Anforderungen an die Urteilsbegründung bei Annahme eines angeblichen Organisationsverschuldens in der Kanzlei des Prozessbevollmächtigten; Absehen von einer angeordneten Beweisaufnahme (hier: Vernehmung von Zeugen)
Gesetze: FGO § 115 Abs. 2 Nr. 3, FGO § 116 Abs. 6, FGO § 119 Nr. 6, FGO § 56, FGO § 105 Abs. 2 Nr. 5
Instanzenzug:
Tatbestand
1 I. Die Klägerin und Beschwerdeführerin (Klägerin), eine GmbH, betreibt ein Unternehmen für Reinigungen jeglicher Art. Sie nahm in den Streitjahren (2007 und 2008) aus Rechnungen einer Firma D über Küchenreinigungsleistungen in einem Hotel in . den Vorsteuerabzug vor.
2 Der Beklagte und Beschwerdegegner (das Finanzamt —FA—) versagte nach Durchführung einer Außenprüfung bei der Klägerin in den Umsatzsteuer-Änderungsbescheiden für die Streitjahre vom den Vorsteuerabzug mit der Begründung, es sei zweifelhaft, ob D die abgerechneten Leistungen tatsächlich erbracht habe.
3 Den Einspruch der Klägerin, mit dem sie vorbrachte, D habe diese Leistungen tatsächlich erbracht, wies das FA durch Einspruchsentscheidung vom als unbegründet zurück. Die Einspruchsentscheidung wurde der Prozessbevollmächtigten der Klägerin (P) an die damaligen Bevollmächtigten der Klägerin, der . Steuerberatungsgesellschaft (R), per Einschreiben mit Rückschein bekanntgegeben. Auf dem Auslieferungsvermerk ist bestätigt, dass R die Einspruchsentscheidung am erhalten hat.
4 Der Einzelrichter, auf den der Senat den Rechtsstreit durch Beschluss vom übertragen hatte, wies die am erhobene Klage nach Vernehmung der Zeugin S ab. Das Finanzgericht (FG) führte aus, die Klage sei unzulässig, da sie offensichtlich erst nach Ablauf der Klagefrist (§ 47 der Finanzgerichtsordnung —FGO—) erhoben worden sei. Die beantragte Wiedereinsetzung sei nicht zu gewähren, da sich das FG im Anschluss an die Beweisaufnahme nicht davon habe überzeugen können, dass die Klägerin die Klagefrist ohne Verschulden versäumt habe. Vielmehr sprächen die dem Gericht erkennbaren Umstände —nämlich die (im Einzelnen wiedergegebenen) Aussagen der Zeugin, denen die Klägerin nicht widersprochen habe— für ein (nicht näher bezeichnetes) Organisationsverschulden ihrer Bevollmächtigten. Nähere Angaben dazu, wie im Einzelnen gewährleistet worden sei, dass S Post, deren Zugang einen Fristablauf auslösen könne, namentlich von P stets vor Fristablauf erhalte, vermöge das Gericht in der Gesamtschau der Akten einerseits und den Angaben der Zeugin andererseits nicht zu erkennen.
5 Mit der Beschwerde rügt die Klägerin Verfahrensfehler i.S. des § 115 Abs. 2 Nr. 3 FGO.
Gründe
6 II. Die Beschwerde ist begründet; sie führt zur Aufhebung der Vorentscheidung und zur Zurückverweisung des Rechtsstreits an das FG zur anderweitigen Verhandlung und Entscheidung (§ 116 Abs. 6 FGO).
7 Die Entscheidung des FG ist, soweit es die beantragte Wiedereinsetzung abgelehnt hat, nicht mit Gründen versehen (dazu 2.).
8 Überdies hat das FG verfahrensfehlerhaft zwei weitere geladene, aber nicht erschienene Zeugen nicht vernommen, obwohl es den zuvor erlassenen Beweisbeschluss weder aufgehoben noch sonst unmissverständlich zu erkennen gegeben hat, dass es diese beiden Zeugen nicht mehr hören werde (dazu 3.).
9 1. Die Vorentscheidung ist nicht bereits deshalb wegen eines Verfahrensfehlers aufzuheben, weil das FG (Vollsenat) im Gerichtsbescheid vom der Klägerin Wiedereinsetzung gewährt hatte; denn dieser Gerichtsbescheid ist durch den Antrag der Klägerin vom gegenstandslos geworden. Der Einzelrichter war deshalb an die vom Vollsenat zunächst im Gerichtsbescheid gewährte Wiedereinsetzung nicht gebunden (vgl. Brandis in Tipke/Kruse, Abgabenordnung, Finanzgerichtsordnung, § 56 FGO Rz 28; Söhn in Hübschmann/Hepp/ Spitaler —HHSp—, § 56 FGO Rz 632).
10 2. Soweit die Klägerin mit der Beschwerde vorbringt, das FG habe nicht hinreichend begründet, worin es ein Organisationsverschulden der P sehe, das für die Fristversäumnis kausal sei, und das FG habe ihren Vortrag zur Übergabe des Schreibens an S überhaupt nicht berücksichtigt, rügt sie sinngemäß und zutreffend das Fehlen von Entscheidungsgründen i.S. des § 119 Nr. 6 FGO und damit eine Verletzung der in § 105 Abs. 2 Nr. 5 FGO niedergelegten Pflicht des Gerichts, sein Urteil mit Gründen zu versehen.
11 a) Nach § 119 Nr. 6 FGO ist ein Urteil stets als auf der Verletzung von Bundesrecht beruhend anzusehen, wenn die Entscheidung nicht mit Gründen versehen ist. Es reicht hierfür aus, wenn die Gründe nur zum Teil fehlen und das Gericht ein selbständiges Angriffs- oder Verteidigungsmittel, das für sich allein den vollständigen Tatbestand einer mit selbständiger Wirkung ausgestatteten Rechtsnorm bildet, übergangen hat (vgl. z.B. Beschlüsse des Bundesfinanzhofs —BFH— vom X B 105/02, BFH/NV 2003, 1193, unter II.2., m.w.N.; vom IX B 52/09, BFH/NV 2010, 220, unter 1.a; Lange in HHSp, § 119 FGO Rz 359 ff.). Ein Verstoß gegen das Begründungsgebot liegt jedoch auch dann vor, wenn das Gericht einen wesentlichen Streitpunkt entweder überhaupt nicht erörtert oder mit formelhaften und inhaltlich nicht nachvollziehbaren Formulierungen abhandelt (BFH-Beschlüsse vom I B 162/01, BFH/NV 2003, 172; vom IX B 155/03, juris; vom VI B 71/11, BFH/NV 2012, 767, Rz 14; vom XI B 17/13, BFH/NV 2014, 548). Nicht ausreichend ist hingegen, dass die Urteilsbegründung nicht den Erwartungen eines Beteiligten entspricht, lückenhaft, rechtsfehlerhaft oder nicht überzeugend ist (vgl. z.B. , BFH/NV 2012, 1634, m.w.N.). Die Abgrenzung zwischen erheblichen und nicht wesentlichen Begründungsmängeln hat sich am Zweck der Urteilsbegründung zu orientieren, der darin besteht, für den Ausspruch der Urteilsformel den Nachweis der Rechtmäßigkeit zu liefern (, BFHE 199, 124, BStBl II 2002, 527, und , BFH/NV 2012, 426). Vom Vorliegen eines Verfahrensmangels i.S. des § 115 Abs. 2 Nr. 3 FGO ist danach dann auszugehen, wenn den Beteiligten —zumindest in Bezug auf einen der wesentlichen Streitpunkte— die Möglichkeit entzogen ist, die getroffene Entscheidung auf ihre Rechtmäßigkeit hin zu überprüfen (vgl. , BFH/NV 2014, 714).
12 b) Gemessen daran ist das Urteil, soweit das FG die Wiedereinsetzung versagt hat, nicht mit Gründen versehen. Das FG hat ein sog. Organisationsverschulden der P in ihrer Kanzlei lediglich behauptet, ohne dass dies anhand der vom FG getroffenen Feststellungen nachvollziehbar wäre.
13 aa) Das Urteil enthält bereits keine tatsächlichen Feststellungen dazu, wann der Antrag auf Wiedereinsetzung gestellt wurde, wie die Klägerin die Fristversäumnis entschuldigt hat und wie die Einspruchsentscheidung von R über P zu S gelangt ist. Insbesondere hat sich das FG in seinem Urteil nicht mit dem Vorbringen der Klägerin und der anwaltlichen Versicherung der P im Schriftsatz vom auseinandergesetzt, wie dies erfolgt sein soll. Auch hat S nach dem Inhalt der Niederschrift vom in ihrer Vernehmung vor dem Einzelrichter angegeben, sie gehe davon aus, dass ihr die Einspruchsentscheidung —wie üblich— mit der Tagespost schon einmal vorgelegt worden sei.
14 Es ist nicht ersichtlich, aus welchen Gründen das FG den Vortrag für unerheblich, die Angaben der P und der S für nicht glaubhaft oder durch andere Umstände widerlegt angesehen hat.
15 bb) Zwar ist dem FG abstrakt darin beizupflichten, dass ein Organisationsverschulden in der Kanzlei der P dazu führen könnte, dass eine Fristversäumnis schuldhaft sein kann. Das Urteil des FG enthält jedoch allenfalls bruchstückhafte Feststellungen dazu, wie die Organisation in der Kanzlei der P überhaupt ausgestaltet ist, so dass offen bleibt, aufgrund welcher Tatsachen das FG davon ausgeht, es liege im Rahmen der (nicht tatsächlich festgestellten) Organisation ein Verschulden vor. Zu solchen Feststellungen hätte schon deshalb Anlass bestanden, weil das noch u.a. aus der Verwendung des Fachprogramms der . geschlossen hatte, dass P die Überwachung der Fristen mit der gebotenen Sorgfalt eingerichtet und fortlaufend überwacht habe sowie der fachkundigen S, die u.a. wisse, dass bei Einspruchsentscheidungen die Klagefrist in einem Fristenkontrollbuch festzuhalten seien, nur ein einmaliges Versehen unterlaufen sei.
16 Weder die eine noch die andere Aussage des FG wird bisher durch tatsächliche Feststellungen getragen.
17 c) Die Klägerin hat auch —entgegen der Auffassung des FA— diesen Verfahrensmangel hinreichend i.S. des § 116 Abs. 3 Satz 3 FGO dargelegt. Insbesondere hat sich das FA nicht mit dem Einwand der Klägerin befasst, das FG habe das Vorliegen eines Organisationsverschuldens nicht begründet.
18 Soweit das FA in diesem Zusammenhang geltend macht, es liege ein „offensichtliches Organisationsverschulden“ vor, wird das FG im zweiten Rechtsgang beurteilen müssen, ob dies zutrifft.
19 3. Darüber hinaus ist dem FG ein weiterer Verfahrensfehler dadurch unterlaufen, dass es sein Urteil gefällt hat, ohne zuvor entweder Frau M und Herrn N, deren Vernehmung es unter dem förmlich beschlossen und die es zur mündlichen Verhandlung vom erfolglos geladen hatte, als Zeugen zu vernehmen oder die Beweisbeschlüsse vom aufzuheben oder den Beteiligten sonst unmissverständlich zu erkennen zu geben, dass es die Zeugen M und N nicht mehr hören werde.
20 a) Nach der ständigen Rechtsprechung des BFH entsteht durch einen förmlichen Beweisbeschluss eine Verfahrenslage, auf welche die Beteiligten ihre Prozessführung einrichten dürfen. Sie können grundsätzlich davon ausgehen, dass das Urteil nicht eher ergehen wird, bis der Beweisbeschluss vollständig ausgeführt ist. Zwar ist das Gericht nicht verpflichtet, eine angeordnete Beweisaufnahme in vollem Umfang durchzuführen. Will es jedoch von einer Beweisaufnahme absehen, muss es zur Vermeidung einer Überraschungsentscheidung vor Erlass des Urteils für die Beteiligten unmissverständlich zum Ausdruck bringen, dass es den Beweisbeschluss als erledigt betrachtet (vgl. BFH-Beschlüsse vom XI B 84/12, BFH/NV 2013, 745; vom XI B 97/12, BFH/NV 2013, 1791; vom XI B 69/13, BFH/NV 2014, 166; vom II B 31/13, BFH/NV 2014, 68; vom V B 1/14, BFH/NV 2014, 1763; vom IX B 101/13, BFH/NV 2015, 214).
21 b) Hieran fehlt es im Streitfall. Das FG hat die Beteiligten nicht schriftlich darauf hingewiesen, dass es von der Vernehmung der Zeugen M und N trotz der Beweisbeschlüsse vom absehen werde. Auch enthält die Niederschrift über die mündliche Verhandlung vom keinen entsprechenden Hinweis, obwohl die Klägerin in der mündlichen Verhandlung nochmals die Vernehmung der Zeugen beantragt hatte. Da ein mündlich erteilter Hinweis als wesentlicher Vorgang der Verhandlung in das Protokoll aufzunehmen (§ 94 FGO i.V.m. § 160 Abs. 2 der Zivilprozessordnung —ZPO—) gewesen wäre, erbringt das Sitzungsprotokoll insofern auch den negativen Beweis (§ 94 FGO i.V.m. § 165 ZPO), dass der Hinweis unterblieben ist (vgl. BFH-Beschluss in BFH/NV 2015, 214, Rz 10, 12).
22 4. Aufgrund dieser Verfahrensfehler erscheint es sachgerecht, gemäß § 116 Abs. 6 FGO das angefochtene Urteil aufzuheben und die Sache zur erneuten Verhandlung und Entscheidung an das FG zurückzuverweisen, da beim derzeitigen Verfahrensstand von einer Revisionsentscheidung keine weitere rechtliche Klärung zu erwarten ist (vgl. dazu z.B. BFH-Beschlüsse vom V B 54/11, BFH/NV 2011, 2091; vom V B 87/14, BFH/NV 2015, 662, m.w.N.).
23 5. Der Senat sieht von einer weiteren Begründung ab (§ 116 Abs. 5 Satz 2 Halbsatz 2 FGO). Diese Vorschrift gilt auch für Beschlüsse i.S. des § 116 Abs. 6 FGO (vgl. , BFH/NV 2014, 1899, m.w.N.).
24 6. Die Übertragung der Kostenentscheidung auf das FG folgt aus § 143 Abs. 2 FGO.
Auf diese Entscheidung wird Bezug genommen in folgenden Gerichtsentscheidungen:
Fundstelle(n):
BFH/NV 2015 S. 1257 Nr. 9
TAAAE-96702