BGH Beschluss v. - I ZB 15/13

Räumungsvollstreckung: Unbefristete Einstellung bei Selbstmordgefahr des Vollstreckungsschuldners

Gesetze: Art 14 Abs 1 GG, Art 19 Abs 4 GG, § 765a ZPO, § 885 ZPO

Instanzenzug: LG Frankfurt (Oder) Az: 19 T 21/12vorgehend AG Fürstenwalde Az: 16 M 3398/11

Gründe

1I. Die Schuldner wurden vom Landgericht Frankfurt (Oder) zur Herausgabe des Grundstücks W.      in S.      verurteilt. Sie bewohnen das auf diesem Grundstück vom Schuldner errichtete Wohnhaus. Die Gläubiger betreiben gegen die Schuldner die Räumungsvollstreckung.

2Mit Schreiben vom hatte der Schuldner beim Amtsgericht Fürstenwalde Räumungsschutz beantragt. Das Amtsgericht hatte die Zwangsvollstreckung zunächst unter der Auflage vorläufig eingestellt, dass der Schuldner ein amtsärztliches Attest oder Gutachten zur Möglichkeit der Räumung bei gründlicher medizinischer Begleitung vorlegt. Nachdem der Schuldner diese Auflage nicht erfüllt hatte, wurde sein Vollstreckungsschutzantrag vom Amtsgericht zurückgewiesen.

3Das Beschwerdegericht hatte ein neurologisch-psychiatrisches Gutachten zur Verfahrensfähigkeit des Schuldners eingeholt. Der Sachverständige war zu dem Ergebnis gekommen, dass beim Schuldner eine krankheitsbedingte partielle Geschäftsunfähigkeit vorliege, die sich auf die - insbesondere juristische - Auseinandersetzung um das Grundstück beziehe. Das Beschwerdegericht hatte daraufhin mit Beschluss vom die Zwangsvollstreckung mit der Maßgabe einstweilen eingestellt, dass sie auf Antrag fortzusetzen sei, wenn die gegenwärtige Prozessunfähigkeit des Schuldners nicht mehr fortbestehe oder der Schuldner wirksam vertreten werde. Die Gläubiger hatten gegen diesen Beschluss die vom Beschwerdegericht zugelassene Rechtsbeschwerde eingelegt.

4Der Bundesgerichtshof hatte dem Schuldner Rechtsanwältin K.    B.    als besondere Vertreterin (Verfahrenspflegerin) zur Seite gestellt sowie den Beschluss vom aufgehoben und die Sache an das Beschwerdegericht zurückverwiesen, weil bei Prozessunfähigkeit des Schuldners auf der Grundlage von § 765a ZPO keine einstweilige Einstellung der Zwangsvollstreckung möglich ist (, DGVZ 2011, 209).

5Die Verfahrenspflegerin hat den vom Schuldner selbst gestellten Vollstreckungsschutzantrag nicht genehmigt. Mit Beschluss vom hat das Beschwerdegericht die sofortige Beschwerde des Schuldners gegen den Beschluss des Amtsgerichts Fürstenwalde vom zurückgewiesen.

6Die Gläubiger haben daraufhin die Räumungsvollstreckung weiterbetrieben. Unter dem hat die Verfahrenspflegerin für den Schuldner Vollstreckungsschutz nach § 765a ZPO beantragt, weil die Zwangsräumung Leib und Leben des Schuldners erheblich gefährde (Herzstillstand, Schlaganfall oder Suizid).

7Mit Beschluss vom hat das Amtsgericht Rechtsanwalt Bl.   anstelle von Rechtsanwältin B.    zum Verfahrenspfleger des Schuldners bestellt. Mit weiterem Beschluss vom selben Tage hat es den Vollstreckungsschutzantrag vom zurückgewiesen.

8Dagegen hat der Verfahrenspfleger sofortige Beschwerde eingelegt. Er hat dazu eine amtsärztliche Stellungnahme des Facharztes Dr. H.    vorgelegt. Aufgrund einer Untersuchung des Schuldners am hat Dr. H.    darin unter anderem ausgeführt, dass im Fall der Zwangsräumung ein Suizid des Schuldners unmittelbar absehbar sei und daran auch eine Zwangsunterbringung in einem psychiatrischen Krankenhaus nichts ändern würde, da das psychische Krankheitsbild nicht behandelbar sei.

9Das Landgericht hat die Zwangsvollstreckung bis zur Entscheidung über den Vollstreckungsschutz einstweilen eingestellt und ein neurologisch-psychiatrisches Gutachten zur Frage der Gesundheits- und Lebensgefahr im Fall der Zwangsräumung eingeholt. Der Gutachter Dr. L.   hat den Schuldner nicht zu einem Untersuchungsgespräch bewegen können und sein Gutachten sodann nach Aktenlage erstellt. Dr. L.   ist zu dem Ergebnis gekommen, dass für den Fall der Zwangsräumung eine suizidale Handlung des Schuldners wahrscheinlich sei.

10Mit dem angefochtenen Beschluss vom hat das Landgericht die Zwangsvollstreckung in Bezug auf die Verurteilung zur Grundstücksherausgabe unbefristet und ohne Auflagen einstweilen eingestellt.

11Hiergegen richtet sich die zugelassene Rechtsbeschwerde der Gläubiger.

12II. Die gemäß § 574 Abs. 1 Satz 1 Nr. 2 ZPO statthafte und auch im Übrigen zulässige Rechtsbeschwerde hat allein im Hinblick auf die fehlende Befristung der einstweiligen Vollstreckungseinstellung Erfolg. Die Annahme des Beschwerdegerichts, bei Durchführung der Zwangsräumung bestehe für den Schuldner eine konkrete Suizidgefahr, lässt dagegen keinen Rechtsfehler erkennen.

131. Das Beschwerdegericht hat auf der Grundlage der fachärztlichen Ausführungen Ba. , Dr. H.    und Dr. L.    die Überzeugung gewonnen, dass der Schuldner an einer wahnhaften Störung leide, in deren Folge ein Suizid bei Durchführung der Zwangsräumung wahrscheinlich auftrete. Das hält der Nachprüfung im Rechtsbeschwerdeverfahren stand.

14a) Das Beschwerdegericht hat seine Beurteilung maßgeblich auf die vom Verfahrenspfleger des Schuldners eingereichte Stellungnahme des Amtsarztes Dr. H.    gestützt. Dieser hatte zwar mitgeteilt, dass er einen gerichtlichen Gutachterauftrag ablehne, weil er mit der Schuldnerin bekannt sei und sich deshalb befangen fühle. Entgegen der Ansicht der Rechtsbeschwerde ergibt sich daraus aber keine Unverwertbarkeit der Stellungnahme Dr. H.   . Vielmehr konnte und musste diese vom Beschwerdegericht als Parteivortrag berücksichtigt und gewürdigt werden. Daran hat sich das Beschwerdegericht gehalten.

15Das Beschwerdegericht hat in der Bekanntschaft von Dr. H.    mit der Schuldnerin keinen Anlass gesehen, seine fachärztliche Einschätzung als bloßes Gefälligkeitsattest abzutun. Es hat diese Beurteilung auf die Funktion von Dr. H.    als zuständigem Amtsarzt und seine dem Gericht aus einer Vielzahl von Verfahren bekannte gründliche und sachkompetente Arbeitsweise gestützt. Diese tatrichterliche Würdigung lässt keinen Rechtsfehler erkennen. Dabei kommt es nicht darauf an, ob auch eine abweichende Beurteilung möglich gewesen wäre.

16b) Entgegen der Ansicht der Rechtsbeschwerde ist es auch nicht zu beanstanden, dass das Beschwerdegericht den gerichtlichen Gutachter Dr. L.   um eine Beurteilung nach Aktenlage gebeten und ihm aufgegeben hat, dabei insbesondere die amtsärztliche Stellungnahme Dr. H.    zu beachten. Der Schuldner hatte eine persönliche Untersuchung durch Dr. L.   verweigert. Der in einem Termin vor dem Beschwerdegericht gewonnene persönliche Eindruck des Facharztes Ba.  lag bereits mehr als dreieinhalb Jahre zurück. Die einzige zeitnahe persönliche Untersuchung des Schuldners hatte Dr. H.    am durchgeführt. Unter diesen Umständen lässt das Verfahren des Beschwerdegerichts keinen Rechtsfehler erkennen.

17Dahinstehen kann, ob der Gutachter Dr. L.   durch eine persönliche Untersuchung des Schuldners gegenüber seinem Gutachten nach Aktenlage wesentliche neue Erkenntnisse zur Suizidgefährdung hätte gewinnen können. Denn aufgrund des Verhaltens des Schuldners bestand für Dr. L.   keine Möglichkeit einer persönlichen Untersuchung. Den Umstand, dass dem Gutachten Dr. L.   kein persönlicher Eindruck vom Schuldner zugrunde lag, hat das Beschwerdegericht berücksichtigt.

18c) Ohne Erfolg wendet sich die Rechtsbeschwerde ferner gegen die Berücksichtigung des Gutachtens Ba.  vom durch das Beschwerdegericht.

19Dieses Gutachten basiert zwar auf einem persönlichen Eindruck vom Schuldner beim Anhörungstermin vor dem Beschwerdegericht am , der zum Zeitpunkt der Entscheidung des Beschwerdegerichts am bereits fast vier Jahre zurücklag. Zudem war Gegenstand des dem Gutachter Ba.  erteilten Auftrags allein die Frage der Verfahrensfähigkeit des Schuldners im Streit um die Zwangsräumung. Die Ausführungen zur Suizidgefährdung des Schuldners erfolgten daher außerhalb dieses Auftrags.

20Diese Umstände führen aber nicht zur Unverwertbarkeit des Gutachtens Ba. . Sie sind vielmehr bei seiner Würdigung zu berücksichtigen. Es ist weder dargetan noch sonst ersichtlich, dass das Beschwerdegericht dies unbeachtet gelassen hätte.

21d) Das Beschwerdegericht hat die fachärztlichen Bewertungen durch seinen Eindruck vom Schuldner im Anhörungstermin am sowie durch dessen schriftliche Ausführungen im Räumungsverfahren bestätigt gesehen. Auch diese tatrichterliche Beurteilung lässt entgegen der Ansicht der Rechtsbeschwerde keinen Rechtsfehler erkennen.

22e) Soweit sich die Rechtsbeschwerde gegen die Würdigung des Schreibens des Schuldners vom wendet, dem sie anders als das Beschwerdegericht eine Bereitschaft zur Räumung des Grundstücks gegen Zahlung von 300.000 € entnehmen will, setzt sie nur ihre eigene Beurteilung an die Stelle derjenigen des Beschwerdegerichts. Dasselbe gilt, soweit die Beschwerde einen Widerspruch zwischen den Annahmen des Beschwerdegerichts konstruieren will, es bestehe kein hinreichender Anhaltspunkt für ein kalkuliertes Handeln des Schuldners, er schirme seine Ehefrau aber zielgerichtet vom vorliegenden Räumungsverfahren ab. Diese Aussagen sind keineswegs miteinander unvereinbar.

23f) Die Rechtsbeschwerde beanstandet die vom Beschwerdegericht bei seiner Interessenabwägung gebrauchte Formulierung "staatlich legitimierte Sterbehilfe" als sachwidrig. Dabei handelt es sich zwar um eine ungewöhnlich plakative Formulierung des Berufungsgerichts. Es ist aber nicht erkennbar, dass diese Formulierung im Streitfall die Abwägung zwischen dem Vermögensinteresse der Gläubiger und dem Lebensinteresse des Schuldners in entscheidungserheblicher und einen Rechtsfehler begründender Weise beeinflusst haben könnte.

242. Mit Erfolg wendet sich die Rechtsbeschwerde dagegen, dass das Beschwerdegericht die vorläufige Einstellung der Zwangsvollstreckung ohne Befristung angeordnet hat.

25Das durch die Grundrechte auf Schutz des Eigentums (Art. 14 Abs. 1 GG) und auf effektiven Rechtsschutz (Art. 19 Abs. 4 GG) geschützte Interesse der Gläubiger an der Fortsetzung des Verfahrens verbietet eine dauerhafte Einstellung der Räumungsvollstreckung, weil die staatliche Aufgabe, das Leben des Schuldners zu schützen, nicht auf unbegrenzte Zeit durch ein Vollstreckungsverbot gelöst werden kann. Die Einstellung ist deshalb zu befristen und mit Auflagen zu versehen, die das Ziel haben, die Gesundheit des Schuldners wiederherzustellen. Dies gilt auch dann, wenn die Aussichten auf eine Besserstellung des Gesundheitszustands des Schuldners gering sind. Im Interesse des Gläubigers ist dem Schuldner zuzumuten, auf die Verbesserung seines Gesundheitszustands hinzuwirken und den Stand seiner Behandlung dem Vollstreckungsgericht nachzuweisen (, DGVZ 2010, 149 Rn. 11 mwN; vgl. auch BVerfG (Kammer), Beschluss vom - 2 BvR 1858/12, NJW 2013, 290 Rn. 14).

26Es ist nicht ersichtlich, warum abweichend von diesen Grundsätzen im vorliegenden Fall eine unbefristete Einstellung der Räumungsvollstreckung in Betracht kommen soll. Insbesondere rechtfertigt die Erwägung des Beschwerdegerichts, es lasse sich derzeit nicht prognostizieren, wann es zu einer veränderten Situation hinsichtlich der Lebensgefahr im Fall der Räumung komme, keine unbefristete einstweilige Einstellung der Zwangsvollstreckung. Die Gläubiger können nicht darauf verwiesen werden, die Zwangsräumung erst fortzusetzen, nachdem sie mit Erfolg beim Vollstreckungsgericht eine Aufhebung der Einstellung wegen Änderung der Sachlage (§ 765a Abs. 4 ZPO) beantragt haben. Vielmehr obliegt es dem Räumungsschuldner, nach Ablauf einer angemessen befristeten vorläufigen Einstellung darzulegen und zu beweisen, dass die Voraussetzungen für eine vorläufige Einstellung weiterhin vorliegen.

27Es kann auch nicht angenommen werden, eine Behandlung des Schuldners zur Abwendung der Suizidgefahr bleibe ohne weitere Prüfung auf Dauer aussichtslos. So hat der gerichtlich bestellte Gutachter Dr. L.   ausgeführt, dass die Suizidgefahr unter stationären Bedingungen reduziert bzw. minimiert und zumindest einer aktuellen Suizidgefährdung im zeitlichen Umfeld der Zwangsräumung über eine stationäre Krisenintervention begegnet werden könne. Der Gutachter hat auch nicht angenommen, die Behandlung der wahnhaften Störung des Schuldners sei aussichtslos. Vielmehr hat er den Ausgang einer Behandlung als offen bezeichnet. Allerdings hat er an anderer Stelle seines Gutachtens gemeint, eine erfolgversprechende Behandlung der wahnhaften Störung sei nicht erkennbar. Behandlungsmöglichkeiten hinsichtlich der wahnhaften Störung sind aber zu trennen von der Frage der aktuellen Suizidgefährdung bei Durchführung der Zwangsräumung. Denn die wahnhafte Störung kann auch ohne gleichzeitige Suizidgefahr bei Räumung bestehen.

283. Der Senat kann in der Sache selbst entscheiden, weil die fehlende Befristung der vorläufigen Einstellung der Räumungsvollstreckung auf der Grundlage der Feststellungen des Beschwerdegerichts vom Rechtsbeschwerdegericht nachgeholt werden kann (§ 577 Abs. 5 ZPO). Unter den Umständen des Streitfalls ist es erforderlich und angemessen, die vorläufige Einstellung auf zwei Jahre ab dem , dem Entscheidungszeitpunkt des Beschwerdegerichts, zu befristen.

29III. Die Kostenentscheidung folgt aus § 788 Abs. 1 ZPO. Es besteht kein Anlass, den Gläubigern gemäß § 788 Abs. 4 ZPO einen Teil der Kosten aufzuerlegen.

Bornkamm                             Schaffert                          Kirchhoff

                      Grabinski                             Löffler

<Hinweis der Dokumentationsstelle des Bundesgerichtshofs: Der Berichtigungsbeschluss vom wurde in den Beschlusstext eingearbeitet.>

Auf diese Entscheidung wird Bezug genommen in folgenden Gerichtsentscheidungen:




Fundstelle(n):
DNotZ 2014 S. 601 Nr. 8
NJW 2014 S. 2288 Nr. 31
HAAAE-61159