BVerwG Urteil v. - 2 C 67/11

Dienstunfähigkeit eines Soldaten

Leitsatz

Ein Soldat ist dienstunfähig im Sinne von § 55 Abs. 2, § 44 Abs. 3 Satz 1 SG, wenn er in Friedenszeiten nicht zumutbar verwendet werden kann oder im Verteidigungsfall den unverzichtbaren militärischen Anforderungen nicht genügt.

Gesetze: § 55 Abs 2 SG, § 44 Abs 3 SG, § 3 Abs 1 SG, Art 73 Abs 1 Nr 3 GG, Art 87a Abs 1 GG

Instanzenzug: Oberverwaltungsgericht Rheinland-Pfalz Az: 10 A 10628/11 Urteilvorgehend Az: 2 K 104/10. KO Urteil

Tatbestand

1Der Kläger beansprucht seine Entlassung aus dem Soldatenverhältnis auf Zeit wegen Dienstunfähigkeit.

2Der 1979 geborene Kläger ist seit Jahresanfang 1999 Soldat auf Zeit. Seine Dienstzeit endet Mitte 2019. Für das Studium der Humanmedizin war der Kläger von Oktober 1999 bis Dezember 2005 beurlaubt. Er ist Sanitätsoffizier und wurde im Dezember 2005 zum Stabsarzt befördert.

3Seit 2005 leidet der Kläger unter Ekzemen an den Händen. Medizinische Tests in Krankenhäusern der Bundeswehr ergaben eine erhebliche Sensibilisierung gegenüber Inhaltsstoffen von Gummi.

4Unter Berufung auf diese Allergie, die auch dazu führe, dass er keine ABC-Schutzausrüstung mehr tragen könne, beantragte der Kläger seine Entlassung aus der Bundeswehr. Die gegen den ablehnenden Bescheid erhobene Beschwerde wies die Bundeswehr mit der Begründung zurück, der Kläger sei trotz seiner gesundheitlichen Beeinträchtigungen zur Erfüllung seiner Dienstpflichten dauernd fähig. Denn es gebe für ihn in ausreichender Zahl administrative Verwendungsmöglichkeiten.

5Das Verwaltungsgericht hat die Beklagte unter Aufhebung der ablehnenden Bescheide verpflichtet, den Kläger zu entlassen. Das Oberverwaltungsgericht hat die Berufung der Beklagten zurückgewiesen. Zur Begründung hat es im Wesentlichen ausgeführt:

6Der Kläger sei dienstunfähig, weil er den Anforderungen des Verteidigungsfalls nicht gewachsen sei. Nach den im Verwaltungsverfahren erhobenen ärztlichen Befunden sei der Kläger wegen einer Allergie dauerhaft nicht in der Lage, eine ABC-Schutzausrüstung zu tragen. Er sei auch deshalb dienstunfähig, weil er als Stabsarzt nicht mehr kurativ tätig sein könne. Die für den Kläger vorgesehene rein administrative Tätigkeit könne nicht als eine wesentliche Dienststellung seines Dienstgrades angesehen werden, weil sie keine Verteidigungsrelevanz habe.

7Hiergegen richtet sich die Revision der Beklagten, mit der sie die Verletzung formellen und materiellen Rechts rügt. Sie beantragt,

die Urteile des Oberverwaltungsgerichts Rheinland-Pfalz vom und des Verwaltungsgerichts Koblenz vom aufzuheben und die Klage abzuweisen.

8Der Kläger beantragt,

die Revision zurückzuweisen.

Gründe

9Die Revision ist mit der Maßgabe begründet, dass das Berufungsurteil aufzuheben und die Sache an das Oberverwaltungsgericht zurückzuverweisen ist (§ 144 Abs. 3 Satz 1 Nr. 2 VwGO). Das Urteil des Oberverwaltungsgerichts verletzt § 55 Abs. 2 Satz 1 des Soldatengesetzes in der Fassung des Dienstrechtsneuordnungsgesetzes vom (BGBl I S. 160). Die Tatsachenfeststellungen des Oberverwaltungsgerichts reichen nicht aus, um zu entscheiden, ob der Kläger einen Anspruch auf Entlassung aus dem Soldatenverhältnis auf Zeit wegen Dienstunfähigkeit hat.

101. Ein Soldat auf Zeit ist dienstunfähig und nach § 55 Abs. 2 Satz 1 SG auf seinen Antrag hin zu entlassen, wenn er wegen seines körperlichen Zustandes oder aus gesundheitlichen Gründen zur Erfüllung seiner Dienstpflichten dauernd unfähig ist. Der gesetzliche Begriff des § 44 Abs. 3 Satz 1 SG für die Dienstunfähigkeit von Berufssoldaten gilt gleichermaßen für Soldaten auf Zeit (Vogelgesang, in: GKÖD, SG, § 55 Rn. 4; Walz/Eichen/Sohm, SG, 2. Aufl., § 55 Rn. 9; Scherer/Alff/Poretschkin, SG, 9. Aufl. § 55 Rn. 2). Diese Regelung hat ihren jetzigen Wortlaut ebenso wie § 55 Abs. 2 SG durch das Gesetz zur Änderung wehrrechtlicher und anderer Vorschriften vom (Wehrrechtsänderungsgesetz 2008, BGBl I S. 1629) erhalten. Inhaltliche Änderungen waren damit ersichtlich nicht verbunden. Der Gesetzgeber wollte lediglich den Begriff der Dienstunfähigkeit im Bereich des Soldatengesetzes an die sprachlich neu gefasste Begriffsbestimmung der Dienstunfähigkeit im Beamtenrecht anpassen (Gesetzentwurf der Bundesregierung, BTDrucks 16/7955 S. 32 zu Nr. 9). Daher ist es rechtlich ohne Bedeutung, dass die bis dahin bestehende eigenständige gesetzliche Bestimmung des Begriffs der Dienstunfähigkeit von Soldaten auf Zeit weggefallen ist.

11Bei der Dienstunfähigkeit handelt es sich um einen unbestimmten Rechtsbegriff, der der uneingeschränkten Nachprüfung der Verwaltungsgerichte unterliegt. Diese sind nicht an tatsächliche oder rechtliche Wertungen des Dienstherrn gebunden. Allerdings müssen die Gerichte die organisatorischen Vorentscheidungen des Dienstherrn und die von ihm festgelegten Anforderungen an die Erfüllung der dienstlichen Aufgaben zugrunde legen ( BVerwG 2 B 8.78 - Buchholz 238.4 § 55 SG Nr. 7).

12Maßstab für die dienstlichen Anforderungen in den Streitkräften und damit für die Dienstfähigkeit von Soldaten ist der Verteidigungsauftrag der Streitkräfte nach Art. 87a Abs. 1 GG. Diese Norm bringt zusammen mit Art. 73 Abs. 1 Nr. 1 GG die verfassungsrechtliche Grundentscheidung des Grundgesetzes für eine wirksame militärische Verteidigung der Bundesrepublik und damit die Sicherung der staatlichen Existenz zum Ausdruck ( 1 BvR 83, 244 und 345/69 - BVerfGE 28, 243 <261>; Urteil vom - 2 BvF 1, 2, 4, 5/77 - BVerfGE 48, 127 <163 f.> und Urteil vom - 2 BvF 2, 3, 4/83 und 2/84 - BVerfGE 69, 1 <54 ff.>). Aus dem Verteidigungsauftrag folgt die Verpflichtung, die Streitkräfte organisatorisch so zu gestalten und personell so auszustatten, dass sie ihren militärischen Aufgaben gewachsen sind ( BVerwG 1 WB 123.79 - BVerwGE 73, 182 <184>).

13Gesetzliche Vorgaben für die Verwendung von Soldaten in den Streitkräften finden sich in § 3 Abs. 1 SG. Danach ist der Soldat nach Eignung, Befähigung und Leistung ohne Rücksicht auf Geschlecht, sexuelle Identität, Abstammung, Rasse, Glauben, Weltanschauung, religiöse oder politische Anschauungen, Heimat, ethnische oder sonstige Herkunft zu ernennen und zu verwenden.

14In diesem gesetzlichen Rahmen folgt aus dem Verteidigungsauftrag, dass ein Soldat nicht verlangen kann, auf Dienstposten verwendet zu werden, die im Stellenplan mit einer seinem Dienstgrad und seiner Besoldungsgruppe entsprechenden Planstelle abgedeckt sind. Die verfassungsrechtlich gebotene ständige Einsatzbereitschaft der Bundeswehr setzt ein hohes Maß an personeller Flexibilität voraus, weil diese unerlässliche Voraussetzung für die Aufrechterhaltung der Einsatzfähigkeit und Schlagkraft der Bundeswehr ist. Daher können einem Soldaten ungeachtet seines Dienstgrades grundsätzlich alle Aufgaben übertragen werden, die unter Berücksichtigung aller Umstände des Einzelfalls bei objektiver Beurteilung noch zumutbar sind ( BVerwG 1 WB 116.74 - BVerwGE 53, 115 <117 f.>). Im Rahmen der Zumutbarkeit können Soldaten auch auf Dienstposten verwendet werden, die der Stellenplan nicht ihrem Dienstgrad zuordnet. Maßgebend für die Verwendung sind militärische Erfordernisse, die sich wiederum aus den organisatorischen Strukturen der Streitkräfte und der Einsatzplanung ergeben.

15Daraus ergeben sich folgende Schlussfolgerungen für die Dienstfähigkeit von Soldaten im Sinne von § 44 Abs. 3 Satz 1 SG: In Friedenszeiten ist ein Soldat dienstfähig, wenn es in der Bundeswehr eine Stelle gibt, auf der er zumutbar verwendet werden kann, und sich der Dienstherr entscheidet, diese mit ihm zu besetzen. Es obliegt der Entscheidung des Dienstherrn, welche personellen Änderungen er vornimmt, um die Stelle mit einem anderweitig nicht verwendbaren Soldaten besetzen zu können. Aufgrund des Vorrangs des Gesetzes (Art. 20 Abs. 3 GG) sind diese gesetzlichen Anforderungen maßgebend, auch wenn die zentralen Dienstvorschriften der Bundeswehr nicht damit übereinstimmen. Diese stellen für die Dienstfähigkeit auf die Anforderungen ab, die an einen Soldaten in seiner gegenwärtigen Dienststellung und in den wesentlichen Dienststellungen seines Dienstgrades gestellt werden (ZDv 14/5 B 153 Nr. 1 Abs. 3 Satz 1).

16Aufgrund dessen ist ein Stabsarzt nicht bereits dann dienstunfähig, wenn er aus gesundheitlichen Gründen nicht mehr kurativ tätig sein, d.h. Soldaten medizinisch behandeln kann. Nach den tatsächlichen Feststellungen des Oberverwaltungsgerichts, die den Senat nach § 137 Abs. 2 VwGO binden, hat die Bundeswehr eine Vielzahl von Stellen für Stabsärzte mit rein administrativen Aufgaben eingerichtet (vgl. Auflistung der Beklagten vom ). Eine derartige Verwendung ist dem Kläger wie jedem anderen Stabsarzt zumutbar.

17Aufgrund des Verteidigungsauftrags nach Art. 87a Abs. 1 GG liegt auf der Hand, dass die Dienstfähigkeit nicht nur aufgrund der Verwendbarkeit eines Soldaten in Friedenszeiten zu beurteilen ist. Die Streitkräfte können ihren Auftrag nur erfüllen, wenn ihre Soldaten in der Lage sind, ihre Aufgaben unter den spezifischen Bedingungen des Verteidigungsfalles zu erfüllen. Es ist Sache des Dienstherrn, die sich daraus ergebenden militärischen Anforderungen zu bestimmen, die für jeden Soldaten unverzichtbar sind. Ein Soldat, der diesen Anforderungen nicht genügt, ist auch dann dienstunfähig, wenn er in Friedenszeiten zumutbar verwendet werden kann.

18Die unverzichtbaren Anforderungen an den Einsatz im Verteidigungsfall können sich nach Waffengattung und Verwendung unterscheiden. So wird es für Soldaten der kämpfenden Truppe unverzichtbar sein, eine ABC-Schutzausrüstung tragen zu können. Etwas anderes mag je nach der an militärischen Erfordernissen ausgerichteten Einschätzung des Dienstherrn für Soldaten gelten, die in Stäben oder im Sanitätsdienst der Bundeswehr verwendet werden. Daraus ergeben sich Anforderungen an die weitere Aufklärung des Sachverhalts nach § 86 Abs. 1 VwGO:

19Das Oberverwaltungsgericht wird zunächst klären müssen, ob das Erfordernis, im Verteidigungsfall eine ABC-Schutzausrüstung zu tragen, als militärische Grundvoraussetzung uneingeschränkt auch für Stabsärzte gilt, die im administrativen Bereich eingesetzt werden. Ist dies der Fall, so muss geklärt werden, ob der Kläger diese Anforderung gesundheitlich erfüllen kann. Hierfür muss festgestellt werden, welche körperlichen gesundheitlichen Auswirkungen das Tragen der ABC-Schutzausrüstung für den Kläger hat. Er ist nur dann dienstunfähig, wenn ihm die Folgewirkungen nicht zugemutet werden können. Die im Verwaltungsverfahren erstellten Gutachten, auf deren Auswertung sich das Oberverwaltungsgericht beschränkt hat, reichen als Grundlage für eine abschließende Beurteilung dieser Frage nicht aus.

20Die Verträglichkeit der ABC-Schutzausrüstung ist auf der Grundlage der gegenwärtigen Ausrüstung der Bundeswehr in diesem Bereich zu prüfen. Es kommt darauf an, ob der Kläger auf sämtliche verwendeten ABC-Schutzmasken allergisch reagiert. Die Beklagte hat im Revisionsverfahren darauf hingewiesen, es würden auch Masken ausgegeben, die für Allergiker besonders geeignet sind. Darüber hinaus wird das Oberverwaltungsgericht bei der Beurteilung, ob das Tragen einer ABC-Schutzausrüstung für den Kläger aus gesundheitlichen Gründen zumutbar ist, zu berücksichtigen haben, dass allergische Reaktionen unterschiedlich stark ausfallen können. Sie reichen von einfachen Hautrötungen bis hin zu einem vitalen Organversagen.

21Bei der Entscheidung, ob es dem Kläger zumutbar ist, die gesundheitlichen Folgen des Tragens einer ABC-Schutzausrüstung hinzunehmen, wird das Oberverwaltungsgericht auch zu beachten haben, dass ein Soldat die Pflicht hat, im Einsatz lebensbedrohliche Situationen auf sich zu nehmen. Zudem wäre der Kläger mit einer Schutzausrüstung im Verteidigungsfall besser gegen atomare, biologische und chemische Kampfstoffe geschützt als ohne.

Fundstelle(n):
NJW 2013 S. 10 Nr. 37
SAAAE-43707