BAG Urteil v. - 4 AZR 584/10

Eingruppierung einer Kassiererin - Begriff des Lebensmittel-Supermarkts - Gehaltstarifvertrag im Einzelhandel RP

Gesetze: § 1 Abs 1 TVG

Instanzenzug: Az: 1 Ca 641/09 Urteilvorgehend Landesarbeitsgericht Rheinland-Pfalz Az: 9 Sa 729/09 Urteil

Tatbestand

1Die Parteien streiten über Vergütungsansprüche der Klägerin und in diesem Zusammenhang über deren zutreffende Eingruppierung.

2Die Klägerin ist als Kassiererin bei der Beklagten tätig und wird nach der Gehaltsgruppe II des § 3 des zwischen dem Landesverband Einzelhandel Rheinland-Pfalz e. V. und der Vereinten Dienstleistungsgewerkschaft ver.di - Landesverband Rheinland-Pfalz - geschlossenen Gehaltstarifvertrages (vom , GTV) vergütet. Sie ist in einem Betrieb in K beschäftigt, in dem etwa 1.600 Artikel auf einer Verkaufsfläche von ca. 593 qm angeboten werden.

3Mit Schreiben vom verlangte die Klägerin den Unterschiedsbetrag zwischen dem geleisteten Gehalt und der von ihr begehrten Gehaltsgruppe III GTV sowie die sich auf dieser Grundlage ergebende Differenz für die Sonderzuwendung gemäß dem Tarifvertrag über Sonderleistungen für die Beschäftigten des Einzelhandels Rheinland-Pfalz für das Kalenderjahr 2008. Mit ihrer Klage verfolgt sie ihre Ansprüche weiter. Sie ist der Auffassung, ihr stehe die höhere Vergütung einer Kassiererin in einer Kassenzone eines Lebensmittel-Supermarkts iSd. Fußnote 2 zur Gehaltsgruppe III GTV zu. Auf einer Verkaufsfläche von mehr als 400 qm würden Nahrungs- und Genussmittel einschließlich Frischwaren und ergänzend Waren des täglichen und des kurzfristigen Bedarfs anderer Branchen vorwiegend in Selbstbedienung angeboten. Die Anzahl der angebotenen Artikel sei für das Tarifmerkmal ohne Bedeutung.

Die Klägerin hat zuletzt beantragt,

5Die Beklagte hat beantragt, die Klage abzuweisen. Sie ist der Ansicht, der Betrieb sei kein Lebensmittel-Supermarkt im Tarifsinne, sondern ein davon abzugrenzender Lebensmitteldiscounter. Eine höhere tarifliche Bewertung für die Tätigkeit als Kassiererin rechtfertige sich aufgrund des in einem Lebensmittel-Supermarkt erheblichen umfangreicheren Sortiments, das bei einer Verkaufsfläche von 400 bis 600 qm etwa 4.000 bis 5.000 Artikel umfassen müsse.

Das Arbeitsgericht hat der Klage stattgegeben. Auf die Berufung der Beklagten hat das Landesarbeitsgericht die Klage abgewiesen. Mit der vom Bundesarbeitsgericht zugelassenen Revision verfolgt die Klägerin ihr Begehren weiter. Die Beklagte beantragt, die Revision zurückzuweisen.

Gründe

7Die zulässige Revision ist unbegründet. Das Landesarbeitsgericht hat auf die Berufung der Beklagten die Klage zu Recht abgewiesen. Die Klägerin ist nicht in einem Lebensmittel-Supermarkt iSd. Tätigkeitsbeispiels der Gehaltsgruppe III GTV beschäftigt.

I. Auf das Arbeitsverhältnis der Parteien findet nach ihrem übereinstimmenden Vortrag der GTV Anwendung, in dem es ua. heißt:

9II. Die tatsächlich ausgeübte Tätigkeit der Klägerin erfüllt nicht das in der Revision allein noch im Streit stehende Tätigkeitsbeispiel der Gehaltsgruppe III GTV „Kassierer/in mit höheren Anforderungen“ iVm. der Fußnote 2 „Kassierer/innen …, die überwiegend in Kassenzonen von Lebensmittel-Supermärkten (ab 400 qm Verkaufsfläche) ... beschäftigt sind“.

101. Bei der Fußnote 2 zur Gehaltsgruppe III GTV handelt es sich um eine Tarifnorm (s. nur  - Rn. 16 ff.). Davon gehen auch die Parteien übereinstimmend aus.

112. Rechtsfehlerfrei hat das Landesarbeitsgericht weiter angenommen, dass es sich bei der Fußnote 2 zur Gehaltsgruppe III GTV „Kassierer/innen …, die überwiegend in Kassenzonen von Lebensmittel-Supermärkten (ab 400 qm Verkaufsfläche)“ um ein Tätigkeitsbeispiel iSd. ständigen Rechtsprechung des Bundesarbeitsgerichts handelt (s. nur  - Rn. 23 ff. mwN).

123. Die Klägerin ist nicht in einem Lebensmittel-Supermarkt iSd. Fußnote 2 der Gehaltsgruppe III GTV beschäftigt.

13a) Da die tariflichen Bestimmungen des Einzelhandels in Rheinland-Pfalz keine eigenständige Definition des Begriffs „Lebensmittel-Supermarkt“ enthalten, ist für dessen Auslegung ein branchenspezifisches Verständnis der Tarifnorm maßgebend. Dies gilt umso mehr, als die Tarifvertragsparteien hier keinen in der Rechtsterminologie feststehenden Begriff in seiner allgemeinen Bedeutung verwendet haben ( - BAGE 45, 121).

14b) Nach der ständigen Rechtsprechung des Bundesarbeitsgerichts ist bei einer branchenspezifischen Verwendung eines Begriffs davon auszugehen, dass die Tarifvertragsparteien den Begriff so angewendet wissen wollen, wie er im Handelsverkehr und Wirtschaftsleben verstanden wird, und damit den Anschauungen der beteiligten Berufskreise und dem Handelsbrauch (§ 346 HGB) entspricht (ausführlich  - BAGE 45, 121; weiterhin - 4 AZR 333/08 - Rn. 24, AP TVG § 1 Tarifverträge: Einzelhandel Nr. 95; - 8 AZR 113/01 - zu II 2 b bb der Gründe; - 4 AZR 461/87 -).

15c) Danach erfüllt der Betrieb zwar die im Tätigkeitsbeispiel genannte Anforderung einer Verkaufsfläche von mehr als 400 qm. Es handelt sich aber aufgrund des angebotenen Sortiments von lediglich etwa 1.600 Artikeln nicht um einen Lebensmittel-Supermarkt im Tarifsinne.

16aa) Im Wirtschaftsleben wird unter einem „Supermarkt“ ein Einzelhandelsbetrieb verstanden, der auf einer Verkaufsfläche von mindestens 400 qm Nahrungs- und Genussmittel einschließlich Frischwaren (Obst, Gemüse, Südfrüchte, Fleisch uä.) und ergänzend „problemlose“ Waren anderer Branchen vorwiegend in Selbstbedienung anbietet. Unter dem Begriff problemlose Waren werden allgemein bekannte Güter des Massenbedarfs verstanden, bei deren Auswahl und Erwerb der Verbraucher im Allgemeinen keine Beratung erwartet oder wünscht, und die für den Absatz im Wege der Selbstbedienung geeignet sind (Ausschuss für Definitionen zu Handel und Distribution Katalog E - Definitionen zu Handel und Distribution 5. Aufl. S. 56 f.; so schon Ausschuss für Begriffsdefinitionen aus der Handels- und Absatzwirtschaft Katalog E - Begriffsdefinitionen aus der Handels- und Absatzwirtschaft 3. Aufl. S. 28; Metro Group Metro-Handelslexikon 2011/2012 S. 205;  - AP TVG § 1 Tarifverträge: Einzelhandel Nr. 3). Der Supermarkt ist vor allem dadurch gekennzeichnet, dass der sog. Non-Food-Bereich nicht mehr als 25 vH der Verkaufsfläche in Anspruch nimmt (Ausschuss für Definitionen zu Handel und Distribution aaO S. 57). Der Begriff erfasst als Distributionsform des Lebensmitteleinzelhandels auch den Lebensmittel-Supermarkt iSd. Gehaltsgruppe III GTV.

17Weiteres kennzeichnendes Merkmal eines Lebensmittel-Supermarkts ist neben der Größe der Verkaufsfläche der Umfang des angebotenen Sortiments. Ein Supermarkt dient der Nahversorgung der Bevölkerung und verfügt daher über ein sog. Vollsortiment (Gabler Wirtschaftslexikon 16. Aufl. Stichwort: Supermarkt S. 2869 f.; Arbeitsgruppe „Strukturwandel im Lebensmitteleinzelhandel und § 11 Abs. 3 BauNVO“, ZfBR 2002, 598;  - zu 1.3.2 der Gründe, BVerwGE 124, 364). Ein Lebensmittel-Supermarkt als „Vollsortimenter“ wird entgegen der Auffassung der Klägerin allerdings erst dann angenommen, wenn er über ein Sortiment von durchschnittlich mehr als 7.000 Artikel verfügt (s. Arbeitsgruppe „Strukturwandel im Lebensmitteleinzelhandel und § 11 Abs. 3 BauNVO“ aaO; Metro Group Metro-Handelslexikon 2011/2012 S. 205; Elmar Pfeiffer Betriebsformen des Einzelhandels Stichwort: Supermarkt [Onlinedokument unter www.stalys.de]). Das übersieht die von der Klägerin angeführte Entscheidung des Landesarbeitsgerichts Rheinland-Pfalz ( - 9 Sa 617/99 - zu I 1 der Gründe, BeckRS 1999, 30466207), die diesen Aspekt unberücksichtigt lässt.

18bb) Diesem Begriffsverständnis entspricht die Judikatur zum Bauplanungsrecht (zu § 11 Abs. 3 BauNVO vgl.  - zu 1.3.3 der Gründe, BVerwGE 124, 364; VG Minden - 9 K 893/08 -; s. auch König/Roeser/Stock BauNVO § 11 Rn. 56a). Zwar kann nicht angenommen werden, die Tarifvertragsparteien des Einzelhandels wollten auf Rechtsbegriffe des Bauplanungsrechts zurückgreifen ( - AP TVG § 1 Tarifverträge: Einzelhandel Nr. 3). Die Entscheidungen verdeutlichen aber das Verständnis der einschlägigen Berufskreise und den Handelsbrauch.

19cc) Gegen dieses Ergebnis spricht nicht der von der Revision angeführte Umstand, die Tarifvertragsparteien hätten den Sortimentsumfang gerade nicht als weiteres Merkmal in den Tarifwortlaut aufgenommen. Die quantitative Anforderung - „Vollsortiment“ - ergibt sich bereits aus der Verwendung des Begriffs „Lebensmittel-Supermarkt“. Eine gesonderte tarifliche Bestimmung zur Sortimentsgröße war zur Bestimmung des Tarifmerkmales nicht geboten. Etwas anderes folgt nicht aus dem Umstand, dass die Tarifvertragsparteien demgegenüber die Mindestverkaufsfläche (400 qm) konkretisierend benannt haben. Daraus kann nicht geschlossen werden, sie hätten den Begriff des Lebensmittel-Supermarkts unabhängig von den (weiteren) Vorstellungen und Anschauungen der beteiligten Berufskreise festlegen wollen. Wenn dem so wäre, hätte es ausgereicht, den Begriff des Lebensmittelhandels, der in der Gehaltsgruppe III GTV ebenfalls verwendet wird, heranzuziehen und für solche Betriebe eine Mindestverkaufsfläche festzulegen. Das gilt umso mehr, als die Gehaltsgruppe III GTV auch Kassiererinnen in Verbrauchermärkten, die ein noch umfangreicheres Sortiment vorhalten (über 20.000 Artikel, vgl. Metro-Group Metro-Handelslexikon 2011/2012 S. 211), aufführt.

20dd) Die Tätigkeit der Klägerin erfüllt demnach nicht die Voraussetzungen des Merkmales „Lebensmittel-Supermarkt“ iSd. Fußnote 2 zur Gehaltsgruppe III GTV.

21(1) Im Betrieb des Beklagten wird lediglich ein Sortiment von etwa 1.600 Artikeln angeboten. Es handelt sich daher nicht um ein Lebensmitteleinzelhandelsgeschäft, das neben der erforderlichen Mindestgröße auch über ein sog. Vollsortiment verfügt. Es kann dahinstehen, ob bei einem geringfügig kleineren als 7.000 Artikel gleichwohl noch von einem Vollsortiment ausgegangen werden kann, und ob die von der Klägerin angeführte Sortimentszusammenstellung im Betrieb der Beklagten der Annahme entgegensteht, sie betreibe keinen Lebensmittel-Supermarkt. Jedenfalls liegt bei einem Sortiment von ca. 1.600 Artikeln kein Lebensmittel-Supermarkt vor.

22(2) Die Rüge der Klägerin, das Landesarbeitsgericht habe nicht darauf hingewiesen, es werde auf den Umfang des von der Beklagten angebotenen Sortiments abstellen, ist unzulässig (zu den Anforderungen gem. § 551 Abs. 3 Satz 1 Nr. 2 Buchst. b ZPO s. nur  - Rn. 22, NZA-RR 2008, 362). Die Klägerin legt bereits nicht dar, weshalb sie, nachdem die Beklagte bereits in ihrer Klageerwiderung den erforderlichen Sortimentsumfang für das Tarifmerkmal eines Lebensmittel-Supermarkts angeführt hat, nicht damit rechnen musste, das Landesarbeitsgericht werde diesen Umstand heranziehen (vgl. auch  - Rn. 37, NZA-RR 2007, 495).

23(3) Im Übrigen ist die von der Revision angeführte besondere Belastung bei der Tätigkeit an Scannerkassen im Streitfall ohne Bedeutung. Besondere Anforderungen an die Tätigkeit von Kassierern und Kassiererinnen, die über die der Gehaltsgruppe II GTV hinausgehen und nicht zugleich das Tätigkeitsmerkmal der Gehaltsgruppe III GTV erfüllen, werden von den Tarifvertragsparteien lediglich durch die Tätigkeitszulage (Fußnote 1 zur Gehaltsgruppe II GTV), nicht aber im Rahmen des hier maßgebenden Tätigkeitsbeispiels oder im Oberbegriff des Tätigkeitsmerkmales des Gehaltsgruppe III GTV berücksichtigt. Diese Bewertung liegt grundsätzlich im Rahmen der tariflichen Regelungsbefugnis (vgl.  - Rn. 44 mwN, AP TVG § 1 Tarifverträge: Einzelhandel Nr. 95).

24III. Die Klägerin erfüllt nach ihrem Vortrag auch nicht die allgemeinen tariflichen Anforderungen des Oberbegriffs der Gehaltsgruppe III GTV. Das hat das Landesarbeitsgericht zutreffend erkannt und wird von der Revision auch nicht mehr gerügt.

IV. Die Klägerin trägt die Kosten ihrer erfolglosen Revision (§ 97 Abs. 1 ZPO).

Fundstelle(n):
PAAAE-22048