BAG Urteil v. - 5 AZR 459/13

Instanzenzug: ArbG Wilhelmshaven Az: 1 Ca 74/12 Urteilvorgehend Landesarbeitsgericht Niedersachsen Az: 8 Sa 1082/12 Urteil

Tatbestand

1Die Parteien streiten wegen einer Altersstufenregelung über die Höhe der geschuldeten Vergütung im Zeitraum Juni 2011 bis Mai 2012.

2Die am geborene Klägerin ist seit dem bei der Beklagten als Gruppenleiterin (Erzieherin) beschäftigt.

3Im Arbeitsvertrag vom heißt es ua.:

4Am vereinbarte die Beklagte mit der Gewerkschaft Öffentliche Dienste, Transport und Verkehr den Rahmentarifvertrag 2000 (im Folgenden RTV), den Vergütungstarifvertrag 2001 (im Folgenden VTV 2001) und den Zulagentarifvertrag 2001 (im Folgenden ZTV 2001).

5Der RTV regelt ua.:

6In Anlage 1 des VTV 2001 heißt es auszugsweise:

7Im ZTV 2001 ist ua. geregelt:

8Die Beklagte kündigte den RTV zum . Anschließend mit der Gewerkschaft ver.di geführte Tarifverhandlungen führten zu keiner Einigung.

9Zum erhöhte die Beklagte bei allen Arbeitnehmern die bisherige Vergütung um 1,7 %. In einer von der Beklagten für die Mitarbeiter der Personalabteilung als Arbeitshilfe erstellten Vergütungstabelle (im Folgenden Vergütungstabelle April 2003) sind Grundvergütung, Ortszuschlag und Allgemeine Zulage unter Berücksichtigung der Erhöhung umgerechnet in Euro angegeben. Darin heißt es auszugsweise:

10Eine am geschlossene „Betriebsvereinbarung zur vertraglichen Gestaltung von Arbeitsverhältnissen ab dem “ (im Folgenden BV 2008) regelt ua. die Entgeltgrundsätze (§ 9b), Tätigkeitsmerkmale und Entgeltgruppen (§ 9c) sowie die Entgelthöhe, die Entgeltbereiche und -stufen (§§ 9d ff.). Zum Geltungsbereich der BV 2008 bestimmt diese:

11Die Klägerin wurde im Streitzeitraum nach Vergütungsgruppe Vb Stufe 7 vergütet.

12Nach erfolgloser außergerichtlicher Geltendmachung verlangt die Klägerin mit ihrer am eingereichten, mit Schriftsatz vom erweiterten Klage für den Zeitraum Juni 2011 bis Mai 2012 die Differenz zwischen den von der Beklagten als Grundvergütung, Vergütungszulage und Weihnachtsgeld nach Vergütungsgruppe Vb Stufe 7 gezahlten und den sich jeweils unter Zugrundelegung von Vergütungsgruppe Vb Stufe 10 - in rechnerisch unstreitiger Höhe - ergebenden Beträgen. Sie hat geltend gemacht, die Staffelung der Vergütung nach Lebensaltersstufen benachteilige sie unzulässig wegen des Alters.

13Die Klägerin hat zuletzt sinngemäß beantragt,

14Die Beklagte hat Klageabweisung beantragt und geltend gemacht, sie genieße Vertrauensschutz, weil der RTV vor Inkrafttreten der RL 2000/78/EG und des AGG abgeschlossen worden sei und sie zu diesem Zeitpunkt von der Wirksamkeit der tariflichen Regelungen habe ausgehen dürfen. Die Klägerin habe keinen Anspruch auf Anpassung ihrer Vergütung nach oben. Sie habe die ihr angebotene Überführung in die Regelungen der BV 2008 nicht angenommen.

15Das Arbeitsgericht hat die Klage abgewiesen. Das Landesarbeitsgericht hat ihr auf die Berufung der Klägerin stattgegeben. Mit der vom Landesarbeitsgericht zugelassenen Revision begehrt die Beklagte die Wiederherstellung des erstinstanzlichen Urteils.

Gründe

16Die Revision der Beklagten ist unbegründet. Das Landesarbeitsgericht hat der Klage zu Recht stattgegeben. Die Klage ist begründet. Der Klägerin stehen nach §§ 1, 3 Abs. 1 iVm. § 7 Abs. 1 und Abs. 2 AGG für den Streitzeitraum Grundvergütung, Vergütungszulage und Weihnachtsgeld berechnet nach Vergütungsgruppe Vb Stufe 10 abzüglich der von der Beklagten unter Zugrundelegung von Vergütungsgruppe Vb Stufe 7 geleisteten Zahlungen zu. Die Beibehaltung der in § 6 RTV iVm. Anlage 1 VTV 2001 geregelten Altersstufen als Basis für die Berechnung der Grundvergütung, der Vergütungszulage und des Weihnachtsgelds verstößt gegen das Verbot der Altersdiskriminierung (§ 7 Abs. 1 AGG iVm. § 1 AGG). Die aufgrund betrieblicher Übung Vertragsinhalt gewordene Vergütungsregelung ist nach § 7 Abs. 2 AGG unwirksam, soweit sie jüngere Arbeitnehmer diskriminiert (vgl.  - Rn. 31, BAGE 140, 1). Die Ungleichbehandlung kann nur durch eine Anpassung der Vergütung nach oben beseitigt werden.

17I. Die Beklagte vergütet ihre Arbeitnehmer seit auf der Grundlage einer die Höhe des Entgeltanspruchs bestimmenden betrieblichen Übung. Dies ergibt die Auslegung des Verhaltens der Parteien.

181.  Die vom Landesarbeitsgericht unterlassene - grundsätzlich den Tatsachengerichten vorbehaltene (st. Rspr., vgl.  - Rn. 23; - 3 AZR 435/12 - Rn. 18) - Auslegung des dem tatsächlichen Verhalten der Parteien zukommenden Erklärungswerts kann der Senat selbst vornehmen. Die für die Begründung einer Zahlungsverpflichtung der Beklagten erheblichen Tatsachen hat das Landesarbeitsgericht festgestellt. Die Vergütungspraxis der Beklagten ist zudem zwischen den Parteien unstreitig.

192. Von einer betrieblichen Übung ist bei regelmäßiger Wiederholung bestimmter Verhaltensweisen des Arbeitgebers auszugehen, aus denen die Arbeitnehmer schließen können, ihnen solle eine Leistung oder eine Vergünstigung auf Dauer eingeräumt werden. Aus diesem als Vertragsangebot zu wertenden Verhalten des Arbeitgebers, das von den Arbeitnehmern in der Regel stillschweigend angenommen wird (§ 151 BGB), erwachsen vertragliche Ansprüche auf die üblich gewordenen Leistungen. Entscheidend für die Entstehung eines Anspruchs ist nicht der Verpflichtungswille, sondern wie der Erklärungsempfänger die Erklärung oder das Verhalten des Arbeitgebers nach Treu und Glauben unter Berücksichtigung aller Begleitumstände (§§ 133, 157 BGB) verstehen musste und durfte. Im Wege der Auslegung des Verhaltens des Arbeitgebers ist zu ermitteln, ob die Belegschaft davon ausgehen musste, die Leistung werde nur unter bestimmten Voraussetzungen oder nur für eine bestimmte Zeit gewährt ( - Rn. 20, BAGE 133, 337). Liegen die Voraussetzungen des § 151 Satz 1 BGB vor, wird allerdings nur die Verlautbarung der Vertragsannahme gegenüber dem Antragenden entbehrlich, nicht aber die Annahme als solche. Ein Schluss auf einen entsprechenden Annahmewillen ist jedoch gewöhnlich dann gerechtfertigt, wenn der Erklärungsempfänger ein für ihn lediglich vorteilhaftes Angebot nicht durch eine nach außen erkennbare Willensäußerung abgelehnt hat ( - Rn. 62).

203. Die Beklagte hat ihren Arbeitnehmern, jedenfalls soweit sie vor dem eingetreten sind (vgl. § 1 und § 19 BV 2008), seit differenziert nach Vergütungsgruppen und Altersstufen in der durch die Vergütungstabelle April 2003 ausgewiesenen Höhe eine um 1,7 % erhöhte Vergütung und darüber hinaus - berechnet aus der Summe von Grundvergütung, Ortszuschlag und allgemeiner Zulage - ein (erhöhtes) Weihnachtsgeld und eine Vergütungszulage gewährt.

21Die Leistungen beruhten auf einem generalisierenden Prinzip, das hinsichtlich der Grundvergütung und der allgemeinen Zulage in der Vergütungstabelle April 2003 lediglich schriftlich festgehalten wurde. Die von der Beklagten geübte Praxis konnte von den Arbeitnehmern als Angebot gewertet werden, die Beklagte werde auch künftig Vergütung in entsprechender Höhe zahlen. Mit dem Bekanntwerden der allen vor dem eingetreten Arbeitnehmern gewährten Leistungen in Verbindung mit dem Gesichtspunkt des Gleichbehandlungsgrundsatzes wurde ein zurechenbarer objektiver Bindungswille der Beklagten deutlich (vgl.  - Rn. 23). Die Beklagte selbst behauptet nicht, die künftige Vergütungshöhe und deren Bestandteile seien nicht verbindlich oder nur unter Einschränkungen zugesagt worden. Die Arbeitnehmer sind den Entgelterhöhungen, die im Vergleich zu den bisher geltenden Entgeltsätzen für sie ausschließlich vorteilhaft waren, nicht entgegengetreten.

224. Der Entstehung eines Anspruchs aus betrieblicher Übung steht die in Nr. 11 des Arbeitsvertrags für Vertragsänderungen vereinbarte Schriftform nicht entgegen. Eine einfache Schriftformklausel, nach der Änderungen und Ergänzungen des Vertrags zu ihrer Gültigkeit der Schriftform bedürfen, kann formlos, ausdrücklich oder durch konkludentes Verhalten, abbedungen werden. Dies kann - wie hier - auch durch eine formfreie betriebliche Übung geschehen ( - Rn. 17 mwN, BAGE 126, 364; - 3 AZR 511/11 - Rn. 75). Entscheidend ist, dass Arbeitgeber und Arbeitnehmer das formlos Vereinbarte übereinstimmend wollen, selbst wenn sie nicht an die Formvorschrift gedacht haben ( - Rn. 20). Hierfür spricht vorliegend die tatsächliche Vertragsdurchführung.

23II. Die Wirksamkeit der Vergütungsregelung ist, auch soweit diese vor dem begründet wurde, für den Streitzeitraum an den Bestimmungen des AGG vom zu messen.

241. Das AGG regelt nicht rückwirkend Sachverhalte, die bei Inkrafttreten des Gesetzes am bereits abgeschlossen waren ( - Rn. 33, BAGE 129, 72), es findet jedoch Anwendung, wenn die Benachteiligung auf einer vor Inkrafttreten des AGG geschlossenen Vereinbarung beruht und der Sachverhalt bei Inkrafttreten des AGG noch nicht abgeschlossen war. § 33 Abs. 1 AGG enthält keine entgegenstehende Übergangsregelung. Entscheidend ist allein der Zeitpunkt der Benachteiligungshandlung (vgl.  - Rn. 18, BAGE 133, 265; - 9 AZR 529/10 - Rn. 12, BAGE 141, 73). Die von der Klägerin geltend gemachte Benachteiligung beruht zwar auf der Beibehaltung der bereits vor dem geltenden Altersstufen des § 6 RTV, auf deren Grundlage die Höhe der Grundvergütung, der Vergütungszulage und des Weihnachtsgelds festgelegt wurde. Sie ist jedoch hinsichtlich der streitgegenständlichen Vergütungsansprüche erst nach dem Inkrafttreten des AGG eingetreten.

252. Nach § 7 Abs. 1 Halbs. 1 AGG dürfen Beschäftigte nicht wegen eines in § 1 AGG genannten Grundes benachteiligt werden. Hiergegen verstößt die Altersstufenregelung.

26a) Der Begriff der Benachteiligung bestimmt sich nach § 3 AGG. Eine unmittelbare Benachteiligung liegt nach § 3 Abs. 1 Satz 1 AGG vor, wenn eine Person wegen eines in § 1 AGG genannten Grundes eine weniger günstige Behandlung erfährt, als eine andere Person in einer vergleichbaren Situation erfährt, erfahren hat oder erfahren würde. Der für eine unmittelbare Benachteiligung erforderliche Kausalzusammenhang ist gegeben, wenn die Benachteiligung an einen oder mehrere in § 1 AGG genannte Gründe anknüpft ( - Rn. 14, BAGE 141, 73; - 9 AZR 956/12 - Rn. 13).

27b) Daran gemessen liegt eine unmittelbare Diskriminierung wegen Alters vor. Dies ergibt die Auslegung von § 6 RTV, dessen Altersstufenregelung von der Beklagten als Bestandteil der betrieblichen Übung übernommen wurde.

28aa) Die Stufenzuordnung knüpft in allen Stufen unmittelbar an das Lebensalter der Beschäftigten an. Dies ergibt sich aus § 6 Abs. 3 RTV, wonach die erstmalige Einstufung in eine bestimmte Stufe einer Vergütungsgruppe allein anhand des Alters erfolgt. Hinsichtlich des Stufenaufstiegs stellen § 6 Abs. 4 und Abs. 5 RTV ebenfalls auf das Lebensalter ab, auch wenn die Zunahme des Lebensalters im bestehenden Arbeitsverhältnis mit einer höheren Betriebszugehörigkeit einhergeht. Ein älterer Arbeitnehmer mit geringer Betriebszugehörigkeit wird, auch wenn man die Regelungen in § 6 Abs. 4 und Abs. 5 RTV berücksichtigt, stets einer höheren Stufe zugeordnet als ein jüngerer Arbeitnehmer mit einer längeren Betriebszugehörigkeit.

29bb) Arbeitnehmer wie die Klägerin, die die höchste Altersstufe nicht erreicht haben, werden wegen ihres Lebensalters unmittelbar benachteiligt. Ihnen stehen im Vergleich zu älteren Arbeitnehmern, die der höchsten Altersstufe zuzuordnen sind, die streitgegenständlichen Vergütungsbestandteile Grundvergütung, Vergütungszulage und Weihnachtsgeld in geringerer Höhe zu.

30c) Die Ungleichbehandlung ist nicht gerechtfertigt. Eine unmittelbar auf dem Alter beruhende Ungleichbehandlung kann nach § 10 AGG unter den dort genannten Voraussetzungen zulässig sein. § 10 Satz 1 AGG gestattet die unterschiedliche Behandlung wegen des Alters, wenn diese objektiv und angemessen und durch ein legitimes Ziel gerechtfertigt ist. Jedoch müssen nach § 10 Satz 2 AGG die Mittel zur Erreichung dieses Ziels angemessen und erforderlich sein. Die Beklagte hat sich nicht auf Ziele berufen, die einen an das Alter anknüpfenden Stufenaufstieg rechtfertigen könnten. Wollte man annehmen, § 6 RTV ziele auf eine Berücksichtigung der Berufserfahrung, ginge die Regelung über das hinaus, was zur Erreichung des Ziels erforderlich und angemessen ist. Ein Kriterium, das auf die Betriebszugehörigkeit oder die Berufserfahrung abstellte, wäre zur Erreichung dieses Ziels geeigneter (vgl. und C-298/10 - Rn. 77, Slg. 2011, I-7965).

313. Die Diskriminierung der Klägerin kann nur durch eine Verpflichtung der Beklagten, sie nach Vergütungsgruppe Vb Stufe 10 zu vergüten, beseitigt werden.

32a) Nach § 7 Abs. 2 AGG führt ein Verstoß gegen das Benachteiligungsverbot des Abs. 1 zur Unwirksamkeit der betreffenden Regelung. Kann die Benachteiligung nicht durch die Nichtanwendung der Regelung, sondern nur durch eine Anpassung „nach oben“ beseitigt werden, führt dies dazu, dass dem benachteiligten Arbeitnehmer ein Anspruch auf die vorenthaltene Leistung zuzuerkennen ist ( - Rn. 21, BAGE 140, 1; - 9 AZR 529/10 - Rn. 30, BAGE 141, 73; - 1 AZR 44/12 - Rn. 25, BAGE 145, 113).

33b) So verhält es sich hier. Die Beklagte kann den von der Altersstufenregelung begünstigten Arbeitnehmern für die Vergangenheit keine Leistungen entziehen. Der Grundsatz der Gleichbehandlung kann bei Bestehen einer Diskriminierung, solange keine Regelungen zur Wiederherstellung der Gleichbehandlung erfolgen, nur dadurch gewährleistet werden, dass den Angehörigen der benachteiligten Gruppe dieselben Vorteile gewährt werden wie den Angehörigen der privilegierten Gruppe. Die bestehende Regelung bleibt für die nicht benachteiligten Arbeitnehmer solange das einzig gültige Bezugssystem (vgl.  - Rn. 51;  - Rn. 31, BAGE 140, 1).

344. Die Beklagte kann keinen Vertrauensschutz in Anspruch nehmen.

35a) Die Wirksamkeit einer vertraglichen Vereinbarung richtet sich grundsätzlich nach dem im Zeitpunkt des Vertragsschlusses geltenden Recht. Verbotsgesetze können bereits wirksam begründete Dauerschuldverhältnisse jedoch in der Weise erfassen, dass diese für die Zukunft („ex nunc“) nichtig werden. Das setzt voraus, dass Sinn und Zweck des Verbotsgesetzes die für die Zukunft eintretende Nichtigkeit erfordern. Gilt ein Verbotsgesetz ohne Übergangsregelung, erstreckt sich das Verbot auf alle Sachverhalte, die sich seit seinem Inkrafttreten in seinem Geltungsbereich verwirklichen. Der zeitliche Geltungsbereich wird nur durch den Grundsatz des Vertrauensschutzes beschränkt ( - Rn. 38, BAGE 129, 72).

36b) Gemäß § 1 AGG ist ua. Ziel dieses Gesetzes, Benachteiligungen aus Gründen des Alters nicht nur zu verhindern, sondern auch zu beseitigen. Die mit der begrenzten Übergangsregelung in § 33 AGG einhergehende unechte Rückwirkung für Sachverhalte, die aus vor dem abgeschlossen arbeitsvertraglichen Vereinbarungen resultieren, ist unter Beachtung des Grundsatzes des Vertrauensschutzes zulässig.

37aa) Die Anwendung der Bestimmungen des AGG auf die von der Klägerin für den Streitzeitraum geltend gemachten Vergütungsansprüche beinhaltet keine echte, sondern lediglich eine unechte Rückwirkung.

38Eine Rechtsnorm entfaltet echte Rückwirkung, wenn sie in einen abgeschlossenen Sachverhalt nachträglich ändernd eingreift ( - Rn. 43, BAGE 147, 373). Um eine unechte Rückwirkung handelt es sich demgegenüber, wenn eine Norm auf gegenwärtige, noch nicht abgeschlossene Sachverhalte und Rechtsbeziehungen für die Zukunft einwirkt und damit zugleich die betroffene Rechtsposition entwertet. Das ist der Fall, wenn - wie hier - belastende Rechtsfolgen einer gesetzlichen Regelung erst nach ihrer Verkündung eintreten, tatbestandlich aber von einem bereits „ins Werk gesetzten“ Sachverhalt ausgelöst werden („tatbestandliche Rückanknüpfung“, vgl. ua. - Rn. 55, BVerfGE 127, 1;  - Rn. 46, aaO).

39bb) Unechte Rückwirkung ist grundsätzlich zulässig.

40(1) Grenzen ihrer Zulässigkeit können sich allerdings aus dem Grundsatz des Vertrauensschutzes und dem Verhältnismäßigkeitsprinzip ergeben. Diese Grenzen sind erst überschritten, wenn die vom Gesetzgeber angeordnete unechte Rückwirkung nicht geeignet oder erforderlich ist, um den Gesetzeszweck zu erreichen, oder wenn die Bestandsinteressen der Betroffenen die Veränderungsgründe des Gesetzgebers überwiegen. Knüpft der Gesetzgeber für künftige Rechtsfolgen an zurückliegende Sachverhalte an, sind die Interessen der Allgemeinheit, die mit der Regelung verfolgt werden, und das Vertrauen des Einzelnen auf die Fortgeltung der Rechtslage abzuwägen. Der vom Gesetzgeber zu beachtende Vertrauensschutz geht nicht so weit, den normunterworfenen Personenkreis vor Enttäuschungen zu bewahren ( - Rn. 46, BAGE 147, 373). Die bloße allgemeine Erwartung, das geltende Recht werde künftig unverändert fortbestehen, genießt keinen verfassungsrechtlichen Schutz, wenn keine besonderen Momente der Schutzwürdigkeit hinzutreten (vgl. ua. - Rn. 57, BVerfGE 127, 1). Die Schutzwürdigkeit des Vertrauens in die Wirksamkeit einer Regelung bestimmt sich ua. danach, inwieweit vorhersehbar war, dass diese als (unions-)rechtswidrig eingeordnet würde (vgl.  - Rn. 25).

41(2) Nach diesen Maßstäben ist das von der Beklagten in ein Fortbestehen der Gesetzeslage und die Wirksamkeit der Altersstufenregelung nach § 6 RTV gesetzte Vertrauen nicht schutzwürdig. Der Zweck des AGG, in Umsetzung der RL 2000/78/EG Ungleichbehandlungen zu beseitigen, kann, wie bereits unter II. 3. ausgeführt, nur durch eine Anpassung der Vergütung der Klägerin nach oben erreicht werden. Die Richtlinie 2000/78/EG trat schon am in Kraft und stellt in Art. 16 Buchst. b ausdrücklich klar, dass die Diskriminierungsverbote auch auf tarifvertragliche Bestimmungen Anwendung finden. Nach Art. 18 der Richtlinie 2000/78/EG war diese zudem spätestens zum in nationales Recht umzusetzen. Die Beklagte musste damit rechnen, dass tarifvertragliche Regelungen auch am Verbot der Altersdiskriminierung gemessen werden. Deshalb konnte die Beklagte nicht darauf vertrauen, die Altersstufenregelung des § 6 RTV könne, soweit sie jüngere Arbeitnehmer benachteiligt, nach Inkrafttreten des AGG Bestand haben (vgl.  - Rn. 32, BAGE 141, 73). Das Vertrauen der Beklagten ist auch nicht aufgrund des Scheiterns der im Jahr 2006 geführten Tarifverhandlungen schutzwürdig. Hierin hat sich lediglich das allgemeine Lebensrisiko verwirklicht. Ob die Erstreckung der in der BV 2008 vorgesehenen Übergangsregelungen über deren Geltungsbereich hinaus auf die vor dem eingetretenen Arbeitnehmer den Anforderungen von § 1 AGG genügt hätte (vgl. zur Zulässigkeit befristeter Übergangsregelungen und C-298/10 - Rn. 99, Slg. 2011, I-7965) und unter Beachtung von § 87 Abs. 1 Satz 1 Nr. 10 und § 77 Abs. 3 BetrVG möglich gewesen wäre, kann dahingestellt bleiben. Die Beklagte hat das von ihr behauptete und von der Klägerin bestrittene Überleitungsangebot und dessen Inhalt nicht dargelegt. Die Annahme eines solchen Angebots durch die Klägerin hätte zudem nicht zu einer Gleichbehandlung mit den von der bisherigen Altersstufenregelung begünstigten Arbeitnehmern führen können.

425. Eine Vorlage nach Art. 267 Abs. 3 AEUV ist nicht geboten. Die Auslegung des den Vorschriften des AGG zugrunde liegenden unionsrechtlichen Verbots der Diskriminierung wegen des Alters ist durch die Entscheidung des Gerichtshofs vom in den Rechtssachen Hennings und Mai (- C-297/10 und C-298/10 - Slg. 2011, I-7965) geklärt. Einer Vorabentscheidung zur Klärung der Frage, ob eine individuelle „Anpassung nach oben“ zwingend vorzunehmen ist, bedarf es ebenfalls nicht. Der Gerichtshof überlässt es in gefestigter Rechtsprechung den nationalen Gerichten, im Rahmen ihrer Zuständigkeiten den rechtlichen Schutz, der sich für den Einzelnen aus dem Unionsrecht ergibt, zu gewährleisten und die volle Wirksamkeit des Unionsrechts zu garantieren ( - Rn. 77, Slg. 2005, I-9981; - C-187/00 - Slg. 2003, I-2741). In Fällen dieser Art bedarf es keiner Vorlage an den EuGH ( - Rn. 53, Slg. 2010, I-365;  - Rn. 28, BAGE 145, 113).

436. Die Höhe der geschuldeten Differenzvergütung ist nach der von der Revision nicht angegriffenen tatsächlichen Feststellung des Landesarbeitsgerichts unstreitig. Auch die Wahrung der in § 19 RTV geregelten Ausschlussfrist durch die Klägerin steht zwischen den Parteien außer Streit.

447. Das Landesarbeitsgericht hat der Klägerin zutreffend die geforderten Prozesszinsen ab dem Folgetag der jeweiligen Rechtshängigkeit der Klageforderungen zugesprochen, §§ 291, 288 Abs. 1 Satz 2, § 187 Abs. 1 BGB (vgl.  - Rn. 27; - 5 AZR 1048/12 - Rn. 37).

45III. Die Kostenentscheidung beruht auf § 97 Abs. 1 ZPO.

ECLI Nummer:
ECLI:DE:BAG:2015:250315.U.5AZR459.13.0

Fundstelle(n):
GAAAE-98374