BGH Beschluss v. - XII ZB 169/12

Amtswegige Wiedereinsetzung in die versäumte Wiedereinsetzungsfrist: Fehlendes Anwaltsverschulden bei Fristberechnung für eine Berufungsbegründung nach bewilligter Prozesskostenhilfe in Ansehung unterschiedlicher höchstrichterlicher Rechtsprechung

Leitsatz

1. Folgt der Rechtsmittelführer bei der Bestimmung der Frist zur Begründung der Berufung nach bewilligter Prozesskostenhilfe (für eine beabsichtigte Berufung) der Rechtsprechung des Bundesgerichtshofs (Beginn der einmonatigen Frist zur Begründung mit Bekanntgabe des Wiedereinsetzungsbeschlusses), weicht das Berufungsgericht hiervon aber unter Bezugnahme auf die Auffassung eines anderen Zivilsenats des Bundesgerichtshofs ab (Fristbeginn bereits mit Bekanntgabe des Prozesskostenhilfe bewilligenden Beschlusses), fehlt es regelmäßig an einem Verschulden des Prozessbevollmächtigten.

2. Das Rechtsmittelgericht hat dem Rechtsmittelführer in einem solchen Fall bei Vorliegen der übrigen Voraussetzungen auch von Amts wegen Wiedereinsetzung in die Wiedereinsetzungsfrist zur Begründung der Berufung zu gewähren.

Gesetze: § 85 Abs 2 ZPO, § 234 Abs 1 S 2 ZPO, § 234 Abs 2 ZPO, § 520 Abs 2 S 1 ZPO

Instanzenzug: Hanseatisches Az: 12 UF 257/10vorgehend AG Hamburg-Altona Az: 353 F 203/09

Gründe

I.

1Die minderjährige Klägerin nimmt den Beklagten, ihren Vater, mit ihrem am beim Amtsgericht eingereichten Antrag auf Unterhalt in Anspruch.

2Das der Klage teilweise stattgebende Urteil ist dem Beklagten am zugestellt worden. Am hat der Beklagte Prozesskostenhilfe für eine von ihm beabsichtigte Berufung beantragt, die ihm das Beschwerdegericht antragsgemäß unter Beiordnung seines Prozessbevollmächtigten bewilligt hat. Dieser Beschluss ist Letzterem am zugestellt worden. Nachdem er am darauf hingewiesen worden war, dass bislang kein Wiedereinsetzungsgesuch eingegangen sei, hat der Prozessbevollmächtigte des Beklagten am hinsichtlich des versäumten Wiedereinsetzungsantrags Wiedereinsetzung in den vorigen Stand beantragt und zugleich gegen das erstinstanzliche Urteil Berufung eingelegt, wegen der versäumten Berufungsfrist Wiedereinsetzung in den vorigen Stand beantragt und ferner die Berufung begründet.

3Das Beschwerdegericht hat die Berufung unter Ablehnung der Wiedereinsetzung bezüglich der versäumten Berufungsbegründungsfrist verworfen. Hiergegen wendet sich der Beklagte mit seiner Rechtsbeschwerde.

II.

4Die Rechtsbeschwerde ist zulässig und begründet.

5Gemäß Art. 111 Abs. 1 FGG-RG richtet sich das Verfahren nach den bis zum maßgeblichen Bestimmungen, weil es vor dem eingeleitet worden ist (Senatsurteil BGHZ 184, 13 = FamRZ 2010, 357 Rn. 7).

61. Die Rechtsbeschwerde ist gemäß § 522 Abs. 1 Satz 4, 238 Abs. 2 Satz 1, 574 Abs. 1 Satz 1 Nr. 1 ZPO statthaft. Sie ist nach § 574 Abs. 2 Nr. 2 ZPO auch zulässig, weil die Sicherung einer einheitlichen Rechtsprechung eine Entscheidung des Rechtsbeschwerdegerichts erfordert. Das Beschwerdegericht hat durch seine Entscheidung das Verfahrensgrundrecht des Antragstellers auf Gewährung wirkungsvollen Rechtsschutzes (Art. 2 Abs. 1 GG i.V.m. dem Rechtsstaatsprinzip) verletzt, welches es den Gerichten verbietet, den Parteien den Zugang zu einer in der Verfahrensordnung eingeräumten Instanz in unzumutbarer, aus Sachgründen nicht zu rechtfertigender Weise zu erschweren (Senatsbeschluss vom - XII ZB 189/07 - FamRZ 2008, 1338 Rn. 8 mwN).

72. Die Rechtsbeschwerde ist auch begründet.

8a) Das Beschwerdegericht hat seine Entscheidung wie folgt begründet:

9Es könne dahingestellt bleiben, ob dem Beklagten hinsichtlich der versäumten Wiedereinsetzungsfrist für die Einlegung der Berufung Wiedereinsetzung in den vorigen Stand zu bewilligen sei. Entscheidend sei, dass jedenfalls hinsichtlich der versäumten Frist für die Begründung der Berufung die Voraussetzungen für eine Wiedereinsetzung nicht vorlägen. Dem Beklagten sei durch Beschluss vom antragsgemäß Prozesskostenhilfe für die beabsichtigte Berufung bewilligt und sein Prozessbevollmächtigter beigeordnet worden. Damit sei das bestehende Hindernis behoben gewesen; die Berufung hätte innerhalb der einmonatigen Frist gemäß § 234 Abs. 1 Satz 2 ZPO begründet werden können und müssen. Da die Zustellung des Prozesskostenhilfebeschlusses an den Prozessbevollmächtigten des Beklagten am erfolgt sei, hätte die Berufungsbegründung spätestens am Montag, dem , vorliegen müssen. Sie sei jedoch erst am und damit verspätet eingegangen.

10Der Auffassung, die Rechte der mittellosen Partei würden mit der dargestellten, am Wortlaut der Wiedereinsetzungsvorschriften orientierten Gesetzesauslegung unangemessen beschränkt, weil für die Anfertigung der Berufungsbegründung nur ein Monat Zeit verbleibe, werde nicht gefolgt. Der XII. Zivilsenat des Bundesgerichtshofs habe ausführlich und überzeugend dargelegt, dass die angenommene Benachteiligung der mittellosen Partei nicht existiere. Insbesondere sei der Partei, die erfolgreich um Prozesskostenhilfe nachgesucht habe, das anzufechtende Urteil schon über einen längeren Zeitraum bekannt, wenn ihr die Bewilligungsentscheidung des Berufungsgerichts zugehe. Darüber hinaus sei durch die Bewilligungsentscheidung sogar bereits die Erfolgsaussicht des Rechtsmittels bescheinigt. Unter diesen Umständen bestehe kein hinreichender Grund, den Lauf der vom Gesetzgeber vorgesehenen einmonatigen Frist für die Begründung der Berufung entgegen dem Wortlaut von § 234 Abs. 2 ZPO nicht an die tatsächliche Behebung des Hindernisses - nämlich den Zugang der Prozesskostenhilfebewilligung - anzuknüpfen, sondern als Behebung des Hindernisses erst die Entscheidung über das Wiedereinsetzungsgesuch hinsichtlich der versäumten Frist zur Einlegung des Rechtsmittels zu betrachten. Dem Gesetzgeber sei bei der Neufassung des § 234 Abs. 1 Satz 2 ZPO die Problematik bekannt gewesen. Ausweislich der Begründung des Gesetzesentwurfs habe die Gesetzesänderung gerade dazu gedient, die Anforderungen der Rechtsprechung umzusetzen, indem einem Rechtsmittelführer, dem Prozesskostenhilfe nach Ablauf der Rechtsmittelbegründungsfrist gewährt worden sei, ein Monat Zeit für die Begründung verbleibe.

11Bei Anwendung der erforderlichen Sorgfalt habe der Prozessbevollmächtigte des Beklagten damit rechnen müssen, dass die im ) dargelegte Rechtsauffassung Gefolgschaft finden würde und sein prozessuales Verhalten darauf einstellen müssen.

12b) Das hält rechtlicher Überprüfung im Ergebnis nicht stand. Dabei kann dahin stehen, ob für den Lauf der Wiedereinsetzungsfrist hinsichtlich der Begründung der Berufung die Bekanntgabe des Prozesskostenhilfe bewilligenden Beschlusses oder erst die Mitteilung der Entscheidung über das Wiedereinsetzungsgesuch hinsichtlich der versäumten Frist zur Einlegung des Rechtsmittels maßgeblich ist. In jedem Fall hätte das Berufungsgericht dem Beklagten Wiedereinsetzung gewähren müssen.

13aa) Nach der Entscheidung des XI. Zivilsenats des (BGHZ 173, 14 = FamRZ 2007, 1640) beginnt die Monatsfrist des § 234 Abs. 1 Satz 2 ZPO zur Nachholung der Berufungsbegründung erst mit der Mitteilung der Wiedereinsetzungsentscheidung.

14Zutreffend hat das Beschwerdegericht allerdings darauf hingewiesen, dass der Senat in seiner Entscheidung vom (XII ZB 184/05 - NJW-RR 2008, 1313 Rn. 10 ff., 14) - als obiter dictum - zum Ausdruck gebracht hat, dass die Wiedereinsetzungsfrist gemäß § 234 Abs. 1 Satz 2 ZPO seiner Auffassung nach bereits mit Bekanntgabe des Prozesskostenhilfebeschlusses zu laufen beginnt (ebenso für die Beschwerdebegründung in einer Familienstreitsache OLG Zweibrücken FamRZ 2012, 1238).

15bb) Unbeschadet der Frage, welcher der vorgenannten Auffassungen zu folgen ist, hätte das Berufungsgericht dem Beklagten jedenfalls Wiedereinsetzung in die Wiedereinsetzungsfrist zur Begründung der Berufung gewähren müssen.

16Unschädlich ist, dass der Beklagte eine solche Wiedereinsetzung nicht beantragt hat, sondern - aus seiner Sicht konsequent - den Standpunkt vertreten hat, die Monatsfrist des § 234 Abs. 1 Satz 2 ZPO habe mangels Wiedereinsetzung in die Rechtsmittelfrist noch nicht zu laufen begonnen.

17Bei dieser Sachlage hätte das Oberlandesgericht gemäß § 236 Abs. 2 Satz 2 Halbsatz 2 ZPO von Amts wegen eine Wiedereinsetzung in den vorigen Stand erwägen und, weil den Prozessbevollmächtigten des Beklagten entgegen der Auffassung des Berufungsgerichts auch kein Verschulden i.S.d. § 233 ZPO trifft, gewähren müssen (vgl. Senatsbeschluss vom - XII ZB 197/10 - FamRZ 2011, 100 Rn. 16).

18Allerdings kann eine irrige Auslegung des Verfahrensrechts als Entschuldigungsgrund nur dann in Betracht kommen, wenn der Prozessbevollmächtigte die volle, von einem Rechtsanwalt zu fordernde Sorgfalt aufgewendet hat, um zu einer richtigen Rechtsauffassung zu gelangen. Hierbei ist ein strenger Maßstab anzulegen, denn die Partei, die dem Anwalt die Prozessführung überträgt, vertraut zu Recht darauf, dass er dieser Aufgabe gewachsen ist. Wenn die Rechtslage zweifelhaft ist, muss der bevollmächtigte Anwalt den sicheren Weg wählen. Von einem Rechtsanwalt ist zu verlangen, dass er sich anhand einschlägiger Fachliteratur über den aktuellen Stand der Rechtsprechung informiert (Senatsbeschluss vom - XII ZB 197/10 - FamRZ 2011, 100 Rn. 19 mwN).

19Nach diesen Maßstäben war der Prozessbevollmächtigte des Beklagten allerdings nicht gehalten, vorsorglich die Zustellung des Prozesskostenhilfebeschlusses als Fristbeginn für die Einreichung der Berufungsbegründung zu notieren, denn er durfte sich auf die höchstrichterliche Rechtsprechung verlassen. Anders als im Fall der Senatsentscheidung, die zu dem hier im Streit stehenden Fristbeginn lediglich ein obiter dictum enthält (Senatsbeschluss vom - XII ZB 184/05 - NJW-RR 2008, 1313 Rn. 10 ff., 14), kam es in dem vom XI. Zivilsenat entschiedenen Fall auf die Streitfrage an (BGHZ 173, 14 = FamRZ 2007, 1640). Hinzu kommt, dass zwei weitere Senate die Auffassung des XI. Zivilsenats in obiter dicta übernommen haben (BGH Beschlüsse vom - II ZB 19/07 - NJW-RR 2008, 1306 Rn. 16; vom - II ZB 12/09 - MDR 2010, 947 Rn. 13 und BGHZ 176, 379 = NJW 2008, 3500 Rn. 6).

203. Gemäß § 577 Abs. 4 Satz 1 ZPO ist der angefochtene Beschluss aufzuheben und die Sache zur erneuten Behandlung und Entscheidung zurückzuverweisen. Der Senat kann in der Sache selbst nicht abschließend entscheiden, weil das Beschwerdegericht - aus seiner Sicht folgerichtig - keine Feststellung dazu getroffen hat, ob dem Beklagten Wiedereinsetzung in die Berufungsfrist zu gewähren ist.

Dose                         Weber-Monecke                                    Klinkhammer

            Schilling                                     Nedden-Boeger

Auf diese Entscheidung wird Bezug genommen in folgenden Gerichtsentscheidungen:



Fundstelle(n):
NJW 2013 S. 471 Nr. 7
CAAAE-27881