BAG Urteil v. - 10 AZR 1058/12

Sonderzahlung - Dachdeckerhandwerk - Rückwirkung einer Allgemeinverbindlicherklärung

Gesetze: § 1 TVG, § 5 Abs 4 TVG, § 5 Abs 5 TVG

Instanzenzug: ArbG Frankfurt Az: 3 Ca 1124/11 Urteilvorgehend Hessisches Landesarbeitsgericht Az: 14 Sa 1494/11 Urteil

Tatbestand

1Die Parteien streiten über die Höhe der Sonderzahlung für das Jahr 2010.

2Die Beklagte betreibt ein Unternehmen des Dachdeckerhandwerks. Der Kläger ist seit dem für die Beklagte tätig. Auf das Arbeitsverhältnis findet der seit dem allgemeinverbindliche Tarifvertrag über die Gewährung eines Teils eines 13. Monatseinkommens für gewerbliche Arbeitnehmer im Dachdeckerhandwerk vom Anwendung. Dieser enthielt in der Fassung des Änderungstarifvertrags vom (TV 13. ME 2003) nachstehende Regelungen:

„§ 3

1. Jeder Arbeitnehmer, dessen Beschäftigungsverhältnis im Dachdeckerhandwerk am 30. November des laufenden Kalenderjahres 12 Monate ununterbrochen besteht, hat Anspruch auf Zahlung eines vollen Teiles eines 13. Monatseinkommens.

Die Höhe des Anspruchs beträgt das Fünfundsiebzigfache des effektiven Bruttodurchschnittsstundenlohnes gemäß § 3 Nr. 4 des Tarifvertrages über das Verfahren für den Lohnausgleich, die Zusatzversorgung, die Gewährung eines Teiles eines 13. Monatseinkommens und des Beitragseinzugs für die Berufsbildung im Dachdeckerhandwerk, für das Beitrittsgebiet nach dem Einigungsvertrag das Fünfundsechzigfache.

Die Zahlung wird fällig mit der Lohnabrechnung für den Monat November.

1. Arbeitnehmer, deren Beschäftigungsverhältnis im Dachdeckerhandwerk am 30. November mindestens ununterbrochen 3 Monate besteht, haben Anspruch auf 1/12 des in § 3 genannten Betrages für jeden Beschäftigungsmonat. Als Beschäftigungsmonat gilt jeder Monat, in dem das Beschäftigungsverhältnis wenigstens 12 Arbeitstage bestand. Samstage gelten nicht als Arbeitstage.

2. Dem ohne eigene Veranlassung nach mindestens dreimonatiger ununterbrochener Beschäftigung aus dem Dachdeckerhandwerk ausscheidenden Arbeitnehmer (z. B. betriebsbedingte Kündigung des Arbeitgebers, Verrentung, Grundwehr- oder Ersatzdienst) stehen so viele 1/12 des Vollanspruchs zu, wie er im Bemessungszeitraum im Betrieb beschäftigt war.

Der Teilanspruch ist beim Ausscheiden fällig.

3. Sofern bereits gemäß Ziffer 1 und 2 entstandene Ansprüche im laufenden Kalenderjahr abgewickelt worden sind, werden diese auf die weiteren Teilleistungen angerechnet.

…“

3Am schlossen die Tarifvertragsparteien einen weiteren Änderungstarifvertrag (TV 13. ME 2010) mit folgenden Änderungen der Sonderzahlung:

„§ 3

1. Jeder Arbeitnehmer, dessen Beschäftigungsverhältnis im Dachdeckerhandwerk am 30. November des laufenden Kalenderjahres 12 Monate ununterbrochen besteht, hat Anspruch auf Zahlung eines vollen Teiles eines 13. Monatseinkommens sowie eines Arbeitgeberbeitrages zur Finanzierung von Altersvorsorgeleistungen im Sinne des § 1 des Gesetzes zur Verbesserung der betrieblichen Altersversorgung (BetrAVG).

Die Höhe des Anspruchs auf einen vollen Teil eines 13. Monatseinkommens beträgt das Fünfzigfache des effektiven Bruttodurchschnittsstundenlohnes gemäß § 3 Nr. 4 des Tarifvertrages über die Sozialkassenverfahren im Dachdeckerhandwerk (VTV), für das Beitrittsgebiet nach dem Einigungsvertrag das Vierzigfache. Die Höhe des Arbeitgeberbeitrages zur Finanzierung der Altersversorgung beträgt für alle Arbeitnehmer das Dreiunddreißigfache des effektiven Bruttodurchschnittsstundenlohnes gemäß § 3 Nr. 4 des Tarifvertrages über die Sozialkassenverfahren im Dachdeckerhandwerk.

…“

4Auf Antrag der Tarifvertragsparteien vom (Bundesanzeiger 147/2010 S. 3275) wurde der TV 13. ME 2010 in der Sitzung des Tarifausschusses beim Bundesministerium für Arbeit und Soziales am mit Wirkung zum für allgemeinverbindlich erklärt. Die geänderten Regelungen wurden Mitte November 2010 in der Zeitschrift „Hessen-Dach“ veröffentlicht. Die Allgemeinverbindlicherklärung wurde am im Bundesanzeiger 29/2011 bekannt gemacht. Die Satzung der Zusatzversorgungskasse des Dachdeckerhandwerks VVaG zur individuellen betrieblichen Altersversorgung wurde am beschlossen und am durch die Bundesanstalt für Finanzdienstleistungsaufsicht genehmigt.

5Die Beklagte zahlte dem Kläger mit der Abrechnung für November 2010 entsprechend der Neuregelung das Fünfzigfache und an die Lohnausgleichskasse des Dachdeckerhandwerks das Dreiunddreißigfache des effektiven Bruttodurchschnittsstundenlohns.

6Der Kläger hat eine private Rentenversicherung mit Lebensversicherung, einen Bausparvertrag und eine Unfallversicherung abgeschlossen und in der Vergangenheit die Beiträge aus der Sonderzahlung bedient.

7Der Kläger begehrt die Zahlung weiterer 25 Stundenlöhne. Sein Anspruch auf Sonderzahlung für das Jahr 2010 richte sich nach dem TV 13. ME 2003. Den Anspruch habe er im Jahr 2010 ratierlich erworben, dieser habe nicht rückwirkend durch Tarifvertrag gekürzt werden können. Die verpflichtende Teilnahme an der tariflichen Zusatzversorgung stelle zudem wegen seiner individuellen Vorsorge eine unbillige Härte dar.

8Der Kläger hat beantragt,

die Beklagte zu verurteilen, an ihn 481,50 Euro nebst Zinsen in Höhe von fünf Prozentpunkten über dem Basiszinssatz seit dem zu zahlen.

9Die Beklagte hat beantragt, die Klage abzuweisen.

10Die Vorinstanzen haben die Klage abgewiesen. Mit der vom Landesarbeitsgericht zugelassenen Revision verfolgt der Kläger sein Klageziel weiter.

Gründe

11Die Revision ist unbegründet. Die Vorinstanzen haben die Klage zu Recht abgewiesen.

12I. Der Kläger hat Anspruch auf eine Sonderzahlung für das Jahr 2010 in Höhe des fünfzigfachen Bruttodurchschnittsstundenlohns nach §§ 3, 4 TV 13. ME 2010, den die Beklagte erfüllt hat.

131. Der Anspruch des Klägers auf die Sonderzahlung für das Jahr 2010 ist am entstanden.

14a) Nach § 3 TV 13. ME 2003 wie auch nach § 3 TV 13. ME 2010 setzt der Anspruch auf Zahlung des vollen Teils eines 13. Monatseinkommens voraus, dass am 30. November des laufenden Kalenderjahres ein Beschäftigungsverhältnis im Dachdeckerhandwerk zwölf Monate ununterbrochen bestanden hat; Teilansprüche können vor diesem Stichtag nach § 6 Abs. 2 TV 13. ME 2003/2010 nur bei bestimmten, vom Arbeitnehmer nicht zu vertretenden Beendigungstatbeständen entstehen. Der Anspruch auf Sonderzahlung entsteht in einem bestehenden Arbeitsverhältnis somit erst am Stichtag und nicht ratierlich im laufenden Jahr.

15b) Das Beschäftigungsverhältnis des Klägers im Dachdeckerhandwerk bestand am ununterbrochen zwölf Monate, damit entstand der Anspruch zu diesem Zeitpunkt.

162. Der TV 13. ME 2003 ist durch den allgemeinverbindlichen TV 13. ME 2010 rechtswirksam abgelöst worden, Ansprüche des Klägers auf Sonderzahlung für das Jahr 2010 haben sich nach diesem Tarifvertrag gerichtet.

17a) Nachdem der TV 13. ME 2010 am vereinbart worden war, galt er für die nach § 3 Abs. 1 TVG tarifgebundenen Mitglieder der Tarifvertragsparteien unmittelbar und löste den TV 13. ME 2003 ab. Für Nichttarifgebundene galt der TV 13. ME 2003 mangels tariflicher Geltung ab diesem Zeitpunkt nicht mehr kraft Allgemeinverbindlichkeit nach § 5 Abs. 4 TVG, sondern nur noch kraft Nachwirkung nach § 4 Abs. 5 TVG ( - Rn. 16, BAGE 120, 84; - 9 AZR 41/05 - Rn. 20, 22; BAGE 116, 366). Diese kann durch eine andere Abmachung beendet werden; eine solche liegt bei Nichtorganisierten aber nicht bereits mit Inkrafttreten des ablösenden Tarifvertrags vor, weil dieser auf das Arbeitsverhältnis auch zur Anwendung kommen muss ( - Rn. 24, aaO). Die Nachwirkung eines allgemeinverbindlichen Tarifvertrags endet erst, wenn der ablösende Tarifvertrag für allgemeinverbindlich erklärt wird. Dies setzt nach § 5 Abs. 7 TVG die öffentliche Bekanntmachung voraus (Löwisch/Rieble TVG 3. Aufl. § 5 Rn. 207; Däubler/Lakies TVG 3. Aufl. § 5 Rn. 199). Zum Zeitpunkt des Entstehens des Anspruchs auf die tarifliche Sonderzahlung wirkte der TV 13. ME 2003 somit noch nach, weil die Allgemeinverbindlicherklärung des TV 13. ME 2010 erst zu einem späteren Zeitpunkt im Bundesanzeiger öffentlich bekannt gemacht wurde.

18b) Die rückwirkende Allgemeinverbindlicherklärung des TV 13. ME 2010 ist rechtswirksam.

19aa) Bei der Rückwirkung von Allgemeinverbindlicherklärungen sind die Grundsätze über die Rückwirkung von Gesetzen, wie sie in der Rechtsprechung des Bundesverfassungsgerichts entwickelt worden sind, entsprechend anzuwenden ( - zu I 2.6.1 der Gründe mwN, BAGE 84, 147). Die Rückwirkung einer Allgemeinverbindlicherklärung verletzt nicht die vom Rechtsstaatsprinzip (Art. 20 Abs. 3 GG) umfassten Grundsätze der Rechtssicherheit und des Vertrauensschutzes, soweit die Betroffenen mit ihr rechnen müssen ( - Rn. 19; - 3 AZR 102/06 - Rn. 27, BAGE 124, 1). Ein solcher Fall liegt vor, wenn ein Tarifvertrag rückwirkend für allgemeinverbindlich erklärt wird, der einen allgemeinverbindlichen Tarifvertrag erneuert oder ändert. Bei dieser Sachlage müssen die Tarifgebundenen nicht nur mit einer Allgemeinverbindlicherklärung des Nachfolgetarifvertrags, sondern auch mit der Rückbeziehung der Allgemeinverbindlicherklärung auf den Zeitpunkt seines Inkrafttretens rechnen (st. Rspr.,  - Rn. 20; - 3 AZR 102/06 - Rn. 27, aaO).

20bb) Im Zeitpunkt des Entstehens des Anspruchs war der ablösende TV 13. ME 2010 in Kraft und erfasste bereits die Arbeitsverhältnisse der Mitglieder der Tarifvertragsparteien. Die die Nichttarifgebundenen betreffende Allgemeinverbindlichkeit war durch den Tarifausschuss beschlossen, die geänderten Regelungen waren sogar öffentlich bekannt gemacht worden. Ein Vertrauen in den unveränderten Fortbestand der Ansprüche nach §§ 3, 4 TV 13. ME 2003 bestand bei den Nichttarifgebundenen im Zeitpunkt des Entstehens des Anspruchs deshalb nicht; die Tarifvertragsparteien haben mit dem am vereinbarten TV 13. ME 2010 auch nicht nachträglich in abgewickelte, der Vergangenheit angehörende Tatbestände eingegriffen (sog. echte Rückwirkung; vgl.  - zu B III 1 der Gründe, BVerfGE 72, 175).

21cc) Dass der Kläger anderweitig privat vorgesorgt hat, ist unerheblich. Tarifvertragsparteien sind regelmäßig nicht gehalten, individuelle Besonderheiten bei tariflichen Regelungen zu berücksichtigen. Der Kläger konnte auch nicht davon ausgehen, dass der tariflich bestimmte Anspruch auf eine Sonderzahlung auf Dauer unverändert bleiben würde. Soweit bei älteren Arbeitnehmern nur eine verhältnismäßig geringe Altersversorgung aus dem Arbeitgeberbeitrag zu erwarten ist, muss das hingenommen werden; auch diese Versorgungsleistung ist nicht wertlos, sondern entspricht dem tariflichen Arbeitgeberbeitrag.

22dd) Ebenso kommt es nicht darauf an, dass die Satzung der Zusatzversorgungskasse erst 2011 in Kraft gesetzt wurde. Der tarifliche Anspruch ist nicht unter den Vorbehalt einer bestimmten Satzungslage gestellt worden.

23II. Die Kostenentscheidung folgt aus § 97 Abs. 1 ZPO.

Auf diese Entscheidung wird Bezug genommen in folgenden Gerichtsentscheidungen:



Fundstelle(n):
GAAAE-57060