BAG Urteil v. - 5 AZR 526/11

Betriebsübergang - Haftung für Vergütungsansprüche nach Insolvenzgeldzahlung - Berufen auf Versäumung der Ausschlussfrist als unzulässige Rechtsausübung

Gesetze: § 613a Abs 1 S 1 BGB, § 613a Abs 2 S 1 BGB, § 613a Abs 5 BGB, § 242 BGB

Instanzenzug: Az: 21 Ca 59/10 Urteilvorgehend Landesarbeitsgericht Hamburg Az: 4 Sa 62/10 Urteil

Tatbestand

1Die Parteien streiten über Vergütungsansprüche.

2Der Inhaber eines Pizza-Bringdienstes L blieb elf Arbeitnehmern für die Zeit vom 1. März bis zum die Vergütung schuldig. Die Arbeitnehmer beantragten bei der klagenden Bundesagentur für Arbeit am Insolvenzgeld. Am wurde über das Vermögen des L das Insolvenzverfahren eröffnet. Der Insolvenzverwalter erteilte der Klägerin am 31. August und Insolvenzgeldbescheinigungen, aus denen sich das nicht ausgezahlte Nettoentgelt ergab. Daraufhin zahlte die Klägerin für die Zeit vom 1. März bis zum an die elf Arbeitnehmer Insolvenzgeld in Höhe der Klageforderung. Die Beklagte führte den Betrieb des L vom 15. April bis zum weiter.

In den Arbeitsverträgen des L mit den elf Arbeitnehmern war ua. geregelt:

4Mit einem an die „H GmbH“ zu Händen der Beklagten als deren Geschäftsführerin gerichteten Schreiben vom forderte die Klägerin die Adressatin auf, die von ihr an die elf Arbeitnehmer erbrachten Leistungen zu erstatten. Der spätere Prozessbevollmächtigte der Beklagten lehnte dies namens der „H GmbH“ mit Schreiben vom unter Hinweis auf das Nichtvorliegen eines Betriebsübergangs und wegen Verfalls der Ansprüche ab.

5Mit der am beim Arbeitsgericht eingereichten und der Beklagten am zugestellten Klage hat die Klägerin die Vergütung aus übergegangenem Recht beansprucht.

Die Klägerin hat zuletzt beantragt,

7Die Beklagte hat Klageabweisung beantragt. Die Ansprüche seien verfallen.

Das Arbeitsgericht hat der Klage stattgegeben. Das Landesarbeitsgericht hat die Berufung der Beklagten zurückgewiesen. Mit der vom Senat zugelassenen Revision verfolgt die Beklagte ihr Klageabweisungsbegehren weiter.

Gründe

9I. Die Revision der Beklagten ist im Wesentlichen unbegründet. Das Landesarbeitsgericht hat die Berufung der Beklagten gegen das der Klage stattgebende Urteil im Wesentlichen zu Recht zurückgewiesen. Die Klägerin hat gegen die Beklagte Anspruch auf Zahlung von 10.373,95 Euro (§ 187 SGB III idF bis zum ; jetzt § 169 SGB III iVm. § 611 Abs. 1, § 613a Abs. 2 Satz 1 BGB). Allerdings haftet die Beklagte nur als Gesamtschuldnerin neben dem früheren Betriebsinhaber L und schuldet Prozesszinsen erst ab dem .

101. Die Vergütungsansprüche der elf Arbeitnehmer des L für die Zeit vom 1. März bis zum sind in unstreitiger Höhe entstanden.

112. Die Ansprüche der elf Arbeitnehmer sind auf die Klägerin übergegangen. Ansprüche auf Arbeitsentgelt, die einen Anspruch auf Insolvenzgeld begründen, gehen mit dem Antrag auf Insolvenzgeld auf die Bundesagentur für Arbeit über (§ 187 SGB III idF bis zum ; jetzt § 169 SGB III). Das Insolvenzgeld wird für rückständige Ansprüche auf Arbeitsentgelt gezahlt, die im Insolvenzgeldzeitraum - die letzten drei dem Insolvenzereignis vorausgehenden Monate des Arbeitsverhältnisses - entstanden sind. Der Übergang erfasst die Bruttoforderung ( - AP BGB § 611 Lohnanspruch Nr. 19 = EzA BGB § 611 Nettolohn, Lohnsteuer Nr. 10;  - SozR 3-4100 § 141m Nr. 3).

123. Die Beklagte haftet als Betriebsübernehmerin für die vor dem Betriebsübergang entstandenen Ansprüche. Die Beklagte hat den Betrieb des L, wie in der Revision nicht mehr streitig ist, iSv. § 613a Abs. 1 Satz 1 BGB am und damit bereits vor Eröffnung des Insolvenzverfahrens am übernommen. Ihre Haftung als Betriebserwerberin ist nicht beschränkt (vgl.  - AP InsO § 113 Nr. 10 = EzA BGB § 613a Nr. 211). Sie ist Gesamtschuldnerin neben dem früheren Arbeitgeber L, § 613a Abs. 2 BGB.

134. Die Ansprüche sind nicht verfallen.

14a) Nach den mit L vereinbarten Arbeitsverträgen waren alle Ansprüche aus dem Arbeitsverhältnis spätestens drei Monate nach Fälligkeit schriftlich geltend zu machen. Blieb die rechtzeitige Geltendmachung erfolglos, so musste der Anspruch innerhalb einer Frist von drei Monaten nach schriftlicher Ablehnung durch die Gegenpartei eingeklagt werden. Andernfalls waren sie verwirkt. Eine solche Regelung kann im Arbeitsvertrag, auch mittels Allgemeiner Geschäftsbedingung, wirksam vereinbart werden (vgl.  - BAGE 116, 66; - 5 AZR 518/08 - AP SGB X § 115 Nr. 15 = EzA BGB 2002 § 615 Nr. 30). Die Klägerin hat gegenüber der Beklagten weder die erste noch die zweite Stufe der Ausschlussfrist gewahrt. Es kann dahinstehen, ob die Klägerin mit dem an die „H GmbH“ gerichteten Schreiben, welches zu Händen der Beklagten gerichtet war, die Ansprüche überhaupt gegenüber dieser geltend gemacht hat, denn diese Geltendmachung erfolgte jedenfalls nicht binnen drei Monaten nach Fälligkeit. Die Klage ging zudem erst am beim Arbeitsgericht ein.

15b) Der Anspruchsübergang steht der Geltung der Ausschlussfrist nicht entgegen, denn Ansprüche gehen so über, wie sie bestehen. Auf einen gesetzlichen Forderungsübergang (§ 412 BGB) findet § 404 BGB entsprechende Anwendung. Das Erlöschen von Forderungen infolge des Ablaufs von Ausschlussfristen gehört zu den Einwendungen, die der Schuldner nach § 404 BGB auch dem neuen Gläubiger entgegenhalten kann (st. Rspr.,  - zu 1 der Gründe, AP TVG § 4 Ausschlussfristen Nr. 52 = EzA TVG § 4 Ausschlussfristen Nr. 15; - 5 AZR 518/08 - Rn. 32, AP SGB X § 115 Nr. 15 = EzA BGB 2002 § 615 Nr. 30 zu § 115 SGB X).

16c) Bei der Gesamtschuld bleiben die einzelnen Schuldverhältnisse grundsätzlich selbständig und entwickeln sich unterschiedlich. Nach § 425 Abs. 1 BGB wirken allein Erfüllung, Erlass und Gläubigerverzug für und gegen jeden Gesamtschuldner. Andere „Tatsachen“, die weder in den §§ 422 bis 424 BGB genannt sind noch bezüglich derer sich aus dem Schuldverhältnis „ein anderes“ ergibt, wirken damit nur für und gegen den Gesamtschuldner, in dessen Person sie eintreten. Dies gilt auch für die Geltendmachung zur Wahrung von Ausschlussfristen. Im Fall des Betriebsübergangs sind deshalb über § 425 BGB hinausgehend nur die Tatsachen zu Lasten des Erwerbers zu berücksichtigen, die vor dem Betriebsübergang eingetreten sind. Bei einer zweistufigen Ausschlussfrist kann es deshalb ausreichen, wenn die erste Stufe gegenüber dem Veräußerer und die zweite Stufe gegenüber dem Erwerber gewahrt wird (vgl.  - zu II 3 c der Gründe, AP BGB § 615 Nr. 49 = EzA BGB § 615 Nr. 68; vgl. auch - 5 AZR 518/08 - Rn. 36, AP SGB X § 115 Nr. 15 = EzA BGB 2002 § 615 Nr. 30). Im Übrigen führt der Betriebsübergang allein noch nicht zu einer Gesamtwirkung der die Ausschlussfrist wahrenden Rechtshandlungen oder Umstände.

17d) Doch kann sich der Betriebserwerber nicht auf den Ablauf einer Ausschlussfrist berufen, wenn weder der Betriebsveräußerer noch der Betriebserwerber der Unterrichtungspflicht nach § 613a Abs. 5 BGB nachgekommen und ein innerer Zusammenhang zwischen dieser Pflichtverletzung und der Fristversäumung gegeben ist. In diesem Fall einer unzulässigen Rechtsausübung iSv. § 242 BGB ist dem neuen Arbeitgeber die Berufung auf die Einwendung des Verfalls verwehrt.

18aa) Nach § 613a Abs. 5 Nr. 3 BGB hat der bisherige Arbeitgeber oder der neue Inhaber die von einem Betriebsübergang betroffenen Arbeitnehmer über die rechtlichen, wirtschaftlichen und sozialen Folgen des Übergangs für die Arbeitnehmer in Textform zu unterrichten. Zu den rechtlichen Folgen gehören insbesondere die sich unmittelbar aus dem Betriebsübergang als solchem ergebenden Rechtsfolgen, wie der Eintritt des Übernehmers in die Rechte und Pflichten aus dem bestehenden Arbeitsverhältnis und die Haftungssystematik des § 613a Abs. 2 BGB (BT-Drucks. 14/7760 S. 19; st. Rspr., vgl. nur  - AP BGB § 613a Nr. 407).

19bb) Die Unterrichtungspflicht ist Rechtspflicht. Ihre Nichterfüllung kann zu Schadensersatzansprüchen des Arbeitnehmers führen ( - Rn. 30 mwN). Zugleich stellt es eine unzulässige Rechtsausübung dar, wenn sich der Betriebserwerber auf Vorteile beruft, die ihm wegen der Verletzung der Unterrichtungspflicht entstanden sind. Steht der Erwerb der Rechtsposition in einem inneren Zusammenhang mit einem eigenen rechtsuntreuen Verhalten - sei es vertrags- oder gesetzeswidrig -, handelt rechtsmissbräuchlich, wer diese Rechtsposition geltend macht (vgl.  - NJW 2002, 1788; - V ZR 386/97 - WM 1999, 551; Palandt/Grüneberg BGB 71. Aufl. § 242 Rn. 43). Überdies ist es widersprüchlich, wenn der Betriebsübernehmer, der einen Betriebsübergang leugnet, dem Arbeitnehmer (bzw. dessen Rechtsnachfolger) vorhält, ihn nicht (früher) als Betriebserwerber in Anspruch genommen zu haben. Das Verbot widersprüchlichen Verhaltens als Ausprägung des Grundsatzes von Treu und Glauben bildet eine allen Rechten, Rechtslagen und Rechtsnormen immanente Inhaltsbegrenzung. Das Vertrauen des anderen am Rechtsverhältnis beteiligten Teils, dass eine bestimmte Rechtslage gegeben sei, ist vor allem dann schutzwürdig, wenn er von dem anderen Teil in diesem Glauben bestärkt worden ist und im Hinblick darauf Dispositionen getroffen hat. In einem solchen Fall ist die Ausnutzung der durch das widersprüchliche Verhalten geschaffenen Rechtslage wegen der Rechtsüberschreitung unzulässig ( - Rn. 53 mwN, EzA AGG § 3 Nr. 7).

20Die Anwendung von § 242 BGB ist auch vom Achten Senat des - 8 AZR 236/02 - zu II 2 a der Gründe, AP BGB § 613a Nr. 244 = EzA TVG § 4 Ausschlussfristen Nr. 162) in Erwägung gezogen worden, obwohl im Zeitpunkt dieser Entscheidung die Unterrichtungspflicht gemäß § 613 Abs. 5 BGB noch nicht bestand.

21cc) Hiernach ist es der Beklagten verwehrt, sich auf die Versäumung der Ausschlussfrist zu berufen. Die Beklagte hat in den Vorinstanzen jeden Betriebsübergang nachdrücklich in Abrede gestellt. Damit hat sie ihre aus § 613a Abs. 5 BGB folgende gesetzliche Verpflichtung missachtet. Der besondere, rechtlich relevante Zusammenhang zwischen der Verletzung der Unterrichtungspflicht und der Versäumung der Ausschlussfrist ist gegeben. Hätte die Beklagte noch vor dem Betriebsübergang oder zumindest in zeitlichem Zusammenhang mit dem Betriebsübergang die elf Arbeitnehmer des L über den Eintritt ihrer Gesamtschuld unterrichtet, wäre sogar die Beantragung von Insolvenzgeld und die Leistung durch die Klägerin in Frage gestellt worden. In jedem Fall hätte eine Unterrichtung den elf Arbeitnehmern und als deren Rechtsnachfolgerin der Klägerin die Möglichkeit eröffnet, gegenüber der Beklagten die laufende Ausschlussfrist zu wahren. Dementsprechend hat die Beklagte auch nicht behauptet, die Klägerin hätte die Ausschlussfrist auch dann versäumt, wenn sie ihrer Unterrichtungspflicht nachgekommen wäre (vgl. zur Beweislastumkehr  - Rn. 28, NJW 2012, 2427). Deshalb kann sich die Beklagte nicht auf den gerade aus dem Betriebsübergang folgenden Eintritt in die mit dem Betriebsveräußerer vereinbarten Vertragsbedingungen berufen.

225. Prozesszinsen kann die Klägerin gemäß §§ 291, 288 BGB erst ab dem der Zustellung folgenden Tag verlangen (vgl.  - BAGE 96, 228).

II. Die Kostenentscheidung beruht auf § 97 Abs. 1 ZPO.

Auf diese Entscheidung wird Bezug genommen in folgenden Gerichtsentscheidungen:

Fundstelle(n):
BB 2012 S. 3072 Nr. 49
DB 2013 S. 468 Nr. 9
ZIP 2013 S. 86 Nr. 2
MAAAE-23329