BFH Beschluss v. - X B 138/11

Rüge von Verfahrensmängeln; Festlegung der Reichweite der Rechtskraftwirkung des § 110 FGO

Gesetze: FGO § 110, FGO § 115 Abs. 2 Nr. 3, FGO § 126 Abs. 4, EStG § 10 Abs. 1 Nr. 6, EStG § 9

Instanzenzug:

Gründe

1 I. Der Kläger und Beschwerdeführer (Kläger), der u.a. Einkünfte aus Vermietung und Verpachtung aus mehreren Objekten erzielt, machte in seiner Einkommensteuererklärung für das Streitjahr 1999 einen Betrag von 7.035,28 DM „für Rechtsstreitigkeiten” als Steuerberatungskosten (Sonderausgaben nach § 10 Abs. 1 Nr. 6 des Einkommensteuergesetzes 1999EStG—) geltend, ohne Nachweise vorzulegen. Der Beklagte und Beschwerdegegner (das Finanzamt —FA—) berücksichtigte diesen Betrag nicht. In seinem Einspruchsschreiben vom , das außerdem zahlreiche weitere Punkte betraf, erläuterte der Kläger, die Rechtsstreitigkeiten hätten diverse vermietete Immobilien betroffen; die Aufwendungen seien bei den Einkünften aus Vermietung und Verpachtung anzusetzen. Nachweise fügte er weiterhin nicht bei. Getrennt hiervon machte er erstmals eine Zahlung von 3.000 DM geltend. Hierzu legte er Kopien von zwei Rechnungen der Rechtsanwälte und Steuerberater X vom 1. bzw. über insgesamt 3.000 DM sowie die Kopie eines am auf X ausgestellten Verrechnungsschecks über 3.000 DM vor. Das FA berücksichtigte die Aufwendungen weiterhin nicht und wies den Einspruch zurück.

2 In einem anschließenden ersten Klageverfahren begehrte der Kläger —neben zahlreichen anderen Punkten— nach den Feststellungen des Finanzgerichts (FG) zunächst den Abzug von Rechtsberatungs- und Gerichtskosten in Höhe von insgesamt 10.035 DM als „Betriebsausgaben” bei den Einkünften aus Vermietung und Verpachtung. In diesem Betrag waren die von X in Rechnung gestellten 3.000 DM enthalten. Das FA erwiderte mit Schreiben vom u.a. (Schreibfehler im Original enthalten): „Die Rechnung der Steuerberater <X> werden in einem geänderten Steuerbescheid als Sonderausgabe gem. § 10 (1) Nr. 6 EStG berücksichtigt.” Im weiteren Verlauf des Klageverfahrens änderte das FA den Einkommensteuerbescheid 1999 mehrfach, ohne jedoch die 3.000 DM als Sonderausgaben abzuziehen.

3 Mit einem —kurz vor der mündlichen Verhandlung eingereichten— Schreiben vom nahm der Kläger erneut zu zahlreichen Einzelpunkten Stellung. Unter der Überschrift „4. Gerichts- und Rechtsanwaltskosten” wies er zunächst auf die „Mitteilung des Beklagten” vom hin, wonach die von X in Rechnung gestellten 3.000 DM als Sonderausgaben berücksichtigt würden. Zusätzlich machte er für Steuerberatungskosten, finanzgerichtliche Verfahren und Rechtsstreitigkeiten im Zusammenhang mit den Mietobjekten zahlreiche Einzelbeträge geltend, die sich —ohne die von X in Rechnung gestellten 3.000 DM— auf insgesamt 14.188,25 DM beliefen.

4 Mit Urteil vom (im Folgenden als „Ersturteil” bezeichnet) wies das FG die Klage ab. Im Tatbestand hieß es u.a.:

„Gerichts- und Rechtsanwaltskosten

Hier werde an dem Vorbringen im Schriftsatz vom zu 4. uneingeschränkt festgehalten - also insgesamt ein Betrag in Höhe von 14.188,25 DM geltend gemacht.”

5 In den Entscheidungsgründen behandelte das FG diese Aufwendungen als nicht abzugsfähig. Der Kläger habe „nicht einmal ansatzweise angegeben, weshalb diese Aufwendungen betrieblich oder beruflich veranlasst sein sollten”. Die Rechnungen der X hat das FG nicht erwähnt; eine Prüfung unter dem Gesichtspunkt der Sonderausgaben hat es nicht vorgenommen. Diese Entscheidung wurde rechtskräftig.

6 Am stellte der Kläger den im vorliegenden Verfahren streitgegenständlichen Antrag auf Änderung des zuletzt ergangenen Einkommensteuerbescheids 1999 vom . Er war der Auffassung, das FA sei aufgrund einer im Schreiben vom enthaltenen Zusage nach den Grundsätzen von Treu und Glauben zu einer Berücksichtigung der 3.000 DM verpflichtet. Das FA lehnte die Änderung am —ohne Rechtsbehelfsbelehrung— mit der Begründung ab, das Verfahren sei rechtskräftig abgeschlossen. Am stellte der Kläger einen erneuten Änderungsantrag, den das FA am —wiederum ohne Rechtsbehelfsbelehrung— ablehnte. Der am eingelegte Einspruch blieb ohne Erfolg.

7 Das FG verwarf die Klage als unzulässig. Einer erneuten Befassung mit den geltend gemachten Aufwendungen stehe die Rechtskraft des Ersturteils entgegen. Den Entscheidungsgründen des Ersturteils sei zu entnehmen, dass das FG damals auch über die hinsichtlich der X geltend gemachten Aufwendungen entschieden habe. In dem im Tatbestand des Ersturteils erwähnten Betrag von 14.188,25 DM seien die 3.000 DM enthalten. Dies ergebe sich aus dem Schriftsatz des Klägers vom . Das Schreiben des FA vom sei als „bloße Ankündigung einer Änderung” zu werten, zu deren Umsetzung es dann im weiteren Prozessverlauf nicht gekommen sei.

8 Mit seiner Beschwerde begehrt der Kläger die Zulassung der Revision wegen grundsätzlicher Bedeutung und zur Rechtsfortbildung.

9 Das FA hält die Beschwerde für unzulässig.

10 II. Die Beschwerde ist zulässig und begründet.

11 1. Auch wenn die Beschwerdebegründung den Begriff des „Verfahrensmangels” nicht erwähnt, sondern ausdrücklich nur die materiell-rechtlichen Zulassungsgründe des § 115 Abs. 1 Nr. 1 und 2 der Finanzgerichtsordnung (FGO) bezeichnet, wird mit ihr der Sache nach in schlüssiger Weise ein Verfahrensmangel (§ 115 Abs. 2 Nr. 3 FGO) geltend gemacht.

12 Der Kläger rügt, dem FG sei „nicht aufgefallen”, dass im Ersturteil nur über Gerichts- und Rechtsanwaltskosten in Höhe von 14.188,25 DM entschieden worden sei. Da er im Schriftsatz vom insgesamt 17.188,25 DM geltend gemacht habe, sei über den von X in Rechnung gestellten Betrag (3.000 DM) seinerzeit nicht entschieden worden. Darin liegt die Rüge eines Verstoßes gegen den klaren Inhalt der Akten und damit gegen die in § 96 Abs. 1 Satz 1 FGO angeordnete Pflicht des FG, seine Überzeugung aus dem Gesamtergebnis des Verfahrens zu bilden.

13 Die Zulässigkeit einer Verfahrensrüge setzt voraus, dass die Tatsachen, die den Mangel ergeben, bezeichnet werden (, BFH/NV 2000, 1102; vgl. für die Revisionsbegründung auch § 120 Abs. 3 Nr. 2 Buchst. b FGO). Dies ist hier der Fall. Demgegenüber ist es nicht zwingend erforderlich, zusätzlich auch die angeblich verletzte Vorschrift des Verfahrensrechts ausdrücklich zu bezeichnen (vgl. Gräber/Ruban, Finanzgerichtsordnung, 7. Aufl., § 116 Rz 48).

14 2. Der vom Kläger der Sache nach geltend gemachte Verfahrensmangel ist tatsächlich gegeben.

15 a) Zum Gesamtergebnis des Verfahrens i.S. des § 96 Abs. 1 Satz 1 FGO gehört auch die Auswertung des Inhalts der dem Gericht vorliegenden Akten. Ein Verstoß gegen den klaren Inhalt der Akten und damit eine Verletzung des § 96 Abs. 1 Satz 1 FGO ist gegeben, wenn das FG seiner Entscheidung einen Sachverhalt zugrunde gelegt hat, der dem schriftlichen oder protokollierten Vorbringen der Beteiligten nicht entspricht, oder wenn es eine nach den Akten klar feststehende Tatsache unberücksichtigt gelassen hat und die angefochtene Entscheidung darauf beruht (Senatsbeschlüsse vom X B 159/09, BFH/NV 2011, 610, unter II.2., und vom X B 127/10, BFH/NV 2011, 632, unter 3., m.w.N.).

16 b) Das FG hatte in materiell-rechtlicher Hinsicht —auf der Grundlage der höchstrichterlichen Rechtsprechung zutreffend— die Auffassung vertreten, für die Festlegung der Reichweite der in § 110 Abs. 1 Satz 1 FGO angeordneten Rechtskraftwirkung sei zwischen dem „Streitgegenstand” und dem „Entscheidungsgegenstand” zu unterscheiden. Danach kommt es für die Bindungswirkung auf den vom Gericht seiner Entscheidung tatsächlich zugrunde gelegten Sachverhalt und auf die hierzu angestellten rechtlichen Erwägungen an (, BFH/NV 1990, 650, unter II.1., und vom VI R 63/02, BFH/NV 2007, 924, unter II.2.a, beide m.w.N.). Maßgebend ist, worüber das Gericht entschieden hat, nicht dagegen, worüber hätte entschieden werden sollen (, BFHE 192, 207, BStBl II 2001, 89, unter 2.c; Lange in Hübschmann/Hepp/Spitaler, § 110 FGO Rz 48, m.w.N.).

17 c) Im Rahmen seiner Anwendung dieser Rechtsgrundsätze auf den Streitfall hat das FG dann ausgeführt: „Ausweislich des Tatbestandes des <Ersturteils> hat das FG über die im Schriftsatz des Klägers vom unter Punkt 4 aufgeführten Rechtsanwalts- und Gerichtskosten in Höhe von insgesamt 14.188,25 DM entschieden. Darin sind, wie sich aus dem betreffenden Schriftsatz vom entnehmen lässt, auch die in diesem Verfahren geltend gemachten Aufwendungen an <X> enthalten.”

18 Jedenfalls Letzteres verstößt gegen den klaren Inhalt der Akten. Denn die auf Blatt 4 des Schriftsatzes vom genannten Einzelbeträge, die sich auf insgesamt 14.188,25 DM belaufen, beinhalten die —auf Blatt 3 unten des genannten Schriftsatzes zusätzlich angeführten— 3.000 DM gerade nicht.

19 Hätte das FG dies im Zweiturteil erkannt, wäre es zur Frage der eingetretenen Rechtskraft —da es von den Grundsätzen der BFH-Rechtsprechung hat ausgehen wollen— aller Voraussicht nach zu einem anderen Ergebnis gelangt. Damit „kann” —wie in § 115 Abs. 2 Nr. 3 FGO vorausgesetzt— das Zweiturteil auf dem Verfahrensmangel „beruhen”.

20 Im Übrigen kann das Ersturteil auch deshalb nicht über die —allein unter dem Gesichtspunkt der Sonderausgaben geltend gemachten— 3.000 DM aus den Rechnungen der X entschieden haben, weil in den Entscheidungsgründen zu den Gerichts- und Rechtsanwaltskosten ausgeführt wurde, diese Aufwendungen seien wegen fehlender Angaben zu ihrer betrieblichen oder beruflichen Veranlassung nicht abziehbar. Diese Begründung kann unter § 10 Abs. 1 Nr. 6 EStG fallende Aufwendungen aber von vornherein nicht erfassen, da Sonderausgaben niemals beruflich oder betrieblich veranlasst sind (vgl. den Einleitungssatz des § 10 Abs. 1 EStG).

21 d) Der Senat kann nicht mit der erforderlichen Gewissheit feststellen, dass sich die Entscheidung des FG aus anderen Gründen als richtig darstellt, und daher die Beschwerde nicht in analoger Anwendung des § 126 Abs. 4 FGO zurückweisen (vgl. hierzu , BFH/NV 2011, 663, unter II.2.).

22 Zwar spricht Vieles dafür, dass der —dem vorliegenden Verfahren zugrunde liegende— Antrag des Klägers vom auf Änderung der Einkommensteuerfestsetzung 1999 schon deshalb keinen Erfolg hätte haben können, weil dieses Begehren nicht unter eine der in der Abgabenordnung oder dem EStG für die Änderung von Steuerbescheiden vorgesehenen Korrekturvorschriften fiel oder weil Festsetzungsverjährung eingetreten war. Dem Senat ist eine eigene Beurteilung dieser Fragen indes nicht möglich, weil das FG zum Stand des Steuerfestsetzungsverfahrens keine Feststellungen getroffen hat.

23 3. Der Senat hält es für angezeigt, nach § 116 Abs. 6 FGO zu verfahren, das angefochtene Urteil aufzuheben und den Rechtsstreit zur anderweitigen Verhandlung und Entscheidung an das FG zurückzuverweisen.

24 a) Das FG wird dabei in erster Linie prüfen müssen, ob für den Änderungsantrag des Klägers eine Korrekturvorschrift zur Verfügung steht und ob der Antrag die Festsetzungsfrist gewahrt hat.

25 b) Nur für den Fall, dass dies zu bejahen sein sollte, weist der Senat —ohne Bindungswirkung— darauf hin, dass er keine Bedenken gegen die im angefochtenen Urteil vorgenommene materiell-rechtliche Beurteilung hat, wonach es sich bei der vom FA im Schreiben vom gewählten Formulierung nicht um eine verbindliche Zusage handelte. Es liegen weder die Voraussetzungen der §§ 204 ff. der Abgabenordnung vor noch ist zwischen den Beteiligten eine tatsächliche Verständigung zustande gekommen. Zwar kann sich eine Bindungswirkung ausnahmsweise auch aus den allgemeinen Grundsätzen von Treu und Glauben ergeben. Nach derzeitigem Sach- und Streitstand durfte das FG aber in vertretbarer Weise davon ausgehen, dass der Kläger die hierfür geltenden Voraussetzungen nicht dargelegt hat. Gegen einen Anwendungsfall der Grundsätze von Treu und Glauben spricht vor allem, dass auch der Kläger selbst sich während des weiterhin anhängigen Klageverfahrens trotz Ergehens mehrerer Änderungsbescheide offenbar erstmals dreieinhalb Jahre nach dem Zugang des Schreibens vom auf eine darin angeblich enthaltene Zusage des FA berufen hat, und auch in der anschließenden mündlichen Verhandlung vor dem FG nicht auf dem Ergehen eines Änderungsbescheids bestanden hat.

26 Das FG hätte daher ohne Bindung an eine Zusage des FA materiell-rechtlich zu prüfen, ob es sich bei den geltend gemachten 3.000 DM um Steuerberatungskosten i.S. des § 10 Abs. 1 Nr. 6 EStG handelt und ob diese im Streitjahr 1999 i.S. des § 11 Abs. 2 EStG abgeflossen sind. Dabei wäre es nicht gezwungen, bereits die vorgelegte Kopie eines angeblich im Jahr 1999 der X übersandten Verrechnungsschecks als hinreichenden Nachweis eines Abflusses anzusehen. Der Senat weist insoweit insbesondere darauf hin, dass eine der beiden angeblich mit diesem Scheck bezahlten Rechnungen der X erst vom datiert, der Scheck aber bereits das Datum vom trägt. Die volle Feststellungslast für den steuermindernden Abzug von Aufwendungen liegt beim Kläger.

Auf diese Entscheidung wird Bezug genommen in folgenden Gerichtsentscheidungen:


Fundstelle(n):
BFH/NV 2013 S. 63 Nr. 1
SAAAE-23447