BAG Urteil v. - 2 AZR 419/12

Auflösungsantrag des Arbeitgebers - Sonderkündigungsschutz eines Wahlbewerbers - Recht auf freie Meinungsäußerung

Gesetze: § 9 Abs 1 S 2 KSchG, § 15 Abs 3 S 1 KSchG, Art 5 Abs 1 GG, Art 12 Abs 1 GG, Art 103 Abs 1 GG, § 626 Abs 1 BGB, § 103 BetrVG

Instanzenzug: Az: 14 Ca 17608/09 Teilurteilvorgehend Landesarbeitsgericht München Az: 9 Sa 1174/10 Urteilnachgehend Landesarbeitsgericht München Az: 9 Sa 162/14 Urteil

Tatbestand

1Die Parteien streiten über einen Auflösungsantrag der Beklagten.

2Die Beklagte ist ein Unternehmen im Bereich IT-Beratung und Systemintegration. Der Kläger ist bei ihr seit 2006 als Diplominformatiker/Softwareentwickler tätig. Die Beklagte beschäftigt regelmäßig mehr als zehn Arbeitnehmer. In ihrem Betrieb besteht ein Betriebsrat.

3Am mahnte die Beklagte den Kläger ab, nachdem dieser die Teilnahme an einer Veranstaltung, die der Überprüfung seines Kenntnisstands in der Programmiersprache Java dienen sollte, verweigert hatte. Dagegen hat sich der Kläger - erfolglos - mit einer in einem Vorprozess erhobenen Klage gewandt.

4Am hörte die Beklagte den Betriebsrat zu einer beabsichtigten ordentlichen Kündigung des Klägers wegen Arbeitsverweigerung und Schlechterfüllung seiner Arbeitspflicht an. Der Betriebsrat widersprach der Kündigung. Mit Schreiben vom kündigte die Beklagte das Arbeitsverhältnis ordentlich verhaltensbedingt zum .

5Am mahnte die Beklagte den Kläger ab, weil ein am übergebenes Programmierergebnis trotz Nachbearbeitung zahlreiche Fehler aufgewiesen habe. Am erteilte sie ihm eine weitere Abmahnung wegen Nichtbefolgung von Arbeitsanweisungen.

6Am hörte sie den Kläger zum dringenden Verdacht des Arbeitszeitbetrugs an, nachdem dieser für den unterschiedliche Angaben zu seinen Arbeitszeiten gemacht hatte.

7Mit Schreiben vom kündigte sie das Arbeitsverhältnis nach Anhörung des Betriebsrats wegen Schlechtleistung außerordentlich fristlos, hilfsweise fristgerecht zum . Gleichzeitig stellte sie den Kläger von der Verpflichtung zur Arbeitsleistung frei. Mit zwei Schreiben vom kündigte sie das Arbeitsverhältnis - ebenfalls nach vorheriger Anhörung des Betriebsrats - wegen Schlechtleistung und Arbeitszeitbetrugs außerordentlich fristlos, hilfsweise fristgerecht zum .

8Am reichte der Kläger beim Arbeitsgericht München einen Antrag auf Erlass einer einstweiligen Verfügung gegen die Beklagte ein. Dem Gesuch, mit dem er die vorläufige Zahlung von Arbeitsentgelt begehrte, fügte der Kläger eine eidesstattliche Versicherung bei. Dort heißt es:

9Im Termin übergab der Kläger eine weitere eidesstattliche Versicherung. Darin berichtigte er seine früheren Angaben dahingehend, dass der Betriebsrat den Kündigungen vom nicht widersprochen habe.

10Mit Schreiben vom und vom kündigte die Beklagte das Arbeitsverhältnis erneut fristlos, hilfsweise ordentlich. Unter dem kündigte sie ein weiteres Mal fristlos.

11Der Kläger bewarb sich als Kandidat für die Betriebsratswahl am . Zusammen mit den übrigen Bewerbern seiner Liste verfasste und veröffentlichte er einen Wahlaufruf folgenden Inhalts:

12Das Ergebnis der Betriebsratswahl wurde am bekannt gegeben. Der Kläger wurde nicht in den Betriebsrat gewählt.

13Gegen die im Jahr 2009 erklärten Kündigungen hat sich der Kläger mit seiner vorliegenden Klage gewandt. Die Beklagte hat beantragt, die Klage abzuweisen, hilfsweise

das Arbeitsverhältnis der Parteien gegen Zahlung einer Abfindung, deren Höhe in das Ermessen des Gerichts gestellt werde, jedoch 7.667,00 Euro brutto nicht übersteigen sollte, zum aufzulösen.

14Die Beklagte hat zur Begründung ihres - sich auf die ordentliche Kündigung vom beziehenden - Auflösungsantrags vorgebracht, aufgrund zahlreicher Pflichtverletzungen des Klägers sei eine den Betriebszwecken dienliche Zusammenarbeit zwischen den Parteien in Zukunft nicht mehr zu erwarten. Dessen falscher Vortrag im Verfahren auf Erlass einer einstweiligen Verfügung und die unzutreffende eidesstattliche Versicherung stellten einen Versuch des Prozessbetrugs dar. Der Kläger habe die Unrichtigkeit seiner Angaben zumindest billigend in Kauf genommen und dadurch das in seine Integrität gesetzte Vertrauen erheblich erschüttert. Ein weiterer Auflösungsgrund liege in den betriebsöffentlichen Beleidigungen und unwahren Tatsachenbehauptungen, die in dem Aufruf zur Betriebsratswahl 2010 enthalten seien. Der Kläger habe sich von den Aussagen trotz entsprechender Aufforderung nicht distanziert. Er verfüge auch nicht über die für eine gedeihliche Zusammenarbeit notwendige kritische Rollendistanz. Er werfe ihr grundlos „Mobbing“ vor, sehe selbst in einem von ihr in zweiter Instanz - erfolgreich - angebrachten Antrag auf Fristverlängerung und Verlegung eines Kammertermins einen Angriff auf seine wirtschaftliche Existenz und akzeptiere nicht einmal Weisungen, deren Berechtigung - wie im Fall der Weisung, die der Abmahnung vom zugrunde gelegen habe - rechtskräftig festgestellt sei.

15Der Kläger hat beantragt, den Auflösungsantrag abzuweisen. Der Auflösung des Arbeitsverhältnisses stehe bereits sein Sonderkündigungsschutz als Wahlbewerber entgegen. Auch seien keine Auflösungsgründe gegeben. Er sei weiterhin bereit, sich voll und ganz für das Unternehmen und die Belegschaft einzusetzen. Dies komme insbesondere durch seine Kandidatur bei der Betriebsratswahl 2010 zum Ausdruck. Der in diesem Zusammenhang verfasste Wahlaufruf stelle die Personalpolitik der Beklagten lediglich pointiert und wahrheitsgetreu dar. Im einstweiligen Verfügungsverfahren habe er alle Angaben nach bestem Wissen und Gewissen gemacht. Unrichtigkeiten in seiner ursprünglichen eidesstattlichen Erklärung seien auf Missverständnisse zurückzuführen, die mit Sprachschwierigkeiten zusammenhingen.

16Das Arbeitsgericht hat durch Teilurteil festgestellt, dass das Arbeitsverhältnis der Parteien weder durch die ordentliche Kündigung vom , noch durch die fristlosen Kündigungen vom 18. und aufgelöst worden ist. Zugleich hat es das Arbeitsverhältnis der Parteien zum aufgelöst und die Beklagte zur Zahlung einer Abfindung in Höhe von 20.051,46 Euro brutto verurteilt. Das Landesarbeitsgericht hat die Berufungen beider Parteien zurückgewiesen. Mit der Revision verfolgt der Kläger sein Begehren weiter, den Auflösungsantrag abzuweisen. Im Übrigen ist die Entscheidung des Landesarbeitsgerichts rechtskräftig.

Gründe

17Die Revision des Klägers ist begründet. Auf der Grundlage seiner bisherigen Feststellungen durfte das Landesarbeitsgericht dem Auflösungsantrag der Beklagten nicht stattgeben. Das angefochtene Urteil war in diesem Umfang aufzuheben (§ 562 Abs. 1 ZPO) und die Sache an das Landesarbeitsgericht zurückzuverweisen (§ 563 Abs. 1 Satz 1 ZPO). Der Senat kann nicht abschließend entscheiden. Der relevante Sachverhalt ist noch nicht hinreichend festgestellt (§ 563 Abs. 3 ZPO).

18I. Das Kündigungsschutzgesetz lässt die Auflösung des Arbeitsverhältnisses bei Sozialwidrigkeit der Kündigung nur ausnahmsweise zu. Es ist nach seiner Konzeption ein Bestandsschutz- und kein Abfindungsgesetz ( - Rn. 41, BAGE 140, 47; - 2 AZR 674/09 - Rn. 20). An die Auflösungsgründe sind deshalb strenge Anforderungen zu stellen.

191. Auflösungsgründe iSv. § 9 Abs. 1 Satz 2 KSchG können solche Umstände sein, die das persönliche Verhältnis zum Arbeitnehmer, die Wertung seiner Persönlichkeit, seiner Leistung oder seiner Eignung für die ihm gestellten Aufgaben und sein Verhältnis zu den übrigen Mitarbeitern betreffen. Die Gründe, die eine den Betriebszwecken dienliche weitere Zusammenarbeit zwischen den Vertragspartnern nicht erwarten lassen, müssen nicht im Verhalten, insbesondere nicht im schuldhaften Verhalten des Arbeitnehmers liegen. Entscheidend ist, ob die objektive Lage die Besorgnis rechtfertigt, dass die weitere gedeihliche Zusammenarbeit gefährdet ist ( - Rn. 42, BAGE 140, 47; - 2 AZR 674/09 - Rn. 21, jeweils mwN).

202. Die Begründetheit eines Auflösungsantrags ist grundsätzlich nach den Umständen zu beurteilen, die im Zeitpunkt der letzten mündlichen Verhandlung in der Tatsacheninstanz vorlagen. Auf deren Grundlage ist zu fragen, ob in der Zukunft eine den Betriebszwecken dienliche weitere Zusammenarbeit zu erwarten ist ( - Rn. 41, BAGE 140, 47; - 2 AZR 674/09 - Rn. 20). Etwas anderes gilt nur dann, wenn das Arbeitsverhältnis nach dem gemäß § 9 Abs. 2 KSchG festzusetzenden Zeitpunkt, jedoch vor Erlass des (Berufungs-)Urteils bereits geendet hat. In einem solchen Fall ist das Gericht zwar nicht an der Auflösung des Arbeitsverhältnisses gehindert. Für die nach § 9 Abs. 1 Satz 2 KSchG anzustellende Zukunftsprognose ist aber nur der Zeitraum bis zum Eintritt der anderweitigen Beendigung zu berücksichtigen ( - Rn. 22 ff.).

213. Die Würdigung, ob die Auflösung des Arbeitsverhältnisses gerechtfertigt ist, obliegt in erster Linie dem Tatsachengericht. Das Revisionsgericht kann aber nachprüfen, ob das Berufungsgericht die Voraussetzungen für den Auflösungsantrag zutreffend erkannt und bei Prüfung der vorgetragenen Auflösungsgründe alle wesentlichen Umstände vollständig und widerspruchsfrei berücksichtigt und gewürdigt hat ( - Rn. 43, BAGE 140, 47; - 2 AZR 554/08 - Rn. 33).

22II. Einer solchen Prüfung hält die Entscheidung des Landesarbeitsgerichts nicht stand.

231. Das Landesarbeitsgericht nimmt mit Recht an, die gerichtliche Auflösung des Arbeitsverhältnisses sei nicht von vornherein deshalb ausgeschlossen, weil der Kläger zwischenzeitlich besonderen Kündigungsschutz gemäß § 15 Abs. 3 Satz 1, Satz 2 KSchG erlangt habe. Der Sonderkündigungsschutz führt, anders als die Revision meint, auch nicht dazu, dass Auflösungsgründe, die im geschützten Zeitraum entstanden sind, das Gewicht eines Kündigungsgrundes iSv. § 626 BGB erreichen müssten.

24a) Nach § 15 Abs. 3 Satz 1 KSchG kann das Arbeitsverhältnis eines Wahlbewerbers in der Zeit von der Aufstellung des Wahlvorschlags bis zur Bekanntgabe des Wahlergebnisses nur aus wichtigem Grund und zudem nur unter Einhaltung des besonderen Verfahrens nach § 103 BetrVG gekündigt werden. Gemäß § 15 Abs. 3 Satz 2 KSchG kann das Arbeitsverhältnis des nicht gewählten Bewerbers bis zum Ablauf von sechs Monaten nach Bekanntgabe des Wahlergebnisses weiterhin nur aus wichtigem Grund gekündigt werden.

25b) Die Regelungen schließen zugleich eine Auflösung des Arbeitsverhältnisses nach § 9 Abs. 1 Satz 2 KSchG auf Antrag des Arbeitgebers im Zusammenhang mit einer Kündigung aus, die in dem geschützten Zeitraum erklärt wird. Stellt das Gericht fest, dass eine in diesem Zeitraum erklärte außerordentliche Kündigung unwirksam ist, steht die Möglichkeit, eine Auflösung des Arbeitsverhältnisses zu beantragen, nach § 13 Abs. 1 Satz 3 KSchG ohnehin ausschließlich dem Arbeitnehmer zu. Der Arbeitgeber kann die Auflösung des Arbeitsverhältnisses lediglich im Zusammenhang mit einer unwirksamen ordentlichen Kündigung und auch insoweit nur beantragen, wenn die Kündigung nicht aus anderen Gründen als der Sozialwidrigkeit unwirksam ist (vgl.  - Rn. 13; - 2 AZR 63/07 - Rn. 27, BAGE 127, 329). Das wiederum ist während des Bestehens des Sonderkündigungsschutzes wegen § 15 Abs. 1, Abs. 3 KSchG stets der Fall.

26c) Hat der Arbeitgeber vor Eintritt des Sonderkündigungsschutzes eine - sozial nicht gerechtfertigte - ordentliche Kündigung erklärt und hierauf bezogen einen Auflösungsantrag gestellt und hat der Sonderkündigungsschutz im Zeitpunkt der Entscheidung über den Auflösungsantrag bereits wieder geendet, kommt eine - entsprechende - Anwendung von § 15 Abs. 3 Satz 1, Satz 2 KSchG, § 103 BetrVG nicht in Betracht. Ob etwas anderes zu gelten hat, wenn der Sonderkündigungsschutz zu dem nach § 9 Abs. 2 KSchG festzusetzenden Auflösungszeitpunkt, also bei Ablauf der Kündigungsfrist - hier dem  -, schon bestand, bedarf keiner Entscheidung. Dafür gibt es im Streitfall keinen Anhaltspunkt. Zwar ist der genaue Zeitpunkt, zu dem der Wahlvorschlag für den Kläger aufgestellt war (zu den Voraussetzungen: vgl.  - Rn. 12 mwN), nicht festgestellt. Das Landesarbeitsgericht ist aber erkennbar davon ausgegangen, dass der Kläger erst im Jahre 2010 Sonderkündigungsschutz als Wahlbewerber erlangt hat. Etwas anderes hat auch keine der Parteien geltend gemacht.

27aa) Soweit der Senat für einen Arbeitnehmer, der in den Personalrat gewählt worden war, entschieden hat, einem Auflösungsantrag, der auf einen nach der Wahl entstandenen Sachverhalt gestützt werde, könne nur stattgegeben werden, wenn dieser Sachverhalt geeignet sei, einen wichtigen Grund für eine außerordentliche Kündigung abzugeben ( - zu IX der Gründe, BAGE 24, 468; ebenso APS/Biebl 4. Aufl. § 9 KSchG Rn. 58; vHH/L/Linck 15. Aufl. § 9 Rn. 61; aA HaKo-KSchG/Fiebig 4. Aufl. § 9 Rn. 85; Hertzfeld NZA-RR 2012, 1), betraf dies - anders als hier - den Fall, dass der Arbeitnehmer im Zeitpunkt der gerichtlichen Entscheidung über den Auflösungsantrag noch Mandatsträger war. Auf eine solche Konstellation bezieht sich auch die im Schrifttum für den Geltungsbereich des Betriebsverfassungsgesetzes vertretene Auffassung, dass außerdem der Betriebsrat der Auflösung zugestimmt haben müsse, da andernfalls § 103 BetrVG umgangen werde (ErfK/Kiel 13. Aufl. § 9 KSchG Rn. 18; KR/Spilger 10. Aufl. § 9 KSchG Rn. 62; SES/Schwarze KSchG § 9 Rn. 64).

28bb) Im Streitfall konnte eine Auflösung des Arbeitsverhältnisses nicht zur Umgehung von § 15 Abs. 3 KSchG und § 103 BetrVG führen. Es bedurfte daher weder eines Sachverhalts, der zugleich geeignet gewesen wäre, einen wichtigen Grund für eine außerordentliche Kündigung abzugeben, noch einer Zustimmung des Betriebsrats. Dies gilt auch, soweit der Auflösungsantrag auf während der Zeit des Sonderkündigungsschutzes entstandene Sachverhalte gestützt wird.

29(1) Der besondere Kündigungsschutz des § 15 KSchG soll die Unabhängigkeit von Funktionsträgern gewährleisten. Er soll sicherstellen, dass sie ihre betriebsverfassungsrechtlichen Aufgaben ohne Furcht vor Repressalien seitens des Arbeitgebers ausführen können. Darüber hinaus dient er der Kontinuität der Arbeit der jeweiligen Arbeitnehmervertretung ( - Rn. 13; KR/Etzel 10. Aufl. § 15 KSchG Rn. 9, 10; vHH/L/v. Hoyningen-Huene 15. Aufl. § 15 Rn. 1). In diesem Zusammenhang soll § 15 Abs. 3 KSchG die Durchführung der Wahl erleichtern. Insbesondere sollen Arbeitgeber daran gehindert werden, nicht genehme Arbeitnehmer von der Wahl auszuschließen (vgl.  - Rn. 13; - 2 AZR 377/10 - Rn. 22). Die - zeitlich befristete - Ausdehnung des Sonderkündigungsschutzes nach § 15 Abs. 3 Satz 2 KSchG über den Zeitpunkt der Bekanntgabe des Wahlergebnisses hinaus soll die „Abkühlung“ eventuell während der Wahl aufgetretener Kontroversen ermöglichen (BT-Drucks. VI/1786 S. 60).

30(2) Hier hatte der Sonderkündigungsschutz des Klägers bei Entscheidung über den Auflösungsantrag bereits wieder geendet. Er hatte zudem zum Zeitpunkt des möglichen Auflösungstermins noch nicht bestanden. Die Auflösung des Arbeitsverhältnisses konnte daher weder die Tätigkeit des Klägers als Wahlbewerber noch die Kontinuität des betriebsverfassungsrechtlichen Organs beeinträchtigen.

31(3) Der von § 15 Abs. 3 KSchG bezweckte Schutz der Unabhängigkeit des Wahlbewerbers verlangt in Fällen wie dem vorliegenden auch nicht danach, während der Zeit des Sonderkündigungsschutzes entstandene Sachverhalte entweder gar nicht oder nur dann als Auflösungsgrund zu berücksichtigen, wenn sie geeignet wären, einen wichtigen Grund iSv. § 626 Abs. 1 BGB abzugeben.

32(a) Der Amts- bzw. Funktionsträger iSd. § 15 KSchG ist außerhalb des Schutzzeitraums in kündigungsschutzrechtlicher Hinsicht jedem anderen Arbeitnehmer ohne betriebsverfassungsrechtliches Mandat gleichgestellt. Nach Ablauf des Nachwirkungszeitraums kann eine ordentliche Kündigung deshalb auch auf solche Pflichtverletzungen gestützt werden, die der Arbeitnehmer während der Schutzfrist begangen hat. Das gilt uneingeschränkt jedenfalls für Handlungen, die in keinem Zusammenhang zur Wahlbewerbung stehen (vgl.  - zu II 1 e der Gründe). Für die Heranziehung entsprechender Sachverhalte als Auflösungsgrund kann nichts anderes gelten.

33(b) Stehen die behaupteten Tatsachen, die die Auflösung begründen sollen, mit der Kandidatur in Verbindung, ist der Arbeitnehmer hinreichend geschützt, wenn dieser Aspekt bei der materiellen Bewertung des geltend gemachten Auflösungsgrundes angemessen Berücksichtigung findet. Wirkt sich der fragliche Umstand etwa - wie bei der Verletzung betriebsverfassungsrechtlicher Pflichten des Wahlbewerbers - ausschließlich im kollektiven Bereich aus, liegt von vornherein kein tragfähiger Auflösungsgrund iSd. § 9 Abs. 1 Satz 2 KSchG vor. Im anderen Fall muss berücksichtigt werden, dass Arbeitnehmer durch die Wahrnehmung betriebsverfassungsrechtlicher Funktionen leichter mit ihren arbeitsvertraglichen Pflichten in Konflikt geraten können. Es bedarf deshalb im Rahmen von § 9 Abs. 1 Satz 2 KSchG einer genauen Prüfung, welche Bedeutung das im geschützten Zeitraum eingetretene Ereignis nach dem Auslaufen des Sonderkündigungsschutzes für die zukünftige gedeihliche Zusammenarbeit der Arbeitsvertragsparteien tatsächlich hat.

342. Auch ausgehend von diesem rechtlichen Rahmen durfte das Landesarbeitsgericht auf der Grundlage seiner bisherigen Feststellungen nicht annehmen, eine gedeihliche Zusammenarbeit der Parteien sei nicht mehr zu erwarten. Das gilt unabhängig von der Frage, ob das Gericht in Anbetracht der zum erklärten ordentlichen Kündigungen vom und weiterer, dem Kläger nach dem in Rede stehenden Auflösungstermin zugegangener Kündigungen vom richtigen Prognosezeitraum ausgegangen ist.

35a) Als Auflösungsgrund grundsätzlich geeignet sind Beleidigungen oder persönliche Angriffe des Arbeitnehmers gegen den Arbeitgeber, Vorgesetzte und Kollegen. Auch bewusst wahrheitswidrig aufgestellte Tatsachenbehauptungen können - etwa wenn sie den Tatbestand der üblen Nachrede erfüllen - die Rechte eines Arbeitgebers in gravierender Weise verletzen und eine gedeihliche künftige Zusammenarbeit in Frage stellen ( - Rn. 22). Der Arbeitnehmer kann sich dafür nicht auf sein Recht zur freien Meinungsäußerung (Art. 5 Abs. 1 GG) berufen. Falsche Tatsachenbehauptungen sind nicht vom Schutzbereich des Art. 5 Abs. 1 GG umfasst ( - Rn. 19). Äußerungen, die ein Werturteil enthalten, fallen hingegen in den Schutzbereich des Art. 5 Abs. 1 GG. Dasselbe gilt für Äußerungen, in denen sich Tatsachen und Meinungen vermengen, sofern sie durch die Elemente der Stellungnahme, des Dafürhaltens oder Meinens geprägt sind ( - Rn. 18; - 1 BvR 193/05 - Rn. 21). In diesem Fall ist das Grundrecht der Meinungsfreiheit gegen die betroffenen Grundrechte des Arbeitgebers abzuwägen und mit diesen in ein ausgeglichenes Verhältnis zu bringen. Im Rahmen der Abwägung fällt die Richtigkeit des Tatsachengehalts, der dem Werturteil zugrunde liegt, ins Gewicht ( - Rn. 19; - 1 BvR 262/91 - zu B II 2 der Gründe, BVerfGE 94, 1). Meinungsäußerungen, die auf einer gesicherten Tatsachenbasis beruhen, hat der Arbeitgeber eher hinzunehmen, als solche, bei denen sich der Arbeitnehmer auf unzutreffende Tatsachen stützt.

36b) Arbeitnehmer dürfen unternehmensöffentlich Kritik am Arbeitgeber und den betrieblichen Verhältnissen üben und sich ggf. auch überspitzt oder polemisch äußern ( - Rn. 22; - 2 AZR 355/10 - Rn. 14, BAGE 138, 312). Die Meinungsfreiheit muss jedoch regelmäßig dann zurücktreten, wenn sich das in der Äußerung enthaltene Werturteil als Formalbeleidigung oder Schmähkritik erweist ( - Rn. 23; - 1 BvR 1476/91 ua. - zu C III 2 der Gründe, BVerfGE 93, 266). Das gilt auch bei der Teilnahme an einer Betriebsratswahl. Der Arbeitgeber muss nicht deshalb Beleidigungen oder Schmähungen hinnehmen, weil ein Arbeitnehmer damit Stimmen für seine Kandidatur gewinnen will (ähnlich  - zu II 3 b der Gründe). Allerdings macht auch eine überzogene oder gar ausfällige Kritik eine Erklärung für sich genommen noch nicht zur Schmähung. Hinzutreten muss vielmehr, dass bei der Äußerung nicht mehr die Auseinandersetzung in der Sache, sondern die Diffamierung im Vordergrund steht, die den Betroffenen jenseits polemischer und überspitzter Kritik in erster Linie herabsetzen soll (vgl. ua. - aaO;  - Rn. 17, aaO;  - zu II 4 a der Gründe).

37c) Soweit in einem laufenden Gerichtsverfahren - etwa im Kündigungsschutzprozess - Erklärungen abgegeben werden, ist zu berücksichtigen, dass diese durch ein berechtigtes Interesse des Arbeitnehmers gedeckt sein können ( - Rn. 22; - 2 AZR 482/09 - Rn. 12). Parteien dürfen zur Verteidigung von Rechten schon im Hinblick auf den Anspruch auf Gewährung rechtlichen Gehörs (Art. 103 Abs. 1 GG) alles vortragen, was als rechts-, einwendungs- oder einredebegründender Umstand prozesserheblich sein kann ( - zu C II 3 der Gründe). Ein Prozessbeteiligter darf auch starke, eindringliche Ausdrücke und sinnfällige Schlagworte benutzen, um seine Rechtsposition zu unterstreichen, selbst wenn er seinen Standpunkt vorsichtiger hätte formulieren können. Dies gilt allerdings nur in den Grenzen der Wahrheitspflicht. Parteien dürfen nicht leichtfertig Tatsachenbehauptungen aufstellen, deren Unhaltbarkeit ohne Weiteres auf der Hand liegt ( - aaO mwN).

38d) Gemessen daran trägt die bisherige Begründung des Berufungsurteils die gerichtliche Auflösung des Arbeitsverhältnisses nicht.

39aa) Das Landesarbeitsgericht hat angenommen, der Kläger habe mit dem Wahlaufruf unzutreffende Behauptungen im Betrieb verbreitet, welche das „Unternehmenspersönlichkeitsrecht“ der Beklagten verletzten. Er habe damit seine gegenüber der Beklagten bestehenden Pflichten zur Rücksichtnahme in einem Umfang verletzt, der eine weitere gedeihliche Zusammenarbeit nicht mehr erwarten lasse. Bei dieser Würdigung hat das Landesarbeitsgericht die Bedeutung und Tragweite der Meinungsfreiheit verkannt.

40(1) Für die Frage, ob und in welcher Weise in Fällen wie diesem die betroffenen Interessen in einen angemessenen Ausgleich zu bringen sind, ist maßgebend, ob die fragliche Äußerung als Werturteil oder als Tatsachenbehauptung anzusehen ist. Während für Werturteile die subjektive Beziehung des sich Äußernden zum Inhalt seiner Aussage kennzeichnend ist, werden Tatsachenbehauptungen durch die objektive Beziehung zwischen der Äußerung und der Wirklichkeit charakterisiert. Anders als Werturteile sind Tatsachenbehauptungen daher grundsätzlich dem Beweis zugänglich ( - Rn. 21; - 1 BvR 23/94 - zu B II 1 b der Gründe, BVerfGE 90, 241). Ob eine Äußerung ihrem Schwerpunkt nach als Meinungsäußerung oder als Tatsachenbehauptung anzusehen ist, beurteilt sich entscheidend nach dem Gesamtkontext, in dem sie steht (zum Ganzen: , 1 BvR 527/13 - Rn. 18).

41(2) Danach handelt es sich bei der im Wahlaufruf - sinngemäß - enthaltenen Aussage, die Beklagte betreibe „Mobbing“, indem sie auf der Grundlage erfundener Sachverhalte willkürliche Abmahnungen und Kündigungen ausspreche, nicht um eine unwahre Tatsachenbehauptung. Die Vorwürfe des „Mobbings“ und der „Willkür“ als solche sind erkennbar das Ergebnis einer wertenden Betrachtung. Der Hinweis, die Beklagte spreche Abmahnungen und Kündigungen „auf der Basis erfundener Sachverhalte“ aus, stellt keine - isolierte - Tatsachenbehauptung dar. Die Äußerung bildet lediglich die tatsächliche Grundlage für das Werturteil und ist daher mit der Meinungsäußerung untrennbar verbunden. Die im Wahlaufruf enthaltenen Äußerungen fallen damit sämtlich in den Schutzbereich des Art. 5 Abs. 1 GG und hätten mit den ggf. betroffenen Grundrechten der Beklagten - insbesondere Art. 12 Abs. 1 GG (vgl.  - Rn. 25 mwN) - in ein angemessenes Verhältnis gebracht werden müssen. Dies hat das Landesarbeitsgericht - aus seiner Sicht folgerichtig - unterlassen.

42(3) Die Meinungsfreiheit des Klägers muss nicht deshalb zurücktreten, weil die Inhalte des Wahlaufrufs als bloße Diffamierung anzusehen wären. Bei den Äußerungen stand nicht eine Schmähung oder Beleidigung der Beklagten oder ihrer Repräsentanten, sondern die - wenngleich überspitzte und polemische - Darstellung der betrieblichen Verhältnisse zum Zwecke des laufenden Betriebsratswahlkampfs im Vordergrund. Etwas anderes gilt auch nicht deshalb, weil der Kläger nach dem Ende des Wahlkampfs an seinen Äußerungen festgehalten hat. Damit hat er - anders als das Landesarbeitsgericht angenommen hat - nicht seine Meinungsäußerung in der Betriebsöffentlichkeit aufrechterhalten, sondern im Rahmen des Rechtsstreits seinen Standpunkt - bezogen auf ein in der Vergangenheit liegendes Verhalten - verteidigt und damit berechtigte eigene Interessen wahrgenommen.

43bb) Auch die Berücksichtigung der Abgabe einer falschen eidesstattlichen Versicherung im Verfahren auf Erlass einer einstweiligen Verfügung als Auflösungsgrund ist nicht frei von Rechtsfehlern. Das Landesarbeitsgericht hat den vorgetragenen Sachverhalt nicht vollständig gewürdigt. Es hat die - unstreitige - Tatsache, dass der Kläger seine Versicherung bereits wenige Tage später korrigierte, nicht in seine Erwägungen einbezogen. Hätte es diesen Umstand berücksichtigt, hätte es nicht ohne Weiteres annehmen können, der Kläger werde es auch in Zukunft „mit der Wahrheit nicht so genau nehmen“.

44cc) Soweit das Landesarbeitsgericht einen Auflösungsgrund in der mangelnden Bereitschaft des Klägers erblickt hat zu akzeptieren, dass die Beklagte ihm am eine - wie durch rechtskräftiges Urteil bestätigt - rechtmäßige Weisung erteilt habe, ist nicht erkennbar, von welchen Tatsachen es dabei ausgegangen ist. Dass der Kläger die entsprechende Weisung auch nach Abschluss des wegen der Entfernung der Abmahnung aus seiner Personalakte geführten Rechtsstreits nicht befolgt hätte, hat es nicht festgestellt. Aus einem möglichen Fehlen der inneren Akzeptanz auf Seiten des Klägers ergeben sich - soweit ersichtlich - keine negativen Auswirkungen für die weitere Zusammenarbeit.

45dd) Die Annahme des Landesarbeitsgerichts, eine gedeihliche Zusammenarbeit der Parteien sei deshalb nicht zu erwarten, weil sich der Kläger selbst durch Terminverlegungsanträge des Prozessbevollmächtigten der Beklagten angegriffen fühle und dieser unterstelle, sie dienten nur dazu, ihn auf unzulässige Weise unter Druck zu setzen und ihn existenziell zu ruinieren, hält der revisionsrechtlichen Überprüfung nicht stand. Das gilt gleichermaßen für die Annahme, der Kläger sei, wie der wiederholte Vorwurf des „Mobbings“ zeige, nicht in der Lage, „das Handeln des Arbeitgebers in einem auch nur halbwegs objektiven Licht zu sehen“. Das Landesarbeitsgericht hat außer Acht gelassen, dass die Äußerungen im Rahmen eines kontrovers geführten Rechtsstreits gefallen sind. In einem solchen „Kampf um das Recht“ war dem Kläger auch die Behauptung möglicherweise ehrverletzender Tatsachen erlaubt, soweit es aus seiner Sicht darauf ankommen konnte (vgl.  - zu C II 3 der Gründe;  - Rn. 29). Das war hier der Fall. Der Kläger wollte auf diese Weise ersichtlich nur seine subjektive Wahrnehmung schildern, um seiner Rechtsauffassung besonderen Nachdruck zu verleihen.

46III. Ob die Auflösung des Arbeitsverhältnisses nach § 9 KSchG gerechtfertigt ist, steht noch nicht fest. Es fehlt an den erforderlichen Feststellungen. Die Sache war deshalb an das Landesarbeitsgericht zurückzuverweisen.

471. Das Landesarbeitsgericht hat hinsichtlich der Äußerungen im Wahlaufruf keine Abwägung zwischen dem Grundrecht des Klägers auf freie Meinungsäußerung und betroffenen Grundrechten der Beklagten oder ihrer Repräsentanten vorgenommen. Dies hat es nachzuholen. Dabei wird es genau prüfen müssen, in welchen eigenen Rechtspositionen sich die Beklagte als verletzt sieht und ob diese grundrechtlichen Schutz genießen (vgl. dazu  - Rn. 25). Bei dieser Abwägung wird auch der Wahrheitsgehalt der Tatsachen zu ermitteln sein, die der Meinungsäußerung nach dem Vorbringen des Klägers zugrunde liegen. Dabei sind - anders als das Landesarbeitsgericht bislang angenommen hat - nicht nur ganze „Sachverhaltskomplexe“ zu berücksichtigen. Auch wenn sich - ggf. nach einer Beweisaufnahme - nur einzelne Tatsachen als unzutreffend herausstellen sollten, auf die die Beklagte Abmahnungen und/oder Kündigungen gestützt hat, wäre dies im Rahmen der Gesamtabwägung zugunsten des Klägers zu gewichten.

482. Für die Würdigung, ob die Äußerungen im Wahlaufruf geeignet sind, die Auflösung des Arbeitsverhältnisses zu rechtfertigen, wird das Landesarbeitsgericht zudem zu prüfen haben, ob die Gefahr einer Wiederholung besteht. Auf der Grundlage der bisherigen Feststellungen ist eine solche nicht erkennbar. Die Betriebsratswahl ist abgeschlossen, der Kläger hat die Funktion des Wahlbewerbers nicht mehr inne. Dass künftig dennoch mit gleichen oder ähnlichen Meinungsäußerungen zu rechnen ist, hat das Landesarbeitsgericht nicht festgestellt.

493. Sollte das Landesarbeitsgericht in der Abgabe einer falschen eidesstattlichen Versicherung auch unter Berücksichtigung ihrer nachträglichen Korrektur weiterhin einen möglichen Auflösungsgrund sehen, wird es noch festzustellen haben, ob dem Kläger insoweit Vorsatz oder Fahrlässigkeit zur Last zu legen ist. Diese Unterscheidung ist entscheidungserheblich. Fahrlässigkeit wird die Beklagte in diesem Zusammenhang eher hinzunehmen haben als Vorsatz.

504. Gelangt das Landesarbeitsgericht - ggf. unter Einbeziehung weiteren Sachvortrags der Beklagten - erneut zu dem Ergebnis, es lägen „an sich“ geeignete Auflösungsgründe vor, wird es zu prüfen haben, von welchem Prognosezeitraum auszugehen ist. Zwar steht - soweit ersichtlich - nicht rechtskräftig fest, dass das Arbeitsverhältnis aufgrund einer der weiteren Kündigungen der Beklagten nach dem geendet hat. Darauf kommt es aber nicht an. Ist der Eintritt einer anderweitigen Beendigung des Arbeitsverhältnisses zwar möglich, steht er aber nicht mit Gewissheit fest, muss das zur Entscheidung über den Auflösungsantrag berufene Gericht ggf. eine Prognose über die Wahrscheinlichkeit eines solchen Eintritts treffen und daran die Prüfung nach § 9 KSchG ausrichten (vgl.  - Rn. 18; - 2 AZR 360/05 - Rn. 29, BAGE 118, 95). Stellt sich heraus, dass das Arbeitsverhältnis aller Wahrscheinlichkeit nach vor dem Termin der mündlichen Verhandlung geendet hätte, sind bei der nach § 9 Abs. 1 Satz 2 KSchG vorzunehmenden Gesamtabwägung auch nur die Auflösungstatsachen zu berücksichtigen, die im maßgebenden Beurteilungszeitraum eingetreten sind.

Fundstelle(n):
BB 2014 S. 690 Nr. 12
LAAAE-57054