BGH Beschluss v. - V ZB 215/12

Wiedereinsetzung in den vorigen Stand: Anforderungen an die anwaltlichen Sorgfaltspflichten im Falle unvorhersehbarer Erkrankung

Gesetze: Art 2 Abs 1 GG, Art 103 Abs 1 GG, § 85 Abs 2 ZPO, § 233 ZPO, § 234 ZPO, § 520 ZPO

Instanzenzug: OLG Dresden Az: 9 U 1398/12vorgehend LG Bautzen Az: 3 O 589/11

Gründe

1Mit den Klägern am zugestelltem Urteil hat das Landgericht ihre Schadensersatzklage abgewiesen. Hiergegen hat der Prozessbevollmächtigte der Kläger bei dem Oberlandesgericht fristgerecht Berufung eingelegt. Mit Verfügung vom hat der Senatsvorsitzende darauf hingewiesen, dass eine Berufungsbegründung nicht vorliege.

2Am haben die Kläger die Berufung begründet und Wiedereinsetzung in die versäumte Frist beantragt. Hierzu haben sie ausgeführt, ihr Prozessbevollmächtigter sei an der Wahrung der Berufungsbegründungsfrist ohne Verschulden gehindert gewesen. Dieser habe am , nachdem es ihm am Vortag noch gut gegangen sei, nach dem Erwachen festgestellt, dass er mehr als 39,5 Grad Fieber, schlimme Halsschmerzen und erhebliche Schluckbeschwerden habe. Die von ihm sogleich konsultierte Hausärztin habe eine schwere eitrige Angina und seine Arbeitsunfähigkeit festgestellt, worauf er das Bett gehütet habe. Zuvor habe er allerdings seine sorgfältig ausgewählte, ordnungsgemäß überwachte und ansonsten fehlerfrei arbeitende Kanzleifachkraft, Frau R., telefonisch angewiesen, es möge nach dem sog. Notfallplan verfahren werden. Die zur Vertretung bereite Anwaltskanzlei F. & H. solle über eventuell anstehende Fristen informiert und - sofern nötig - Verlängerungsanträge stellen. Dies sei jedoch aufgrund einer Unachtsamkeit von Frau R. unterblieben. Der Notfallplan, über den der Prozessbevollmächtigte die Angestellte stets einmal jährlich zur Auffrischung belehre, habe ein der telefonischen Anweisung entsprechendes Verfahren vorgesehen. Zur Glaubhaftmachung haben sich die Kläger auf eine anwaltliche Erklärung ihres Prozessbevollmächtigten, eine eidesstattliche Versicherung von Frau R. und ein ärztliches Attest der Hausärztin bezogen.

3Das Oberlandesgericht hat das Wiedereinsetzungsgesuch als unbegründet zurückgewiesen und die Berufung als unzulässig verworfen. Dagegen wenden sich die Kläger mit der Rechtsbeschwerde.

II.

4Das Berufungsgericht ist der Auffassung, die Kläger hätten nicht dargetan, dass ihr Prozessbevollmächtigter durch ein unabwendbares Ereignis an der Einhaltung der Berufungsbegründungsfrist gehindert gewesen sei. Auch dann wenn eine Krankheit plötzlich und unvorhergesehen auftrete, müsse ein Anwalt noch das ihm Mögliche und Zumutbare unternehmen. Daran fehle es hier, weil es der Prozessbevollmächtigte unterlassen habe, die zur Vertretung bestimmte Kanzlei von seiner Erkrankung selbst in Kenntnis zu setzen, um auf diese Weise sicherzustellen, dass Fristsachen nicht in Vergessenheit gerieten. Zumindest aber hätte Frau R. aufgefordert werden müssen, eigenständig den Fristenkalender zu kontrollieren und dabei festzustellende Fristabläufe den Vertretungsanwälten mitzuteilen.

III.

5Die nach § 574 Abs. 1 Satz 1 Nr. 1 ZPO i.V.m. § 522 Abs. 1 Satz 4 ZPO statthafte Rechtsbeschwerde ist zulässig. Insbesondere liegt die besondere Zulässigkeitsvoraussetzung des § 574 Abs. 2 ZPO vor, weil die Sicherung einer einheitlichen Rechtsprechung eine Entscheidung des Rechtsbeschwerdegerichts erfordert. Das Berufungsgericht hat nicht nur gegen den Anspruch der Kläger auf Gewährung rechtlichen Gehörs verstoßen (Art. 103 Abs. 1 GG), sondern unter Verstoß gegen Art. 2 Abs. 1 GG i.V.m. dem Rechtsstaatsprinzip (vgl. BVerfGE 77, 275, 284; BVerfG, NJW 2013, 592 f. mwN) zudem den Zugang zu dem von der Zivilprozessordnung eingeräumten Instanzenzug in unzumutbarer, aus Sachgründen nicht mehr zu rechtfertigender Weise erschwert. Das eröffnet die Rechtsbeschwerde nach § 574 Abs. 2 Nr. 2 Alt. 2 ZPO (vgl. Senat, Beschluss vom - V ZB 72/11, NJW-RR 2012, 82 Rn. 8; Beschluss vom - V ZB 242/11, ZWE 2012, 334, 335; Beschluss vom - V ZB 226/12, juris Rn. 5; jeweils mwN).

IV.

6Die Rechtsbeschwerde hat auch in der Sache Erfolg.

71. Der angefochtene Beschluss unterliegt der Aufhebung.

8a) Das Berufungsgericht verkennt bereits, dass das Tatbestandsmerkmal der Unabwendbarkeit seit Inkrafttreten der ZPO-Vereinfachungsnovelle vom (BGBl. I, 3281) keine Rolle mehr spielt (zu der damit einhergehenden Abmilderung der Wiedereinsetzungsanforderung und zur Rechtsentwicklung Wieczorek/Schütze/Gerken, ZPO, 4. Aufl., § 233 Rn. 3 f. mwN); das seither geltende Recht knüpft nur noch daran an, dass die Partei ohne ihr Verschulden verhindert war, eine der in § 233 ZPO genannten Fristen einzuhalten.

9b) Zutreffend geht es sodann zwar davon aus, dass ein Rechtsanwalt auch bei unvorhersehbarer Erkrankung gehalten ist, die ihm noch möglichen und zumutbaren Maßnahmen zu ergreifen (Senat, Beschluss vom - V ZB 32/08, NJW 2008, 3571 Rn. 9 mwN; , juris Rn. 5). Die Annahme, der Prozessbevollmächtigte der Kläger habe diesen Anforderungen nicht genügt, hält einer rechtlichen Prüfung aber nicht stand.

10aa) Soweit das Berufungsgericht die Aufforderung an Frau R. vermisst, eigenständig den Fristenkalender zu kontrollieren und dabei festzustellende Fristabläufe den Vertretungsanwälten mitzuteilen, lässt sich diese Erwägung nur so erklären, dass es unter Verstoß gegen das Prozessgrundrecht aus Art. 103 Abs. 1 GG das Vorbringen der Kläger entweder nicht zur Kenntnis oder jedenfalls nicht erwogen hat (zu diesen Voraussetzungen etwa BVerfGE 22, 267, 274; 65, 293, 295; 88, 366, 375 f.; Senat, Beschluss vom - V ZR 291/02, BGHZ 154, 288, 300 f.), Frau R. sei telefonisch angewiesen worden, es möge nach dem sog. Notfallplan verfahren und die zur Vertretung bereite Anwaltskanzlei F. & H. über eventuell anstehende Fristen informiert werden. Denn nichts anders besagt dieses Vorbringen.

11bb) Im Übrigen überspannt das Berufungsgericht die Anforderungen, die nach § 236 Abs. 2 Satz 1 ZPO an die Darlegung der die Wiedereinsetzung begründenden Tatsachen zu stellen sind. Eine direkte Benachrichtigung der Vertretungskanzlei durch den Prozessbevollmächtigten der Kläger war nicht geboten. Zwar hätte das Ergreifen dieser Möglichkeit ein Verschulden des Prozessbevollmächtigten ausgeräumt (vgl. auch Senat, Beschluss vom - V ZB 23/03, FamRZ 2004, 182). Das ändert aber nichts daran, dass auch der beschrittene Weg sachgerecht war, die Kanzleiangestellte dazu anzuhalten, zunächst die ablaufenden Fristen zu ermitteln und sodann mit diesem Kenntnisstand die Vertretungskanzlei über die einschlägigen Verfahren zu informieren. Da die direkte Information des Vertretungsanwalts notwendig zu Rückfragen bei Frau R. dazu geführt hätte, in welchen Verfahren Fristen ablaufen würden, wäre damit ein Sicherheitsgewinn nicht verbunden gewesen. Etwas anderes hätte nur dann gegolten, wenn ein Rechtsanwalt - und damit auch der der Vertretungskanzlei - gehalten wäre, den Fristenkalender selbst durchzusehen. So verhält es sich jedoch nicht. Ein Rechtsanwalt darf sich in aller Regel darauf verlassen, dass die Einhaltung der in dem Kalender notierten Fristen von dem Büropersonal sorgfältig überwacht wird (vgl. nur Zöller/Greger, ZPO, 30. Aufl., § 233 Rn. 33 „Fristenbehandlung" mwN).

122. Der Senat kann nach § 577 Abs. 5 ZPO in der Sache selbst entscheiden. Aufgrund der dargelegten und glaubhaft gemachten Umstände liegt kein den Klägern nach § 85 Abs. 2 ZPO zuzurechnendes Anwaltsverschulden vor. Insbesondere hat der Prozessbevollmächtigte mit dem Notfallplan und dessen jährlicher „Auffrischung" ausreichend organisatorische Vorsorge für den Fall der Erkrankung (dazu Senat, Beschluss vom - V ZB 94/13, NJW 2014, 228; Beschluss vom - V ZB 23/03, FamRZ 2004, 182) getroffen. Auch im Übrigen liegen die Voraussetzungen für die beantragte Wiedereinsetzung vor.

Stresemann                             Czub                         Brückner

                       Weinland                       Kazele

Fundstelle(n):
NJW-RR 2014 S. 885 Nr. 14
PAAAE-62928