BVerwG Urteil v. - 6 C 35/14

Hinweis auf Nichtbewertung von Rechtschreibleistungen in bayerischen Abiturzeugnissen

Leitsatz

1. Aus dem Gebot der Chancengleichheit folgen Ansprüche auf Änderung der Prüfungsbedingungen (Nachteilsausgleich), nicht aber Ansprüche auf eine Änderung des Maßstabs der Leistungsbewertung (Notenschutz).

2. Das Verbot der Benachteiligung Behinderter nach Art. 3 Abs. 3 Satz 2 GG rechtfertigt Notenschutz, gebietet ihn aber regelmäßig nicht.

3. Die Gewährung von Notenschutz kann zur Wahrung der Chancengleichheit und der Aussagekraft des Abschlusszeugnisses dort vermerkt werden.

4. Die Gewährung von Notenschutz in schulischen Abschlussprüfungen (Abitur) und dessen Vermerk im Abschlusszeugnis unterliegen dem Vorbehalt des Gesetzes.

5. Eine Verwaltungspraxis, Notenschutz zu gewähren und dies im Abschlusszeugnis zu vermerken, kann für die Vergangenheit und einen angemessenen Übergangszeitraum beibehalten werden.

Gesetze: Art 3 Abs 3 S 2 GG, Art 3 Abs 1 GG, Art 12 Abs 1 GG

Instanzenzug: Bayerischer Verwaltungsgerichtshof Az: 7 B 14.22 Urteilvorgehend Az: M 3 K 11.2962 Urteilnachgehend Az: 1 BvR 2577/15 Urteil

Tatbestand

1Der Kläger, der an einer Lese- und Rechtschreibstörung (Legasthenie) leidet, bestand 2010 das Abitur an einem staatlichen Gymnasium. Er will Bemerkungen über die Berücksichtigung dieser Störung bei der Notenbildung aus dem Abiturzeugnis entfernt haben.

2Der Kläger nahm für die schriftlichen Arbeiten in der Oberstufe des Gymnasiums und für die schriftlichen Abiturprüfungen die Maßnahmen des Nachteilsausgleichs und des Notenschutzes in Anspruch, die Schülern mit fachärztlich festgestellter Legasthenie auf der Grundlage der Bekanntmachung des Bayerischen Staatsministeriums für Unterricht und Kultus vom gewährt werden. Der Kläger erhielt einen Zeitzuschlag für die Bearbeitung schriftlicher Prüfungsarbeiten (Nachteilsausgleich). Seine Rechtschreibleistungen flossen nicht in die Notengebung ein. In Fremdsprachen (Abiturfach Englisch) wurden seine mündlichen und schriftlichen Leistungen mit gleichem Gewicht bewertet (Notenschutz). Wie in der Bekanntmachung vom vorgesehen, wurden die Maßnahmen des Notenschutzes mit dem Zusatz "aufgrund einer fachärztlich festgestellten Legasthenie" im Abiturzeugnis vermerkt.

3Das Verwaltungsgericht hat den Beklagten verpflichtet, diesen Zusatz zu streichen; im Übrigen hat es die Klage abgewiesen. Auf die Berufung des Klägers hat der Verwaltungsgerichtshof den Beklagten verpflichtet, dem Kläger ein Abiturzeugnis ohne Bemerkungen über den Notenschutz auszustellen.

4In dem Berufungsurteil heißt es im Wesentlichen, die Bemerkungen seien rechtswidrig, weil die erforderliche landesgesetzliche Grundlage für den Notenschutz fehle. Jedenfalls für schulische Abschlussprüfungen, die für den beruflichen Werdegang bedeutsam seien, müsse der Gesetzgeber darüber entscheiden, ob durch die Gewährung von Notenschutz auf allgemein geltende Leistungsanforderungen verzichtet werde und welche Folgen sich daraus ergäben. Dies sei erforderlich, weil auf die Bewertung bestimmter allgemeiner Leistungsanforderungen verzichtet werde. Es sei weder aus Gründen der Chancengleichheit noch der Zeugniswahrheit geboten, den ohne gesetzliche Grundlage gewährten Notenschutz im Abschlusszeugnis zu vermerken. Derartige Bemerkungen seien auch nach der Gymnasialschulordnung des Beklagten nicht zulässig, weil sie den Übertritt in das Berufsleben erschwerten.

5Mit der Revision will der Beklagte die Wiederherstellung des erstinstanzlichen Urteils erreichen. Er macht geltend, Notenschutz stelle eine verfassungsrechtlich nicht gebotene Bevorzugung dar. Der Gesetzgeber könne ihn gewähren, um behinderten Schülern eine erfolgreiche Schullaufbahn zu ermöglichen. Aufgrund dessen sei es von seinem Einschätzungsspielraum gedeckt, die gewährten Erleichterungen im Zeugnis auszuweisen. Dadurch werde dem Gebot der Chancengleichheit aller Schüler Rechnung getragen. Werde ein ohne gesetzliche Grundlage gewährter Notenschutz nicht rückgängig gemacht, müsse er auch im Abschlusszeugnis vermerkt werden, wenn dies der bisherigen Verwaltungspraxis entspreche.

6Der Kläger macht geltend, die Zeugnisbemerkungen seien rechtswidrig, weil der Notenschutz nicht anders als der Nachteilsausgleich dazu bestimmt sei, die verfassungsrechtlich gebotene Chancengleichheit herzustellen. Schüler dürften nicht deshalb benachteiligt werden, weil es ihnen aufgrund einer Behinderung unmöglich sei, bestimmte Leistungsanforderungen zu erfüllen. Das Abschlusszeugnis müsse lediglich das Bestehen der Prüfung, die Noten und die dadurch erworbene Qualifikation ausweisen. Weitere Angaben seien nicht vorgesehen. Die Zeugnisbemerkungen stellten eine gleichheitswidrige Benachteiligung von Legasthenikern dar, weil andere Behinderungen nicht vermerkt würden.

Gründe

7Die zulässige Revision des Beklagten ist begründet. Die Annahme des Verwaltungsgerichtshofs, der Kläger habe einen Anspruch darauf, dass ihm ein Abiturzeugnis ohne Bemerkungen zur Nichtbewertung von Rechtschreibleistungen und zur Bewertung der schriftlichen und mündlichen Leistungen in den Fremdsprachen im Verhältnis 1:1 (Notenschutz) ausgestellt wird, verletzt Bundesrecht (§ 137 Abs. 1 VwGO). Der geltend gemachte Anspruch lässt sich nicht aus der allein in Betracht kommenden Anspruchsgrundlage des allgemeinen Folgenbeseitigungsanspruchs herleiten. Zwar stellen die angegriffenen Bemerkungen einen Eingriff in das allgemeine Persönlichkeitsrecht des Klägers dar. Eine Rechtswidrigkeit dieses Eingriffs folgt aber weder aus dem Gebot der Chancengleichheit im Prüfungsverfahren (Art. 3 Abs. 1 i.V.m. Art. 12 Abs. 1 GG) noch aus dem Verbot, jemanden wegen seiner Behinderung zu benachteiligen (Art. 3 Abs. 3 Satz 2 GG). Dass in Fällen fachärztlich festgestellter Legasthenie die Rechtschreibleistungen auf Antrag nicht und in den Fremdsprachen die schriftlichen und mündlichen Leistungen im Verhältnis 1:1 zu bewerten sind, bedarf allerdings einer gesetzlichen Grundlage, an der es hier fehlt. Die inhaltlich nicht zu beanstandenden Regelungen in der Bekanntmachung des Bayerischen Staatsministeriums für Unterricht und Kultus vom (KWMBl I S. 379) sind jedoch für einen Übergangszeitraum, insbesondere für in der Vergangenheit liegende Abiturprüfungen weiter anzuwenden. Die Notwendigkeit einer solchen übergangsweisen Fortgeltung folgt ebenso wie der Vorbehalt des Gesetzes, auf die sie sich bezieht, aus dem bundesrechtlichen Rechtsstaatsprinzip. Diese Notwendigkeit hat der Verwaltungsgerichtshof verkannt und dadurch Bundesrecht verletzt.

81. Wird jemand durch (schlichtes) öffentlich-rechtliches Handeln der Verwaltung in seinen Rechten verletzt, kann er verlangen, dass diese die andauernden unmittelbaren Folgen ihres rechtswidrigen Vorgehens rückgängig macht. Dieser Anspruch auf Folgenbeseitigung ergänzt den allgemeinen Anspruch auf Abwehr- bzw. Unterlassung rechtswidrigen hoheitlichen Handelns. Die Ansprüche finden ihre Grundlage in den Grundrechten und dem rechtsstaatlichen Prinzip der Gesetzmäßigkeit der Verwaltung (stRspr; vgl. nur 3 C 81.82 - BVerwGE 69, 366 <368 ff.> und vom - 4 C 34.88 - BVerwGE 82, 24 <25 f.>).

9Gegenstand des Revisionsverfahrens sind die Bemerkungen im Abiturzeugnis des Klägers über die Maßnahmen des Notenschutzes ohne den Zusatz "aufgrund einer fachärztlich festgestellten Legasthenie“. Insoweit ist das Urteil des Verwaltungsgerichts, das dem Kläger einen Anspruch auf Entfernung dieses Zusatzes zugesprochen hat, rechtskräftig geworden.

10Bemerkungen über die Gewährung von Notenschutz in einem Zeugnis sind nach ihrer Rechtsnatur schlichthoheitliche Äußerungen. Sie lassen die rechtsverbindlichen Feststellungen des Zeugnisses über den Erwerb des Schulabschlusses, die Gesamtnote, die Noten in den einzelnen Fächern und die durch den Abschluss vermittelte Qualifikation unberührt. Vielmehr geben sie darüber Aufschluss, dass in bestimmter Weise vom allgemein geltenden Maßstab für die Leistungsbewertung abgewichen worden ist. Im vorliegenden Fall weisen die Bemerkungen darauf hin, dass eine bestimmte Leistungsanforderung, nämlich die Rechtschreibung, durchgehend nicht bewertet und die Note in bestimmten Fächern (Fremdsprachen) nach einem besonderen Maßstab gebildet worden ist.

11Abschlusszeugnisse sind auch dazu bestimmt, bei Bewerbungen um einen Arbeits- oder Ausbildungsplatz vorgelegt zu werden. Daher können Bemerkungen über gewährten Notenschutz das Recht des Zeugnisinhabers beeinträchtigen, über die Offenlegung von Vorgängen und Zuständen aus seinem persönlichen Lebensbereich, insbesondere über Krankheiten und Behinderungen, selbst zu bestimmen. Dieses Verfügungsrecht über die Darstellung der eigenen Person unterfällt als Teil des allgemeinen Persönlichkeitsrechts dem Schutz des Art. 2 Abs. 1 i.V.m. Art. 1 Abs. 1 GG. Schutz besteht auch gegen die Offenlegung oder Verbreitung wahrer Tatsachen über eine Person ohne deren Einwilligung (stRspr; vgl. - BVerfGE 35, 202 <219 ff.>; - BVerfGE 54, 148 <153 f.>; zum Ganzen: Wanckel, in: Götting/Schertz/Seitz, Handbuch des Persönlichkeitsrechts, 2008, § 19 Rn. 3 ff.).

12Hinweise in einem Abschlusszeugnis über Besonderheiten bei der Notengebung lassen generell auf ein vermindertes Teilleistungsvermögen schließen. Dies liegt auf der Hand, wenn die abweichend bewerteten Fähigkeiten genannt sind, wie dies bei dem Hinweis auf die Nichtberücksichtigung von Rechtschreibleistungen der Fall ist.

13Die Entscheidung der Sorgeberechtigten des Klägers, den Notenschutz in Kenntnis des damit verbundenen Vermerks im Abiturzeugnis in Anspruch zu nehmen, kann schon deshalb nicht als Einverständnis mit dem Vermerk gewertet werden, weil der Beklagte dem Kläger ansonsten auch Schreibzeitverlängerungen in schriftlichen Prüfungen vorenthalten hätte. Hierauf hatte der Kläger aber Anspruch (vgl. unter 2.). Ein Anspruch auf Entfernung der Zeugnisbemerkungen aus dem Abiturzeugnis unter dem Gesichtspunkt der Folgenbeseitigung besteht jedoch nicht, weil der Beklagte entsprechend seiner Verwaltungspraxis berechtigt ist, die Bemerkungen beizubehalten.

142. Bemerkungen im Abschlusszeugnis über die Gewährung von Notenschutz verstoßen nicht gegen das Gebot der Chancengleichheit nach Art. 3 Abs. 1 i.V.m. Art. 12 Abs. 1 GG.

15a) Das Gebot der Chancengleichheit soll sicherstellen, dass alle Prüflinge möglichst gleiche Chancen haben, die Leistungsanforderungen zu erfüllen. Zu diesem Zweck sollen die Bedingungen, unter denen die Prüfung abgelegt wird, für alle Prüflinge möglichst gleich sein. Es müssen grundsätzlich einheitliche Regeln für Form und Verlauf der Prüfungen gelten; die tatsächlichen Verhältnisse während der Prüfung müssen gleichartig sein (stRspr; vgl. nur 7 C 17.90 - BVerwGE 87, 258 <261 f.>).

16Allerdings sind einheitliche Prüfungsbedingungen geeignet, die Chancengleichheit derjenigen Prüflinge zu verletzen, deren Fähigkeit, ihr vorhandenes Leistungsvermögen darzustellen, erheblich beeinträchtigt ist. Daher steht diesen Prüflingen ein Anspruch auf Änderung der einheitlichen Prüfungsbedingungen im jeweiligen Einzelfall unmittelbar aufgrund des Gebots der Chancengleichheit nach Art. 3 Abs. 1 i.V.m. Art. 12 Abs. 1 GG zu. Den Schwierigkeiten des Prüflings, seine vorhandenen Kenntnisse und Fähigkeiten unter Geltung der einheitlichen Bedingungen darzustellen, muss durch geeignete Ausgleichsmaßnahmen Rechnung getragen werden. Dieser Nachteilsausgleich ist erforderlich, um chancengleiche äußere Bedingungen für die Erfüllung der Leistungsanforderungen herzustellen. Aus diesem Grund muss die Ausgleichsmaßnahme im Einzelfall nach Art und Umfang so bemessen sein, dass der Nachteil nicht „überkompensiert“ wird. Die typische Ausgleichsmaßnahme in schriftlichen Prüfungen ist die Verlängerung der Bearbeitungszeit; in Betracht kommt auch die Benutzung technischer Hilfsmittel.

17Der verfassungsunmittelbare Anspruch auf Herstellung chancengleicher Prüfungsbedingungen darf nicht dadurch konterkariert werden, dass die in Anspruch genommenen Ausgleichsmaßnahmen im Prüfungszeugnis vermerkt werden. Es gibt keinen Grund, der es rechtfertigen könnte, die Beachtung des Gebots der Chancengleichheit in der Prüfung im Zeugnis zu dokumentieren (Langenfeld, RdJB 2007, 211 <226>; Ennuschat/Volino, Behindertenrecht 2009, 166 <167>; Kischel, in: Epping/Hillgruber, GG, 2. Auflage, Art. 3 Rn. 245; Rux/Niehues, Schulrecht, 5. Auflage 2013, Rn. 514).

18b) Nach dem wissenschaftlichen Erkenntnisstand handelt es sich bei der Legasthenie um eine dauerhafte Lese- und Schreibstörung aufgrund einer neurobiologischen, entwicklungsbiologisch und zentralnervös begründeten Störung der Hirnfunktion. Davon zu unterscheiden sind Lese- und Rechtschreibschwächen, die andere Ursachen haben und erfolgversprechend behandelt werden können. Legasthenie lässt Begabung und Intelligenz unberührt; die intellektuelle Erfassung von Sachverhalten ist nicht beeinträchtigt. Jedoch ist die Lese- und Schreibgeschwindigkeit verringert; Legastheniker benötigen überdurchschnittlich viel Zeit, um schriftliche Texte aufzunehmen und zu verarbeiten und um ihre Gedanken aufzuschreiben. Aufgrund dessen sind sie beeinträchtigt, ihre als solche nicht eingeschränkte intellektuelle Befähigung darzustellen, d.h. ihre tatsächlich vorhandenen Kenntnisse und Fähigkeiten in schriftlichen Prüfungen nachzuweisen. Hinzu kommt eine Rechtschreibschwäche; die Rechtschreibung von Legasthenikern ist überdurchschnittlich fehlerbehaftet (zum Ganzen: Langenfeld, RdJB 2007, 211 <212 f.>; Ennuschat, Rechtsgutachten für den Bundesverband Legasthenie und Dyskalkulie, 2008, S. 4 f.).

19Dementsprechend können Prüflinge, die an Legasthenie leiden, zur Herstellung der Chancengleichheit in schriftlichen Prüfungen Maßnahmen des Nachteilsausgleichs, insbesondere die angemessene Verlängerung der Bearbeitungszeit, beanspruchen, sofern die Feststellung der Rechtschreibung nicht Prüfungszweck ist. Damit kann die langsamere Lese- und Schreibgeschwindigkeit, nicht aber die Rechtschreibschwäche kompensiert werden (VGH Kassel, Beschlüsse vom - 8 TG 3292/05 - NJW 2006, 1608 und vom - 7 A 2406/09.Z - NVwZ-RR 2010, 767; OVG Lüneburg, Beschlüsse vom - 2 ME 309/08 - NVwZ-RR 2009, 68 und vom - 2 ME 7/15 - NVwZ-RR 2015, 574; 3 M 16.09 - juris Rn. 4; - juris Rn. 5; Langenfeld, RdJB 2007, 211 <218 ff.>; Ennuschat/Volino, Behindertenrecht 2009, 166 <167>; Cremer/Kolok, DVBl 2014, 333 <336 f.>). Der Kläger hat in den schriftlichen Prüfungen Nachteilsausgleich durch Verlängerung der Bearbeitungszeit erhalten, der im Abiturzeugnis zu Recht nicht vermerkt wurde.

20c) Das Gebot der Chancengleichheit nach Art. 3 Abs. 1 i.V.m. Art. 12 Abs. 1 GG vermittelt keinen Anspruch auf Notenschutz, d.h. auf eine Leistungsbewertung, die das individuelle Leistungsvermögen berücksichtigt. Daher begegnet es unter dem Aspekt der Chancengleichheit keinen Bedenken, Notenschutz im Zeugnis zu vermerken.

21Schulische Abschlussprüfungen sind regelmäßig dazu bestimmt festzustellen, ob die Prüflinge über bestimmte Kenntnisse und Fähigkeiten verfügen, die zum Besuch einer weiterführenden Schule, zur Aufnahme einer Berufsausbildung oder zur Ausübung eines Berufs erforderlich sind. Aus diesem Prüfungszweck folgt, dass der Prüfungserfolg davon abhängt, ob und in welchem Maß bestimmte allgemein gültige Leistungsanforderungen erfüllt werden. Gelingt dieser Nachweis nicht, ist die Prüfung nicht bestanden, ohne dass es auf die Gründe ankommt. Dementsprechend werden die Prüfungsleistungen nach einem Maßstab bewertet, der keine Rücksicht darauf nimmt, aus welchen Gründen allgemein geltende Leistungsanforderungen nicht erfüllt werden. Es dient der Wahrung der Chancengleichheit nach Art. 3 Abs. 1 i.V.m. Art. 12 Abs. 1 GG, diesen Maßstab einheitlich an alle Prüfungsleistungen anzulegen, um aufgrund von Bewertungsrelationen zwischen den Leistungen die für die Notenbildung unverzichtbaren Mindest- und Durchschnittsanforderungen zu bestimmen.

22Davon macht der Notenschutz Ausnahmen: Er trägt dem Umstand Rechnung, dass es Prüflingen subjektiv unmöglich ist, bestimmten Leistungsanforderungen zu genügen. Zu ihren Gunsten wird auf die einheitliche Anwendung des allgemeinen Maßstabs der Leistungsbewertung verzichtet. Entweder werden die subjektiv nicht zu erfüllenden Anforderungen nicht gestellt oder die Nichterfüllung wird nicht bewertet, sodass die Prüflinge insoweit keine Kenntnisse und Fähigkeiten nachweisen müssen. Auch kann der Nichterfüllung bestimmter Anforderungen bei der Leistungsbewertung ein geringeres Gewicht beigemessen werden.

23Maßnahmen des Notenschutzes führen zwangsläufig zu einer erheblichen Verbesserung der Erfolgschancen in der Prüfung. Unter Umständen eröffnet ein individuell angepasster Maßstab Prüflingen erst eine reelle Möglichkeit, die Prüfung zu bestehen oder ein mehr als ausreichendes Ergebnis zu erzielen. Demnach stellt Notenschutz unter dem Aspekt der Chancengleichheit stets eine Bevorzugung derjenigen Prüflinge dar, denen er gewährt wird ( 7 B 210.85 - Buchholz 421.0 Prüfungswesen Nr. 223; VGH Kassel; Beschluss vom - 7 A 2406/09.Z - NVwZ-RR 2010, 767 <769>; OVG Lüneburg, Beschlüsse vom - 2 ME 309/08 - NVwZ-RR 2009, 68 und vom - 2 ME 7/15 - NVwZ-RR 2015, 574 <576>; 3 M 16.09 - juris Rn. 4 f.; Langenfeld, RdJB 2007, 211 <222 f.>; Ennuschat/Volino, Behindertenrecht 2009, 166 <167 f.>; Kischel, in: Epping/Hillgruber, GG, 2. Aufl., Art. 3 Rn. 245). Der Vermerk einer Bevorzugung bei der Leistungsbewertung im Zeugnis ist nicht geeignet, das Gebot der Chancengleichheit zu beeinträchtigen.

243. Auch das Benachteiligungsverbot des Art. 3 Abs. 3 Satz 2 GG enthält kein Verbot, den behinderten Schülern bzw. Prüflingen gewährten Notenschutz in deren Zeugnissen zu vermerken.

25a) Nach Art. 3 Abs. 3 Satz 2 GG darf niemand wegen seiner Behinderung benachteiligt werden. Bei der Legasthenie handelt es sich anerkanntermaßen um eine Behinderung im Sinne dieser Bestimmung ( 5 C 21.93 - Buchholz 436.0 § 39 BSHG Nr. 16 S. 10 f.; VGH Kassel, Beschlüsse vom - 8 TG 3292/05 - NJW 2006, 1608 und vom - 7 A 2406/09.Z - NVwZ-RR 2010, 767 <769>; OVG Lüneburg, Beschlüsse vom - 2 ME 309/08 - NVwZ-RR 2009, 68 und vom - 2 ME 7/15 - NVwZ-RR 2015, 574 <576>, 3 M 16.09 - juris Rn. 4; Langenfeld, RdJB 2007, 211 <213 f.>; Cremer/Kolok, DVBl 2014, 333 <337>).

26Der besondere Gleichheitssatz des Art. 3 Abs. 3 Satz 2 GG verbietet Normgebern und Verwaltung, Behinderte gezielt schlechter zu stellen, sofern dies nicht aus zwingenden Gründen geboten ist ( - BVerfGE 99, 341 <357>). Darüber hinaus ist der Schutzbereich des Grundrechts berührt, wenn Rechtsnormen oder Verwaltungspraxis zwar für Behinderte und Nichtbehinderte gleichermaßen gelten, Behinderte aber wegen der unterschiedlichen Auswirkungen der Rechtsanwendung faktisch (mittelbar) benachteiligt werden, etwa weil sie eine bestimmte rechtliche Gewährleistung aus tatsächlichen Gründen nicht in Anspruch nehmen können. Insoweit enthält Art. 3 Abs. 3 Satz 2 GG den Auftrag an Gesetzgeber und Verwaltung, die Stellung von Behinderten in Staat und Gesellschaft zu stärken (BT-Drs. 12/8165 S. 28 f.).

27Allerdings folgt daraus im Allgemeinen kein Anspruch darauf, dass eine konkrete mittelbare Benachteiligung unterbleibt oder beseitigt wird. Vielmehr steht Normgebern und Verwaltung bei ihrer Entscheidung darüber, ob und inwieweit sie dem grundgesetzlichen Fördergebot Rechnung tragen, regelmäßig ein Einschätzungsspielraum zu. Einerseits müssen sie die Auswirkungen einer behindertenbedingten Benachteiligung für die Betroffenen in den Blick nehmen. Andererseits haben sie rechtlich schutzwürdige gegenläufige Belange, aber auch organisatorische, personelle und finanzielle Gegebenheiten in die Entscheidungsfindung über die Förderung einzubeziehen ( - BVerfGE 96, 288 <304 ff.>; 9 C 1.05 - BVerwGE 125, 370 Rn. 43). Unmittelbar aus Art. 3 Abs. 3 Satz 2 GG kann sich ein Anspruch auf Beseitigung einer konkreten mittelbaren Benachteiligung allenfalls ergeben, um behinderungsbedingte schwerwiegende Nachteile für die Betroffenen, insbesondere im Bereich der Grundrechtsverwirklichung, abzuwenden oder wenn keine schutzwürdigen Belange entgegenstehen.

28b) Die einheitliche Anwendung des allgemeinen, auf objektive Leistungsanforderungen abstellenden Maßstabs für die Bewertung von Prüfungsleistungen kann sich als mittelbare, von Art. 3 Abs. 3 Satz 2 GG erfasste Benachteiligung behinderter Prüflinge auswirken. Diese werden zwar rechtlich gleich behandelt, können aber faktisch schlechtere Erfolgschancen haben, weil sie bestimmte Anforderungen aufgrund ihrer Behinderung gar nicht oder nur eingeschränkt erfüllen können. Daher ist es von dem Fördergebot des Art. 3 Abs. 3 Satz 2 GG gedeckt, wenn behinderten Prüflingen Notenschutz gewährt wird. Ihre Prüfungsleistungen können abweichend vom allgemeinen Maßstab nach einem besonderen Maßstab bewertet werden, der behindertenbedingte Leistungsdefizite ganz oder teilweise ausblendet. Auch können Prüfungsleistungen, in denen sich die Behinderung nachteilig auswirken kann, mit einem geringeren Gewicht in die Notengebung einfließen (OVG Lüneburg, Beschlüsse vom - 2 ME 309/08 - NVwZ-RR 2009, 68 <69> und vom - 2 ME 7/15 - NVwZ-RR 2015, 574 <576>; Cremer/Kolok, DVBl 2014, 333 <337>).

29Die Versagung von Notenschutz kann die durch Art. 2 Abs. 1 und Art. 12 Abs. 1 GG geschützten Möglichkeiten behinderter Schüler, sich schulisch und beruflich begabungsgerecht zu entfalten und zu betätigen, gefährden oder beeinträchtigen. Dies gilt insbesondere dann, wenn der Schulabschluss Voraussetzung für die Aufnahme eines Berufs oder einer beruflichen Ausbildung ist, in denen die Behinderung nicht erschwerend ins Gewicht fällt. So ist es möglich, eine Vielzahl von Berufen trotz einer Rechtschreibstörung ungehindert auszuüben (Langenfeld, RdJB 2007, 211 <223 f.>; Cremer/Kolok, DVBl 2014, 333 <339 f.>).

30Ungeachtet dessen folgen aus dem Benachteiligungsverbot des Art. 3 Abs. 3 Satz 2 GG generell keine Ansprüche auf behindertengerechten Notenschutz für berufsbezogene Prüfungen, weil die dadurch herbeigeführte Bevorzugung behinderter Prüflinge mit verfassungsrechtlichen Schutzgütern kollidiert (für Legasthenie: OVG Lüneburg, Beschlüsse vom - 2 ME 309/08 - NVwZ-RR 2009, 68 und vom - 2 ME 7/15 - NVwZ-RR 2015, 574 <576>; 3 M 16.09 - juris Rn. 4; .Z - NVwZ-RR 2010, 767 <769>; -juris Rn. 5).

31Die Anwendung eines behindertengerechten Maßstabs für die Leistungsbewertung wirkt sich zwangsläufig auf die Chancengleichheit aller Prüflinge aus. Dies gilt insbesondere für diejenigen, deren schwaches Leistungsvermögen, etwa im Bereich der Rechtschreibung, auf einer persönlichen Eigenschaft oder Veranlagung beruht, die keine Behinderung im Sinne von Art. 3 Abs. 3 Satz 2 GG darstellt. Die Leistungen dieser Prüflinge werden am allgemeinen Bewertungsmaßstab gemessen; Notenschutz kommt hier aus Gründen der Chancengleichheit nicht in Betracht (stRspr; vgl. 7 B 210.85 - Buchholz 421.0 Prüfungswesen Nr. 223).

32Vor allem aber ließe ein aus Art. 3 Abs. 3 Satz 2 GG hergeleiteter Anspruch auf behindertengerechten Notenschutz für schulische Prüfungen außer Betracht, dass sich im Schulwesen die Grundrechte und die staatliche Schulaufsicht nach Art. 7 Abs. 1 GG gleichrangig gegenüber stehen. Nach dem Grundsatz praktischer Konkordanz müssen beide Verfassungspositionen schon auf abstrakt-genereller Ebene nach Möglichkeit schonend ausgeglichen werden ( - BVerfGE 93, 1 <21>; - BVerfGE 98, 218 <244 f.>; 6 C 25.12 - BVerwGE 147, 362 Rn. 11).

33Aus Art. 7 Abs. 1 GG folgt ein umfassend zu verstehender staatlicher Bildungs- und Erziehungsauftrag. Danach ist es Sache des Staates, d.h. der Länder, die Schulformen und die dafür geltenden Ausbildungsgänge und Unterrichtsziele festzulegen. Dies umfasst die Befugnis, die für einen Schulabschluss erforderlichen fachlichen Kenntnisse und Fähigkeiten, die Bedingungen für deren Nachweis und die durch den Abschluss vermittelte Qualifikation zu bestimmen ( - BVerfGE 45, 400 <415>; - BVerfGE 59, 360 <377> und - BVerfGE 96, 288 <303 f.>; 6 C 11.97 - BVerwGE 107, 75 <78 f.> und vom - 6 C 25.12 - BVerwGE 147, 362 Rn. 11).

34Davon ausgehend kann die Schulaufsicht den Erwerb eines Schulabschlusses und der dadurch vermittelten berufsbezogenen Qualifikation, insbesondere den Erwerb des die allgemeine Hochschulreife vermittelnden Abiturs, an den Nachweis eines allgemeinen Ausbildungs- und Kenntnisstandes knüpfen. Dies bedingt die Anwendung eines allgemeinen, an objektiven Leistungsanforderungen ausgerichteten Bewertungsmaßstabs für die Notengebung in einzelnen Prüfungen (vgl. unter 2.c, S. 9). Abweichungen von diesem Maßstab beeinträchtigen die Aussagekraft der Noten und letztlich des Schulabschlusses. Je größeres Gewicht individuellen Besonderheiten für die Bewertung zukommt, desto weniger ist der Schluss gerechtfertigt, dass die Noten und der Schulabschluss eine allgemein gültige Qualifikation vermitteln. Mit der Einführung von Bewertungsmaßstäben, die dem individuellen Leistungsvermögen durch Notenschutz Rechnung tragen, können je nach Reichweite Änderungen der Lernziele und ein schulischer Systemwechsel verbunden sein.

35c) Aufgrund dessen ist es grundsätzlich Aufgabe des für die Schulaufsicht zuständigen Organs, darüber zu entscheiden, ob und auf welche Weise behinderte Schüler durch Notenschutz gefördert werden. Dabei muss in die Entscheidungsfindung einfließen, welche Folgen die Versagung von Notenschutz auf deren schulischen und beruflichen Werdegang voraussichtlich haben wird. Die Schwere der Nachteile, die ohne Notenschutz drohen und die Wahrscheinlichkeit ihres Eintritts muss in das Verhältnis zu den Auswirkungen des Notenschutzes auf die Chancengleichheit und die Aussagekraft der Notengebung und des Schulabschlusses gesetzt werden.

36Dies gilt auch für die Entscheidung über Notenschutz wegen Legasthenie in schulischen Abschlussprüfungen, insbesondere im Abitur. Schüler mit dieser Behinderung werden ohne Notenschutz in Bezug auf die Rechtschreibung in den schriftlichen Prüfungen, insbesondere in den Fächern Deutsch und Fremdsprachen, regelmäßig schlechtere Ergebnisse erzielen. Es besteht aber kein Grund zu der Annahme, ohne Notenschutz werde ihnen das Bestehen des Abiturs unmöglich gemacht oder gravierend erschwert.

37d) Handelt es sich bei der Gewährung von Notenschutz um eine durch Art. 3 Abs. 3 Satz 2 GG gedeckte, aber nicht gebotene Förderungsmaßnahme, kann der Vermerk des Notenschutzes im Abschlusszeugnis keinen grundrechtlich gewährleisteten Anspruch konterkarieren. Der Schulaufsicht obliegt im Rahmen ihres Einschätzungsspielraums auch die Entscheidung darüber, ob ein solcher Vermerk anzubringen ist. Hierfür spricht, dass der Hinweis auf den Notenschutz die Aussagekraft des Zeugnisses erhöht. Er stellt klar, inwieweit die Noten des Zeugnisinhabers nicht nach den allgemeinen Bewertungskriterien zustande gekommen sind (vgl. Langenfeld, RdJB, 2007, 211 <226>; Cremer/Kolok, DVBl 2014, 333 <337>; Ennuschat/Volino, Behindertenrecht 2009, 166 <168 f.>; Rux/Niehues, Schulrecht, 5. Auflage 2013, Rn. 518).

384. Die Unterlassung bzw. Entfernung von Zeugnisbemerkungen über gewährten Notenschutz ist weder nach Art. 24 Abs. 1 und 2 des Übereinkommens der Vereinten Nationen vom über die Rechte von Menschen mit Behinderungen (BRK) noch nach dem Allgemeinen Gleichbehandlungsgesetz - AGG - vom (BGBl. I S. 1897) geboten.

39Art. 24 Abs. 1 und 2 BRK erkennt ein diskriminierungsfreies Recht von Menschen mit Behinderung auf Bildung an. Zu diesem Zweck werden die Vertragsstaaten u.a. verpflichtet, Menschen mit Behinderung gleichberechtigt Zugang zu einem integrativen Unterricht an weiterführenden Schulen zu ermöglichen, angemessene Vorkehrungen für ihre Bedürfnisse zu treffen und ihnen die notwendige Unterstützung zur Erleichterung einer erfolgreichen Bildung zu gewähren. Diese Regelungen sind hier jedenfalls deshalb nicht unmittelbar anwendbar, weil ihnen die erforderliche Bestimmtheit fehlt. Sie enthalten Zielvorgaben für die Integration behinderter Menschen in das staatliche Schulsystem, verpflichten aber nicht zu konkreten behindertengerechten Modalitäten der Bewertung schulischer Leistungen und deren Dokumentation im Abschlusszeugnis. Daher kann dahingestellt bleiben, ob Art. 24 Abs. 1 und 2 BRK schon aufgrund des Zustimmungsgesetzes des Bundes vom (BGBl. II S. 1419) Bestandteil der deutschen Rechtsordnung ist oder ob es hierfür der Zustimmung der für das Schulwesen zuständigen Landesgesetzgeber bedarf (vgl. 6 B 33.06 - Buchholz 421.2 Hochschulrecht Nr. 163 Rn. 4; - NVwZ-RR 2010, 602 <603 f.>).

40Nach dem Allgemeinen Gleichbehandlungsgesetz sind Benachteiligungen aus Gründen einer Behinderung im Arbeitsleben einschließlich Stellenbewerbungen unzulässig (§§ 1, 2 Abs. 1 Nr. 1 AGG). Das Gesetz beansprucht keine Geltung für das Schulwesen.

415. Die grundlegenden Entscheidungen über die Gewährung von Notenschutz für behinderte Schüler sind dem Landesgesetzgeber vorbehalten. Da das Landesrecht die erforderliche gesetzliche Grundlage nach der bindenden, weil nach § 137 Abs. 1 VwGO irrevisiblen Auslegung des Verwaltungsgerichtshofs nicht enthält, steht fest, dass sowohl die Gewährung von Notenschutz für den Kläger als auch die Notenschutzvermerke in dessen Abiturzeugnis rechtswidrig waren.

42a) Der im Rechtsstaats- und Demokratieprinzip nach Art. 20 Abs. 1 und 3 GG verankerte Vorbehalt des Parlamentsgesetzes verlangt, dass staatliches Handeln in bestimmten grundlegenden Bereichen durch förmliches Gesetz legitimiert ist. Ob es einer gesetzlichen Regelung bedarf und welche Anforderungen an deren inhaltliche Bestimmtheit zu stellen sind, ist mit Blick auf den jeweiligen Sachbereich und die Eigenart des betroffenen Regelungsgegenstandes zu beurteilen. Für das Schulwesen besteht ein Gesetzesvorbehalt vor allem für Entscheidungen, die das Verhältnis zwischen der staatlichen Schulaufsicht aus Art. 7 Abs. 1 GG, den Grundrechten der Schüler und dem elterlichen Erziehungsrecht nach Art. 6 Abs. 2 Satz 1 GG austarieren oder den weiteren schulischen und beruflichen Werdegang der Schüler betreffen (BVerfG, Beschlüsse vom -1 BvR 2325/73 - BVerfGE 41, 251 <262 f.> und vom - 1 BvR 640/80 - BVerfGE 58, 257 <268 f.>). Erfasst werden auch Entscheidungen, die Ausbildungsgänge und Unterrichtsziele in wesentlichen Punkten ändern, insbesondere Neuerungen einführen (, 95/71 - BVerfGE 34, 165 <192 f.>; Beschlüsse vom - 1 BvR 799/76 - BVerfGE 45, 400 <417 f.> und vom - 1 BvL 1/75, 1 BvR 147/75 - BVerfGE 47, 46 <78 f.>; 7 C 95.80 - BVerwGE 64, 308 <313>).

43b) Danach unterfallen die Entscheidungen über die Gewährung von Notenschutz und dessen inhaltliche Ausgestaltung jedenfalls für schulische Abschlussprüfungen dem Gesetzesvorbehalt. Einerseits verbessert der Notenschutz die Erfolgschancen von Schülern mit Behinderung; er dient der Förderung ihrer grundrechtlich geschützten schulischen und beruflichen Entfaltungs- und Betätigungsmöglichkeiten (vgl. unter 3.b, S. 11). Andererseits müssen die Auswirkungen des Notenschutzes auf die Chancengleichheit und auf die schulischen Ausbildungsziele in Erwägung gezogen werden. Die Einführung des Notenschutzes hat stets Auswirkungen auf die Aussagekraft des Schulabschlusses, der durch das Abschlusszeugnis dokumentiert wird. Je weiter der Notenschutz reicht, desto mehr wird auf einheitliche Lernziele, Leistungsanforderungen und ein einheitliches Qualifikationsniveau der Schulabschlüsse zugunsten einer begabtengerechten Förderung verzichtet. So wird durch den Verzicht auf die Bewertung von Rechtschreibleistungen in Abiturprüfungen auf den Nachweis einer Fähigkeit verzichtet, die als grundlegend für eine akademische Ausbildung angesehen wird (vgl. Bekanntmachung des Bayerischen Staatsministeriums für Unterricht und Kultus vom , unter II).

44Wegen der weitreichenden Bedeutung des Notenschutzes reicht es nicht aus, dass der Gesetzgeber den Verordnungsgeber ohne inhaltliche Vorgaben zur Regelung dieser Sachmaterie ermächtigt. Er wird zumindest den begünstigten Personenkreis allgemein umschreiben, die erfassten schulischen Abschlussprüfungen anführen und bestimmen müssen, auf welche Weise Notenschutz gewährt wird. Als Maßnahme kommt nicht ausschließlich in Betracht, individuelle Defizite bei der Bewertung von Prüfungsleistungen nicht oder vermindert zu berücksichtigen. Stattdessen können Zu- und Abschläge bei der Notengebung vorgesehen oder abweichende Mindestanforderungen für Versetzung und Schulabschluss festgelegt werden. Auch ist wegen der Grundrechtsrelevanz eine Grundentscheidung des Gesetzgebers darüber geboten, ob der gewährte Notenschutz im Zeugnis zu dokumentieren ist.

45c) Unterliegen Notenschutzregelungen in dem dargestellten Umfang dem Vorbehalt des Parlamentsgesetzes, sind derartige Regelungen in Rechtsverordnungen wegen Verstoßes gegen das Rechtsstaats- und Demokratieprinzip nach Art. 20 Abs. 1 und 3 GG nichtig, wenn eine gesetzliche Verordnungsermächtigung fehlt. Dies lässt der Verwaltungsgerichtshof außer Acht, wenn er der Bayerischen Gymnasialschulordnung i.d.F. vom (GVBl S. 318) ein Verbot von Notenschutzvermerken im Abiturzeugnis entnimmt, obwohl er zuvor bindend feststellt, dass die erforderliche landesgesetzliche Grundlage für die Gewährung von Notenschutz einschließlich der Folgen fehlt.

466. Für die in der Vergangenheit liegenden Abiturprüfungen stellt die Bekanntmachung vom weiterhin die Rechtsgrundlage sowohl für die Gewährung von Notenschutz als auch für dessen Vermerk im Abiturzeugnis dar. Das Fehlen der erforderlichen landesgesetzlichen Regelungen kann nicht dazu führen, dass Schüler den ihnen rechtswidrig gewährten Notenschutz "behalten", aber die Entfernung der Zeugnisbemerkungen verlangen können.

47a) In der Rechtsprechung des Bundesverfassungs- und des Bundesverwaltungsgerichts ist anerkannt, dass es unter bestimmten Voraussetzungen mit dem Rechtsstaatsprinzip nach Art. 20 Abs. 3 GG vereinbar ist, inhaltlich nicht zu beanstandende Regelungen, die einem bereichsspezifischen Gesetzesvorbehalt nicht genügen, für einen Übergangszeitraum weiter anzuwenden. Dies ist der Fall, wenn und soweit die Anwendung unerlässlich ist, um grundrechtlich geschützte Rechtspositionen zu wahren oder die Funktionsfähigkeit der staatlichen Verwaltung sicherzustellen. Die vorübergehende Fortgeltung der Regelungen wird in Kauf genommen, um noch verfassungsfernere Zustände zu vermeiden (BVerfG, Beschlüsse vom - 1 BvR 2325/73 - BVerfGE 41, 251 <266 f.>; vom - 1 BvR 640/80 - BVerfGE 58, 257 <280 f.>; vom - 2 BvL 1/84 - BVerfGE 79, 245 <250 f.>; - BVerfGE 116, 69 <92 f.>; 7 C 57.79 - BVerwGE 64, 238 <244 f.> und vom - 2 C 50.02 - BVerwGE 121, 103 <111>). Diese Erwägungen müssen erst Recht für die Rückabwicklung von Rechtsbeziehungen mit Wirkung für die Vergangenheit gelten, für die es an der erforderlichen gesetzlichen Grundlage fehlt.

48b) Das Regelungskonzept der Bekanntmachung vom sieht vor, legasthenen Schülern Notenschutz auf Antrag nur um den Preis des Vermerks im Abiturzeugnis zu gewähren. Die Schüler bzw. ihre Sorgeberechtigten wurden auf diesen Zusammenhang rechtzeitig hingewiesen. Diese Bestimmungen sind inhaltlich nicht zu beanstanden: Der Notenschutz ist durch Art. 3 Abs. 3 Satz 2 GG gedeckt; es bestehen keine verfassungsunmittelbaren Ansprüche, Hinweise darauf im Abschlusszeugnis zu unterlassen (vgl. unter 2. und 3., Seiten 7 ff.).

49Aufgrund des rechtswidrig gewährten Notenschutzes weisen die Abiturzeugnisse der Schüler, die wie der Kläger Notenschutz in Anspruch genommen haben, Noten aus, die rechtswidrig zustande gekommen sind. Dies zieht zwangsläufig die Rechtswidrigkeit des Notendurchschnitts nach sich. Rechtmäßige Verhältnisse könnten nur dadurch hergestellt werden, dass alle für das Abitur bedeutsamen schriftlichen Prüfungsleistungen nach den allgemeinen Maßstäben ohne Notenschutz erneut bewertet und anschließend die Abiturnoten neu festgesetzt würden. Dies dürfte bereits deshalb nicht in Frage kommen, weil die Schüler die Leistungen in dem Bewusstsein erbracht haben, wegen des Notenschutzes nicht auf Rechtschreibung achten zu müssen. Jedenfalls sind erneute Bewertungen und Notenbildungen wegen der inzwischen vergangenen Zeit und der Vielzahl der schriftlichen Prüfungsleistungen aus tatsächlichen Gründen nicht mehr möglich. Da Wiederholungen der schriftlichen Prüfungen offensichtlich nicht in Betracht kommen, kann der Notenschutz, den der Beklagte in der Vergangenheit legasthenen Schülern rechtswidrig gewährt hat, nicht mehr rückgängig gemacht werden.

50Aufgrund dessen ist der Beklagte aus Gründen der Chancengleichheit und der Aussagekraft der Abiturzeugnisse berechtigt, auch die materiell-rechtlich zulässigen Zeugnisbemerkungen über den Notenschutz beizubehalten. Durch deren Entfernung erhielte der Kläger einen unberechtigten Vorteil insbesondere gegenüber denjenigen Schülern mit Lese- und Rechtschreibstörung, die sich bewusst nicht um Notenschutz bemüht haben.

51Auch erscheint es gerechtfertigt, die bisherige Verwaltungspraxis des Notenschutzes noch für das Schuljahr 2015/2016 anzuwenden. Die Schüler, die 2016 das Abitur ablegen, bzw. ihre Sorgeberechtigten mussten sich bereits bei Beginn der gymnasialen Oberstufe entscheiden, ob sie Notenschutz mit der Folge des Vermerks im Abiturzeugnis in Anspruch nehmen. Ihr Vertrauen darauf, dass die getroffene Entscheidung bis zum Abitur gilt, ist schutzwürdig. Hinzu kommt, dass die bereits erbrachten schriftlichen Prüfungsleistungen aus den genannten Gründen schwerlich erneut bewertet werden können.

52c) Durch den Vermerk gewährten Notenschutzes im Zeugnis werden Legastheniker gegenüber Schülern mit anderen Behinderungen nicht gleichheitswidrig benachteiligt. Die darauf bezogenen Ausführungen des Klägers verkennen den Zweck des Vermerks. Es geht nicht darum, eine Behinderung zu dokumentieren, sondern den Verzicht auf allgemein geltende Leistungsanforderungen transparent zu machen. Notenschutz durch Änderung des allgemeinen Maßstabs für die Leistungsbewertung unterscheidet sich grundlegend von der Änderung äußerer Prüfungsbedingungen zur Herstellung gleicher Erfolgschancen (Nachteilsausgleich) sowie von der Befreiung der Teilnahme am Unterricht und dem Verzicht auf die Vergabe von Noten in einzelnen Fächern. Unterrichtsbefreiung und Notenverzicht kommen im Zeugnis zum Ausdruck, ohne dass gesondert darauf hingewiesen werden müsste. Im Übrigen lässt die vom Kläger behauptete Praxis die Berechtigung für Zeugnisbemerkungen über gewährten Notenschutz nicht entfallen.

53d) Die Bemerkungen im Abiturzeugnis des Klägers sind inhaltlich nicht zu beanstanden. Sie geben zutreffend Aufschluss, welche Maßnahmen des Notenschutzes der Kläger in Anspruch genommen hat. Der Kläger kann sich nicht darauf berufen, dass Bemerkungen in anderen Abiturzeugnissen unvollständig sind.

54Die Kostenentscheidung folgt aus § 154 Abs. 2 VwGO.

ECLI Nummer:
ECLI:DE:BVerwG:2015:290715U6C35.14.0

Fundstelle(n):
KAAAF-05080