind iS des § 32 Abs 1, 3, 5 Einkommensteuergesetz haben, 67 vH des pauschalierten Nettoentgelts (erhöhter Leistungssatz), das sich aus dem Bruttoentgelt ergibt, das der Arbeitslose im Bemessungszeitraum erzielt hat.

17Der Bemessungszeitraum erstreckt sich hier vom bis . Das Bemessungsent-gelt ist gemäß § 131 Abs 1 Satz 1 SGB III (in der Normfassung des Gesetzes zur Verbesserung der Rahmenbedingungen für die Absicherung flexibler Arbeitszeitregelungen und zur Änderung anderer Gesetze vom - BGBl I 2940) das durchschnittlich auf den Tag entfallende beitragspflichtige Arbeitsentgelt, das der Arbeitslose im Bemessungszeitraum erzielt hat. Im Bemessungszeitraum hat der Kläger ein Entgelt von 51 335,83 Euro erzielt, woraus sich (dividiert durch 365 Beschäftigungstage) ein durchschnittliches tägliches Entgelt von 140,65 Euro errechnet. Von diesem Betrag sind die Sozialversicherungspauschale (21 vH = 29,54 Euro), der Lohnsteuerabzug bei Steuerklasse III (17,67 Euro) und der Solidaritätszuschlag (0,97 Euro) in Abzug zu bringen, sodass sich ein Leistungsentgelt von 92,47 Euro ergibt, was bei einer Entgeltersatzquote von 67 vH zu dem von der Beklagten zuerkannten täglichen Leistungssatz von 61,95 Euro führt (zur Unbeachtlichkeit unterschiedlicher Lohnsteuertabellen für ein Grundurteil über höhere Leistungen vgl BSG SozR 4-4300 § 132 Nr 3 RdNr 16 ff).

18Aus § 131 Abs 1 Satz 2 SGB III ergibt sich kein höheres Bemessungsentgelt. Nach dieser Vorschrift gilt Arbeitsentgelt, auf das der Arbeitslose beim Ausscheiden aus dem Beschäftigungsverhältnis Anspruch hatte, als erzielt, wenn es ihm entweder zugeflossen (Alt 1) oder nur wegen Zahlungsunfähigkeit des Arbeitgebers nicht zugeflossen (Alt 2) ist. Die nicht berücksichtigten Entgeltansprüche in Höhe von 2843,82 Euro erhöhen das Bemessungsentgelt nach Alt 1 der Vorschrift nicht; denn sie sind dem Kläger nicht zugeflossen. Diese Lohnanteile sind auch nicht nach Alt 2 der Vorschrift als Bemessungsentgelt zu berücksichtigen.

19In der Zeit vom 1.7. bis sind dem Kläger die hier streitigen Entgeltanteile nicht zugeflossen, weil die Arbeitgeberin sie dem tarifgebundenen Kläger in Ausführung des KTV nicht ausgezahlt hat. Solche tariflichen Verzichtsregelungen, die unter einer auflösenden Bedingung stehen, sind arbeitsrechtlich möglich (vgl dazu BAGE 117, 1 ff RdNr 27 f und 39; vgl auch: BSGE 103, 284 ff RdNr 26 ff = SozR 4-7837 § 2 Nr 1); für die Entscheidung des Senats ist dies jedoch ohne Bedeutung.

20Auch wenn die fraglichen Entgeltansprüche nach Maßgabe des KTV mit Stellung des Insolvenzantrags wieder aufgelebt sein sollten, wäre damit kein Anspruch auf weiteres Entgelt entstanden, das als Bemessungsentgelt zu berücksichtigen wäre. Denn die Arbeitsentgelte gelten nach Alt 2 des § 131 Abs 1 Satz 2 SGB III bemessungsrechtlich nur dann als erzielt, wenn sie dem Arbeitslosen "nur" wegen Zahlungsunfähigkeit des Arbeitgebers nicht zugeflossen sind. Maßgeblich für die Beurteilung, welche Gründe für den fehlenden Zufluss von Entgelt ursächlich sind, ist nicht die Lehre von der Theorie der wesentlichen Bedingung; vielmehr sind die Voraussetzungen der Alt 2 - wie der Senat schon entschieden hat - nur erfüllt, wenn der unterbliebene Zufluss allein auf der Zahlungsunfähigkeit des Arbeitgebers beruht (Monokausalität; BSG SozR 4-4300 § 134 Nr 1, RdNr 22, 24; dazu Behrend in jurisPR SozR 23/2007 Anm 2).

21Der Gesetzgeber hat zu Sinn und Zweck der (Vorgänger-)Regelung (§ 134 Abs 1 Satz 3 SGB III in der ab geltenden alten Fassung) in der Begründung des Gesetzentwurfs ausgeführt (BT-Drucks 13/4941, S 179), die Berücksichtigung von Entgeltansprüchen werde auf (ggf nachträglich) zugeflossene oder allein wegen Zahlungsunfähigkeit des Arbeitgebers nicht zugeflossene Entgelte beschränkt. Dies solle verhindern, dass sich die Parteien eines Arbeitsverhältnisses rückwirkend und einvernehmlich auf ein höheres Arbeitsentgelt mit dem Ziel verständigten, höheres Alg zu erlangen, ohne dass der Arbeitgeber einen höheren Betrag an den Arbeitnehmer auszahlen müsse (BT-Drucks aaO).

22Der Wortlaut des § 131 Abs 1 Satz 2 SGB III ("nur wegen Zahlungsunfähigkeit des Arbeitgebers nicht zugeflossen") entspricht demjenigen in § 134 Abs 1 Satz 3 SGB III aF. Der Gesetzgeber hat mit den Regelungen die zeitlich zurückwirkende Begründung von arbeitsrechtlichen Ansprüchen ausschließen wollen. Von diesem Regelungszweck ausgehend hat das Bundessozialgericht (BSG) entschieden, dass die Monokausalität der Zahlungsunfähigkeit für den Nichtzufluss von Entgelt zu verneinen ist, wenn - wie hier - die Zahlung zunächst aus anderen Gründen unterblieben ist, später aber die Zahlungsunfähigkeit des Arbeitgebers hinzutritt (BSG SozR 4-4300 § 134 Nr 1; B 7a AL 54/05 R -, NZA 2007, 430 ff).

23Wiederaufgelebte Ansprüche auf Arbeitsentgelt, die zur Insolvenztabelle angemeldet, aber nicht erfüllt wurden, sind dem Kläger nicht nur wegen der Zahlungsunfähigkeit der S GmbH nicht zugeflossen. Vielmehr haben die Tarifvertragspartner für die tarifgebundenen Arbeitnehmer zum Zweck der Sanierung des Konzerns auflösend bedingt auf Teile des Entgelts verzichtet. Diese Tarifregelung wurde auch im Betrieb des Klägers umgesetzt. Die tarifvertragliche Gestaltung war faktisch der Grund dafür, dass die S GmbH die betreffenden Entgeltanteile in der Zeit vom 1.7. bis nicht an den Kläger ausgezahlt hat. Nach Eintritt der vereinbarten Bedingung (Insolvenzanmeldung) wären die Entgeltansprüche so wieder aufgelebt, wie sie ohne den Verzicht bestanden hätten. Der Kläger hätte dann für das 2. Halbjahr 2010 weitere Entgeltansprüche, die nunmehr nicht erfüllt worden sind, weil die Arbeitgeberin inzwischen zahlungsunfähig geworden war. Das Entgelt ist ihm im Bemessungszeitraum damit aber nicht allein wegen der Zahlungsunfähigkeit der Arbeitgeberin nicht zugeflossen. Ursächlich für das Ausbleiben der Zahlung war auch der Umstand, dass die Arbeitnehmer auf die Ansprüche in dem Zeitraum, in dem sie eigentlich entstanden wären und in dem die Arbeitgeberin noch nicht zahlungsunfähig war, mit dem Ziel der Sanierung des Unternehmens verzichtet und diesen Verzicht auch praktiziert haben.

24Die Betrachtung der Beitragsseite führt zu keinem anderen Ergebnis. Bevor der Gesetzgeber das zuvor herrschende strenge Zuflussprinzip erweitert hat, hatte dies bereits die Rechtsprechung getan. Im Lichte des Art 3 Abs 1 Grundgesetz bestehe kein hinreichender sachlicher Grund, zunächst vorenthaltendes, vom Arbeitgeber aber nachträglich gezahltes Entgelt bei der Leistungsbemessung des Alg unberücksichtigt zu lassen (BSGE 76, 162 ff = SozR 3-4100 § 112 Nr 22 S 94, dem folgend BSGE 78, 109, 112 f = BSG SozR 3-1300 § 48 Nr 48 S 113). Das BSG hat in der Begründung dieser Entscheidung insbesondere auf die Einmalzahlungs-Entscheidung des Bundesverfassungsgerichts Bezug genommen (BVerfGE 92, 53 ff = BVerfG SozR 3-2200 § 385 Nr 6), nach der Entgelt, für das Beiträge gezahlt worden ist, nicht ohne sachlichen Grund bei der Bemessung der Leistung - hier Alg - unberücksichtigt bleiben darf. Diese verfassungsrechtliche Überlegung gebietet es vorliegend aber nicht, Entgeltanteile, auf die Arbeitnehmer im Rahmen eines Sanierungsbeitrags verzichteten, bei der Bemessung der Leistung zu berücksichtigen, weil diese Entgeltanteile gerade nicht gezahlt und hierauf Beiträge weder entrichtet noch nachentrichtet worden sind.

25Beim Insolvenzgeld (Insg) ist zwar anerkannt, dass nach bedingtem Lohnverzicht und Eintritt eines Insolvenzereignisses die Entgeltansprüche wieder aufleben und durch Insg ersetzt werden können (BSGE 102, 303 ff = SozR 4-4300 § 183 Nr 10; vgl auch BAGE 117, 1 ff, dort auch RdNr 36); allerdings ist die Systematik der Berechnung des Insg auf die Bemessung des Alg nicht übertragbar. Das Insg soll gerade das ausgefallene Arbeitsentgelt ersetzen. Beim Insg sind Sanierungsbeiträge zu berücksichtigen, wenn und soweit der Entgeltanspruch im Insolvenzzeitraum erarbeitet worden ist. Demgegenüber stellt Alg eine Sozialleistung mit prozentualem Entgeltersatz dar, deren Berechnung im Einzelnen anders geregelt ist (§§ 130 f SGB III).

26§ 421t Abs 7 Satz 1 SGB III (idF des Gesetzes zur Sicherung von Beschäftigung und Stabilität in Deutschland vom - BGBl I 416; jetzt § 419 Abs 7 SGB III) steht diesem Ergebnis ebenfalls nicht entgegen. Die Vorschrift findet schon nach ihren tatbestandlichen Voraussetzungen keine Anwendung, weil eine Reduzierung von Arbeitszeit nicht stattgefunden hat. Die Regelung und ihr Außerkrafttreten sprechen sogar dafür, dass der Gesetzgeber die Problematik des Sanierungsbeitrags der Arbeitnehmer für ein wirtschaftlich angeschlagenes Unternehmen und dessen Auswirkungen auf die Bemessung des Alg gesehen hat. Dennoch hat er (nur) für den dort beschriebenen Fall und eine begrenzte zeitliche Dauer die Frage abweichend von den §§ 129 f SGB III geregelt.

27Die Kostenentscheidung beruht auf § 193 Abs 1 SGG.

Auf diese Entscheidung wird Bezug genommen in folgenden Gerichtsentscheidungen:


ECLI Nummer:
ECLI:DE:BSG:2015:110615UB11AL1314R0

Fundstelle(n):
DB 2015 S. 7 Nr. 48
ZIP 2015 S. 1800 Nr. 37
PAAAF-09092