Sicherungsverwahrung: Sexueller Missbrauch von Kindern als schwere Sexualstraftat im Sinne der Weitergeltungsanordnung; Bedeutung europarechtlicher Vorgaben
Gesetze: § 66 Abs 1 Abs 1 S 1 Nr 4 StGB, § 176 Abs 1 StGB, § 176a Abs 2 Nr 1 StGB, EURL 93/2011
Instanzenzug: LG München I Az: 20 KLs 455 Js 148790/11
Gründe
1Das Landgericht hat den Angeklagten wegen schweren sexuellen Missbrauchs von Kindern nach der Rückfallqualifikation des § 176a Abs. 1 StGB (Anlasstat mit der Einsatzstrafe von vier Jahren) in Tatmehrheit mit Verstoß gegen Weisungen während der Führungsaufsicht (§ 145a StGB) zu der Gesamtfreiheitsstrafe von vier Jahren und neun Monaten verurteilt. Von der Anordnung der Unterbringung in der Sicherungsverwahrung nach § 66 Abs. 1 StGB hat es abgesehen. Zwar liege ein Hang des Angeklagten zu Sexualstraftaten vor, insbesondere zu Taten gemäß § 176 Abs. 1 StGB. Er werde derzeit und auch noch nach der Haftentlassung mit hoher Wahrscheinlichkeit Delikte wie die Anlasstat begehen. Bei Zugrundelegung der Maßstäbe des seien solche Taten jedoch nicht ausreichend schwer im Sinne der dort vorgeschriebenen Weitergeltungsanordnung.
2Die, wie der Generalbundesanwalt zutreffend ausgeführt hat, wirksam auf die Nichtanordnung der Sicherungsverwahrung beschränkte Revision der Staatsanwaltschaft, die auf die Verletzung materiellen Rechts gestützt ist, hat Erfolg. Bei seiner Gefahrprognose, es seien keine „schweren Sexualstraftaten“ i.S.d. Weitergeltungsanordnung zu erwarten, hat das Landgericht im Rahmen der nach § 66 Abs. 1 Satz 1 Nr. 4 StGB gebotenen Gesamtwürdigung nicht alle Umstände hinreichend bedacht.
I.
3Nach den Feststellungen des Landgerichts hat der zum Urteilszeitpunkt 64 Jahre alte Angeklagte seit über 40 Jahren sexuelles Interesse an Kindern; er wurde im Alter von 18 Jahren erstmals wegen exhibitionistischer Handlungen vor Kindern verurteilt. In einem mehrere Jahrzehnte umfassenden Zeitraum beging er in regelmäßigen Abständen ähnliche, teilweise nahezu identische Delikte wie die Anlasstat. Von diesem eingefahrenen Verhalten ließ sich der Angeklagte auch durch mehrjährige Therapien und lange Inhaftierungen nicht abhalten. Zu den Vorverurteilungen hat das Landgericht folgende Feststellungen getroffen:
41. Am wurde der Angeklagte vom Amtsgericht München wegen mehrfachen im Juni 1975 verübten sexuellen Missbrauchs von Kindern zu einer Bewährungsstrafe von elf Monaten verurteilt.
52. Am wurde er vom Amtsgericht München wegen zweier Fälle des sexuellen Missbrauchs von Kindern zu einer Bewährungsstrafe von einem Jahr und sechs Monaten verurteilt. In der Folge wurde die Strafaussetzung zur Bewährung widerrufen und die Strafe voll verbüßt. Der Verurteilung lag zugrunde, dass der Angeklagte im September 1985 ein acht Jahre altes Mädchen mit in ein Schlauchboot (ähnlich wie bei der Anlasstat) nahm, auf den See hinaus ruderte und dort aufforderte, sein entblößtes Glied mit einer mitgebrachten Sonnencreme einzureiben. Am selben Abend streichelte er das Kind in der Wohnung der Eltern unter dessen Schlüpfer an der Scheide; anschließend steckte er sein entblößtes Glied zwischen die Oberschenkel des Kindes und bewegte es auf und ab; während der ganzen Zeit waren die Eltern des Kindes anwesend, bemerkten aber nichts, da der Angeklagte sich und das Kind mit einer Decke zugedeckt hatte.
63. Am wurde der Angeklagte vom Amtsgericht Aichach wegen sexuellen Missbrauchs von Kindern in drei Fällen zu einem Jahr Freiheitsstrafe mit Bewährung verurteilt. Auch diese Bewährung wurde widerrufen; die Strafe hat er vollständig verbüßt. Dieser Verurteilung lag zugrunde, dass der Angeklagte an zwei verschiedenen Tagen im Juli 1987 ein zehnjähriges Mädchen dazu einlud, mit seinem Schlauchboot auf einen Badesee hinauszufahren und es dort veranlasste, über seiner Badehose an sein Geschlechtsteil zu fassen und daran zu reiben. Eine vergleichbare Tat verübte er im selben Monat gegenüber einem neunjährigen Mädchen.
74. Am wurde der Angeklagte vom Amtsgericht Augsburg wegen sexuellen Missbrauchs von Kindern zu einer Freiheitsstrafe von einem Jahr und sechs Monaten verurteilt. Er hatte die zehnjährige Freundin der Tochter seiner damaligen Lebensgefährtin im Juli 1991 bei Besuchen dazu veranlasst, an seinen Penis zu fassen. Mehrfach griff er dem Mädchen auch grob an die Brust, führte in zwei Fällen den Finger in deren Scheide ein und veranlasste das Mädchen auch einmal, ihr Geschlechtsteil zu entblößen, damit er es ansehen konnte.
85. Im Februar 1995, fünf Monate nach seiner Entlassung aus der Justizvollzugsanstalt, beging er die nächste Tat. Bei einer Fahrradtour traf er zwei Nachbarkinder. Während er mit ihnen auf einer Bank saß, drückte er zunächst die Hand des 14-jährigen Mädchens über der Hose an sein Glied, anschließend nahm er die Hand des 13-jährigen Jungen und drückte sie ebenfalls auf sein Glied. Deswegen wurde er vom Landgericht Traunstein am wegen sexueller Nötigung in zwei Fällen, davon in einem Fall tateinheitlich mit sexuellem Missbrauch eines Kindes, zu einer Freiheitsstrafe von zwei Jahren verurteilt, welche er bis Mai 1998 vollständig verbüßte.
96. Am wurde der Angeklagte vom Amtsgericht Rosenheim wegen sexuellen Missbrauchs von Kindern in Tatmehrheit mit Verstoß gegen Weisungen während der Führungsaufsicht zu einer Freiheitsstrafe von zwei Jahren verurteilt, welche er in der Folge bis Januar 2006 vollständig verbüßte. Dieser Verurteilung lag zugrunde, dass er bei einer Weihnachtsfeier im Dezember 2003 in den Räumen einer Firma ein damals siebenjähriges Mädchen kennenlernte, das er in einem unbeobachteten Augenblick vom Stuhl hoch hob und diesem bewusst unter dem Kleid, aber über der Strumpfhose, nicht nur unerhebliche Zeit an die Scheide griff. Anschließend küsste er das Mädchen auf den Mund und auf die Backe und gab ihm danach gegen dessen Willen noch einen Zungenkuss.
107. Am wurde er vom Amtsgericht München wegen Verstoßes gegen Weisungen während der Führungsaufsicht (u.a. keinen Kontakt zu Kindern oder Minderjährigen aufzunehmen) zu der Freiheitstrafe von sechs Monaten verurteilt, weil er im April 2008 auf dem Hof spielende Kinder ansprach und ein neunjähriges Mädchen in seine Wohnung lockte.
118. Schließlich wurde er am vom Amtsgericht München wegen eines weiteren Verstoßes gegen Weisungen während der Führungsaufsicht zu der Freiheitstrafe von zehn Monaten verurteilt, weil er im Frühjahr 2009 fünf spielende Kinder angesprochen und zwei Jungen im Alter von sieben und neun Jahren zu einem Treffen veranlasst hatte.
12Die beiden letztgenannten Freiheitsstrafen verbüßte der Angeklagte vollständig.
II.
131. Dem - rechtskräftigen - Schuldspruch liegen folgende Feststellungen zugrunde:
14Am , knapp ein Jahr nach seiner Entlassung aus der Strafhaft, hielt sich der Angeklagte zusammen mit seiner Ehefrau - wiederum mit seinem Schlauchboot - an einem Badesee bei München auf. Er fragte mehrere dort befindliche Kinder, ob sie mit ihm im Schlauchboot fahren wollten. Dies lehnten die Kinder ab.
15Etwa eine halbe Stunde später kam er mit seiner Ehefrau zurück und fragte die Kinder erneut, ob sie im Schlauchboot mitfahren wollten. Daraufhin stieg das vier Jahre und zwei Monate alte Mädchen G. - die Geschädigte - in das Boot. Der Angeklagte sagte, die Fahrt würde nur ein paar Minuten dauern. Die Mutter der Geschädigten gab ihre Erlaubnis, weil sie davon ausging, die Fahrt würde zusammen mit der Ehefrau des Angeklagten im Uferbereich stattfinden.
16Der Angeklagte fuhr allerdings allein mit dem Kind, welches nicht schwimmen konnte, auf den See hinaus; seine Ehefrau blieb am Ufer zurück. Als er gewahr wurde, dass er sich mit der Geschädigten alleine auf dem See in dem Schlauchboot befand und deshalb keine Einwirkungen Dritter möglich waren, beschloss er, sich durch die Geschädigte sexuell stimulieren zu lassen. Nachdem er die Mitte des Sees erreicht hatte, stellte er das Rudern ein und ließ das Boot treiben. Er holte seinen Penis aus der Badehose. Auf seine Aufforderung umfasste das Kind das erigierte Glied und nahm daran für kurze Zeit Auf- und Abwärtsbewegungen vor. Danach ruderte der Angeklagte weiter.
17Die Mutter der Geschädigten war misstrauisch geworden, weil das Schlauchboot längere Zeit weit draußen auf dem See war und ihr das Verhalten der Geschädigten im Boot komisch vorkam. Deshalb schwamm sie zu dem Boot. Als der Angeklagte die heranschwimmende Mutter bemerkte, ruderte er auf sie zu, ließ sie einsteigen und brachte sie zusammen mit dem Kind an das Ufer zurück. Zeugen verständigten die Polizei. Durch die Reaktion der Mutter bemerkte die Geschädigte, dass etwas nicht stimmte, und fing an, stark zu weinen. Negative Folgen der Tat für die Geschädigte sind - so das Landgericht - derzeit nicht festzustellen.
182. Das Landgericht hat den weitgehend geständigen Angeklagten wegen schweren sexuellen Missbrauchs von Kindern nach der Rückfallvorschrift des § 176a Abs. 1 StGB und wegen des Verstoßes gegen Weisungen während der Führungsaufsicht gemäß § 145a StGB verurteilt. Für den sexuellen Missbrauch hat es die Einsatzstrafe von vier Jahren und für den Weisungsverstoß eine Einzelfreiheitsstrafe von einem Jahr und drei Monaten verhängt; daraus hat es eine Gesamtfreiheitsstrafe von vier Jahren und neun Monaten gebildet. Auch der Strafausspruch ist nicht angegriffen.
193. Dem psychiatrischen Sachverständigen folgend, hat das Landgericht den Angeklagten für voll schuldfähig gehalten. Zwar bestünde bei ihm eine Störung der Sexualpräferenz in Form einer Pädophilie; diese sei jedoch nicht so schwer, dass sie einer schweren anderen seelischen Abartigkeit zugerechnet werden könne.
204. Die Sicherungsverwahrung nach § 66 Abs. 1 StGB - dessen formelle Voraussetzungen vorliegen - hat das Landgericht nicht angeordnet, weil die materiellen Voraussetzungen dieser Vorschrift in der Fassung des Gesetzes vom nach Maßgabe der vom gebotenen strikten Verhältnismäßigkeitsprüfung nicht erfüllt seien.
21a) Allerdings habe der Angeklagte einen - sogar eindeutigen - Hang, Straftaten, insbesondere solche gemäß § 176 Abs. 1 StGB, zu begehen. Das werde durch als ungünstig zu wertende Kriterien belegt: Er sei jahrzehntelang und häufig strafrechtlich in Erscheinung getreten. Bei seinen in regelmäßigen Abständen begangenen Sexualstraftaten zum Nachteil von Kindern sei er weitgehend identisch vorgegangen. Die Opferwahl sei zufällig und es habe sich um ihm fremde Kinder gehandelt. Er sei mehrfacher Bewährungsversager. Auflagen und Weisungen im Rahmen der Bewährung und der Führungsaufsicht habe er nicht eingehalten. Die Sexualstraftaten habe er während psychotherapeutischer Behandlung begangen. Auch habe er eine ungünstige Persönlichkeitsstruktur. Nur wenige günstige Faktoren könnten an dieser Bewertung nichts ändern.
22b) Mit dem Sachverständigen gelangt das Landgericht auch zu einer ungünstigen Gefahrprognose. Infolge seines Hanges seien vom Angeklagten mit hoher Wahrscheinlichkeit auch künftig Delikte wie die Anlasstat zu erwarten. Sein Lebensalter und die Verbüßung der - hohen - Haftstrafe könnten diese negative Prognose nicht entscheidend beeinflussen. Eine Änderung seiner pädosexuellen Ausrichtung sei nicht zu erwarten. Die Erfolgschancen für eine weitere Therapie seien gering; der Angeklagte habe sich auch durch mehrjährige Therapien und lange Inhaftierungen nicht von seinen Taten abhalten lassen.
23Im Anschluss an den Sachverständigen nimmt das Landgericht zwar auch die Gefahr der Begehung schwererer Taten an, schätzt diese aber als deutlich geringer ein. So sei nicht mit hoher Wahrscheinlichkeit zu erwarten, dass der Angeklagte solche Sexualstraftaten begehen werde, die mit einem Eindringen in den Körper oder mit der Anwendung von Gewalt verbunden seien.
24c) Die aufgrund der Gefahrprognose derzeit und auch noch nach der Haftentlassung mit hoher Wahrscheinlichkeit - der Anlasstat vergleichbar - zu erwartenden Sexualstraftaten seien aber noch keine ausreichend schweren Sexualdelikte im Sinne der Weitergeltungsanordnung des Bundesverfassungsgerichts. Die Wahrscheinlichkeit der Begehung schwerer Sexualstraftaten sei für die Anordnung der Maßregel der Sicherungsverwahrung nicht ausreichend hoch.
25Unter Bezugnahme auf das , StV 2012, 273) trifft das Landgericht die Wertung, der sexuelle Missbrauch von Kindern nach § 176 Abs. 1 StGB sei - unter Berücksichtigung der Strafdrohung - kein ausreichend schweres Sexualdelikt, wenn die Missbrauchshandlungen, wie hier, „in ihrer konkreten Gestalt ein eher geringfügiges Maß nicht überschritten“ hätten.
26Die erhöhte Strafdrohung für Wiederholungstäter in § 176a Abs. 1 StGB könne in diesem Zusammenhang keine Rolle spielen, da die Erheblichkeit von Straftaten im Sinne des § 66 Abs. 1 Satz 1 Nr. 4 StGB vom Gesetzgeber über die Folgen der Tat für das Opfer definiert und nicht an ein sozialethisches Unwerturteil wie bei der Strafzumessung geknüpft werde.
III.
27Die Revision hat Erfolg. Der Gefahrprognose des Landgerichts, es seien keine „schweren Sexualstraftaten“ i.S.d. Weitergeltungsanordnung zu erwarten, liegen im Rahmen der nach § 66 Abs. 1 Satz 1 Nr. 4 StGB gebotenen Gesamtwürdigung Wertungsfehler und Darlegungsmängel zugrunde.
281. Das Landgericht hat zwar mit sorgfältiger Begründung einen Hang des Angeklagten zu Sexualstraftaten gegenüber Kindern bejaht; dagegen ist revisionsrechtlich nichts zu erinnern.
292. Die Gefahrprognose begegnet allerdings durchgreifenden rechtlichen Bedenken, soweit es Art und Schwere der zu erwartenden Sexualstraftaten betrifft.
30Das Landgericht hat bei den mit hoher Wahrscheinlichkeit zu erwartenden Straftaten allein Taten wie die Anlasstat prognostiziert. Damit hat es ersichtlich auf den sexuellen Missbrauch von Kindern i.S.d. § 176 Abs. 1 StGB im Wesentlichen durch Manipulationen am Penis des Angeklagten abgestellt. Der Ausschluss der erforderlichen Wahrscheinlichkeit für schwerere Sexualstraftaten erweist sich jedoch als rechtsfehlerhaft.
31Angesichts der auch insoweit einschlägigen Vordelinquenz des Angeklagten erschließt sich nicht, wieso zukünftig Verbrechen nach § 176a Abs. 2 Nr. 1 StGB nicht mit der erforderlichen Wahrscheinlichkeit zu erwarten sein sollten. Das Landgericht teilt hierzu die Auffassung des Sachverständigen mit, dass eine hohe Wahrscheinlichkeit für die Begehung solcher Delikte nicht bestehe, die konkrete Ausführung der Taten aber von der Situation abhänge. Jedenfalls habe die Aggressivität des Angeklagten im Laufe der Zeit abgenommen. Dieser Einschätzung schließt sich das Landgericht an. Es fügt hinzu, dass die psychologische Testung kein erhöhtes Aggressionspotential des Angeklagten ergeben habe und sein Verhalten nach der Anlasstat nicht dafür spreche, dass der Angeklagte zu unüberlegten Aggressionsdurchbrüchen neige. Angesichts des Zeitablaufs könne den Vorverurteilungen nur noch sehr eingeschränkte Bedeutung zukommen.
32Diese Ausführungen vermögen zwar eine Verminderung der Wahrscheinlichkeit für Aggressionsdelikte zu belegen, nicht jedoch für solche Delikte, die ein aggressives oder gewaltsames Vorgehen nicht erfordern. Hierzu zählen vor allem Verbrechen nach § 176a Abs. 2 Nr. 1 StGB, z.B. durch Einführen der Finger, bei denen es sich um schwere Sexualstraftaten im Sinne der Maßgabe des Bundesverfassungsgerichts handelt (, NStZ-RR 2012, 272 (Ls.); Beschlüsse vom - 2 StR 328/11; vom - 3 StR 221/11; vom - 3 StR 208/11; auf Umstände des Einzelfalls abstellend, , NStZ-RR 2012, 9). An dieser Einordnung ändert sich nichts, wenn dabei aggressives bzw. gewaltsames Verhalten nicht zu erwarten steht (, NStZ-RR 2010, 239; zum Aspekt der Gewalt, vgl. aber auch Urteil vom - 2 StR 346/11), da es häufig für Eingriffe in die sexuelle Selbstbestimmung von kindlichen Opfern aufgrund deren unzureichender Verstandes- und Widerstandskräfte des Einsatzes von Gewalt nicht bedarf (; Urteil vom - 1 StR 275/12). Dementsprechend spielte Gewalt oder Aggression bei der Vordelinquenz des Angeklagten keine bedeutende Rolle, ohne dass dies der Annahme eines Hangs entgegengestanden hätte. Insoweit hätte näherer Erörterung bedurft, wieso dem Fehlen aggressiver bzw. gewaltsamer Neigungen nunmehr für die Wiederholungsgefahr im Hinblick auf mit der Vordelinquenz vergleichbarer Taten Relevanz zukommen sollte.
33Nähere Darlegungen zur Begründung der abweichend vom Sachverständigen nicht nur als geringer, sondern als deutlich geringer eingeschätzten Wahrscheinlichkeit der Begehung von Taten, die mit einem Eindringen in den Körper verbunden sind, fehlen. Allein der Hinweis auf den zeitlichen Abstand zu den einschlägigen Vorverurteilungen genügt im Hinblick auf die Berücksichtigungsfähigkeit gemäß § 66 Abs. 4 Satz 3 zweiter Halbsatz StGB den Anforderungen an die Gefahrprognose nicht. Dies gilt zumal vor dem Hintergrund der vom Sachverständigen hervorgehobenen Abhängigkeit der Tatausführung von der Tatsituation. In diesem Zusammenhang hätte der Erörterung bedurft, ob der Angeklagte in einer anderen als der konkreten Anlasstatsituation - besuchter Badesee, heranschwimmende Mutter - nach wie vor zu noch intensiveren Einwirkungen neigt.
34Der Senat kann daher nicht ausschließen, dass eine umfassendere und wertungsfehlerfreie Prognose dazu geführt hätte, der Angeklagte werde mit der erforderlichen Wahrscheinlichkeit auch schwerere als die im Absatz 1 des § 176 StGB bezeichneten Sexualstraftaten zum Nachteil von Kindern begehen. Schon deshalb muss die Nichtanordnung der Sicherungsverwahrung aufgehoben werden.
353. Darüber hinaus bemerkt der Senat, dass er der Wertung des Landgerichts nicht beitreten könnte, die - nach dessen Prognose - zu erwartenden Sexualstraftaten i.S.d. § 176 Abs. 1 StGB seien auch bei Beachtung des verfassungsrechtlichen Maßstabs keine „schweren Sexualstraftaten“.
36a) Zwar geht das Landgericht dabei im Ansatz von einem zutreffenden verfassungsrechtlichen Maßstab aus. Nach dem (BVerfGE 128, 326) ist § 66 StGB verfassungswidrig. Die Vorschrift gilt vorläufig bis zur Neuregelung durch den Gesetzgeber, längstens bis zum weiter. Das Gesetz zur bundesrechtlichen Umsetzung des Abstandsgebotes im Recht der Sicherungsverwahrung vom (BGBl. I 2012, 2425) tritt erst zum in Kraft. Während der Dauer der Weitergeltung des daher noch verfassungswidrigen § 66 StGB muss der Tatsache Rechnung getragen werden, dass es sich bei der Sicherungsverwahrung in ihrer noch bestehenden Ausgestaltung um einen verfassungswidrigen Eingriff in das Freiheitsrecht handelt. Der hohe Wert dieses Grundrechts beschränkt das übergangsweise zulässige Eingriffsspektrum. Danach dürfen Eingriffe nur soweit reichen, wie sie unerlässlich sind, um die Ordnung des betroffenen Lebensbereichs aufrechtzuerhalten. Die Sicherungsverwahrung darf nur nach Maßgabe einer besonderen Verhältnismäßigkeitsprüfung angewandt werden. Das gilt insbesondere im Hinblick auf die Anforderungen an die Gefahrprognose und die gefährdeten Rechtsgüter. In der Regel wird der Verhältnismäßigkeitsgrundsatz bei einer Anordnung der Sicherungsverwahrung nur gewahrt sein, wenn eine Gefahr schwerer Gewalt- oder Sexualstraftaten aus konkreten Umständen in der Person oder in dem Verhalten des Betroffenen abzuleiten ist. Insoweit gilt in der Übergangszeit ein strengerer Verhältnismäßigkeitsmaßstab als bisher (vgl. ; vom - 2 StR 184/11; vom - 2 StR 346/11).
37b) Nach Auffassung des Senats können auch Fälle des sexuellen Missbrauchs von Kindern nach § 176 Abs. 1 StGB im Grundsatz „schwere Sexualstraftaten“ im Sinne der Weitergeltungsanordnung des Bundesverfassungsgerichts sein. Freilich kommt es dabei auf den konkreten Einzelfall an (vgl. dazu , StV 2012, 273: Rückfalltaten, die in ihrer konkreten Gestalt ein eher geringfügiges Maß nicht überschritten haben).
38aa) Bei der Beantwortung der Frage, ob ein sexueller Missbrauch von Kindern i.S.d. § 176 Abs. 1 StGB als schwere Sexualstraftat bewertet werden kann, sind auch europarechtliche Vorgaben mit in den Blick zu nehmen (zur unionsrechtlichen Pflicht zur richtlinienkonformen Auslegung: ). Für die Bewertung der Schwere des sexuellen Missbrauchs von Kindern kommt deshalb auch der Richtlinie 2011/93/EU des Europäischen Parlaments und des Rates vom zur Bekämpfung des sexuellen Missbrauchs und der sexuellen Ausbeutung von Kindern sowie der Kinderpornografie sowie zur Ersetzung des Rahmenbeschlusses 2004/68/JI des Rates (ABl. EU vom Nr. L 335 S. 1 i.V.m. ABl. EU vom Nr. L 18 S. 7) vom Bedeutung zu. In deren Erwägungsgründen wird der sexuelle Missbrauch von Kindern als „schwerer“ Verstoß gegen die Grundrechte beurteilt.
39Erst recht gilt das für Wiederholungstäter. Die Richtlinie betont mehrfach das Ziel, Wiederholungstaten zu verhindern. Nach deren Artikel 9 müssen die Mitgliedsstaaten sicherstellen, dass als „erschwerender Umstand“ gilt, wenn der Straftäter zuvor wegen ähnlicher Straftaten verurteilt wurde. In den Artikeln 22 ff. wird den Mitgliedstaaten aufgegeben, das Risiko einer Wiederholung von Sexualstraftaten - auch durch präventive Maßnahmen - zu verhindern. Schon deshalb vermag das Argument des Landgerichts nicht zu überzeugen, die erhöhte Strafandrohung des § 176a Abs. 1 StGB für Wiederholungstäter dürfe bei der Bewertung der Schwere der Sexualstraftat keine Rolle spielen.
40bb) Gegen dieses Argument spricht auch die Wertung des deutschen Gesetzgebers. Während der Entwurf eines Gesetzes zur Änderung der Vorschriften über die Straftaten gegen die sexuelle Selbstbestimmung und zur Änderung anderer Vorschriften vom (BT-Drucks. 15/350) noch vorsah, den Verbrechenstatbestand des „Rückfalls“ nach § 176a Abs. 1 Nr. 4 StGB nur noch zum Regelbeispiel für einen besonders schweren Fall eines Vergehens nach § 176 Abs. 3 StGB herabzustufen, hat der Gesetzgeber - der Empfehlung des Rechtsausschusses des Deutschen Bundestages vom (BT-Drucks. 15/1311) folgend - die Einstufung des Rückfalls als Verbrechen in § 176a mit der Begründung beibehalten, die Zurückstufung werde der „Schwere und dem Unrechtsgehalt einer Rückfalltat nicht gerecht“. Mit der Begründung zur Beibehaltung der Rückfalltat als Verbrechen hat er daher auch eine - gesetzgeberische - Wertung zur Tatschwere getroffen.
41c) Darüber hinaus hätte der Senat auch Bedenken gegen die Einstufung der Anlasstat als nicht besonders gravierend, weil sie „ein eher geringfügiges Maß nicht überschritten“ habe, so dass die darauf aufbauende Gefahrprognose für gleichartige Taten auch deshalb nicht tragfähig erscheint.
42Zwar erreichte die eigentliche sexuelle Handlung (Handverkehr) nicht die Intensität der Tathandlungen des § 176a Abs. 2 StGB. Allein darauf abzustellen, würde indes die Tatschwere der Anlasstat nicht zutreffend erfassen. Dass ihr erhebliches Gewicht zukommt, hat das Landgericht ersichtlich selbst angenommen, wie die dafür verhängte Freiheitsstrafe von immerhin vier Jahren zeigt.
43Diese Strafe trägt dem Tatbild der Anlasstat durchaus Rechnung. Der Angeklagte hat - wie die Vorverurteilungen mit vergleichbarem modus operandi zeigen - eine Situation bewusst und hier zudem hartnäckig herbeigeführt, um besonders junge Mädchen - hier ein vier Jahre altes Kind - missbrauchen zu können. Er hat damit gezielt und zudem durch Täuschung schutzbereiter Dritter eine Lage geschaffen, bei welcher der schutzbereite Dritte nicht mehr eingreifen konnte. Das ist eine Lage, in der das Mädchen seiner Einwirkung schutzlos ausgeliefert war; mögen auch die weiteren Voraussetzungen der Nötigungssituation des § 177 Abs. 1 Nr. 3 StGB noch nicht erfüllt sein. Schon insoweit und auch mit Blick auf die Vorbelastungen des Angeklagten unterscheidet sich der Fall von dem Sachverhalt, die dem (StV 2012, 273) zugrunde lag. Auch die Abschwächung der Schwere des sexuellen Missbrauchs von Kindern mit dem Argument der fehlenden Gewaltanwendung kann dem Täter bei der Prüfung des § 66 StGB nicht zu Gute kommen (; Urteil vom - 1 StR 275/12; Urteil vom - 1 StR 201/07).
44Da die Nichtanordnung der Sicherungsverwahrung schon deshalb der Aufhebung unterliegt, weil die Gefahrprognose unzureichend ist, braucht der Senat nicht zu entscheiden, ob zu erwartende Sexualstraftaten vergleichbar dem Tatbild der Anlasstat schon „schwere Sexualstraftaten“ sind, mit der Folge, dass - bei Vorliegen der übrigen Voraussetzungen - nach § 66 Abs. 1 StGB die Sicherungsverwahrung zwingend anzuordnen wäre.
Diese Entscheidung steht in Bezug zu
Fundstelle(n):
wistra 2013 S. 3 Nr. 4
RAAAE-35574