BFH Beschluss v. - XI B 8/12

Abwarten einer noch ausstehenden Entscheidung in einem finanzgerichtlichen Verfahren als zureichender Grund für die Verzögerung einer Einspruchsentscheidung

Gesetze: FGO § 44 Abs. 1, FGO § 46 Abs. 1, FGO § 96 Abs. 2, FGO § 115 Abs. 2 Nr. 1, FGO § 115 Abs. 2 Nr. 2, FGO § 115 Abs. 2 Nr. 3, FGO § 116 Abs. 3 Satz 3, UStG § 2, GG Art. 103 Abs. 1

Instanzenzug:

Gründe

1 I. Die Klägerin und Beschwerdeführerin (Klägerin), eine GmbH, gab für das Jahr 2005 (Streitjahr) keine Umsatzsteuererklärung ab. Sie war und ist der Ansicht, dass sie Organgesellschaft des Einzelunternehmens ihres Geschäftsführers sei.

2 Der Beklagte und Beschwerdegegner (das Finanzamt —FA—) schätzte die Besteuerungsgrundlagen und erließ am den Umsatzsteuerbescheid für 2005 gegen die Klägerin. Hiergegen legte sie am Einspruch ein.

3 Das FA gewährte antragsgemäß die Aussetzung der Vollziehung (AdV) des angefochtenen Bescheids.

4 Mit Schreiben vom teilte das FA der Klägerin auf deren Anfrage hin mit, dass das für die Besteuerung des Geschäftsführers zuständige FA X für die Jahre ab 2005 noch keine Entscheidung über das Bestehen einer Organschaft getroffen habe und hierzu hinsichtlich der Jahre 2002 bis 2004 beim Finanzgericht (FG) unter dem Aktenzeichen . ein finanzgerichtliches Verfahren anhängig sei.

5 Mit der am erhobenen, auf Aufhebung des streitigen Umsatzsteuerbescheids gerichteten Klage machte die Klägerin geltend, es sei ihr nicht zumutbar, länger auf eine Entscheidung des FA zu warten. Die Erhebung einer Untätigkeitsklage sei geboten. Es gebe keinen sachlichen Grund, über den Einspruch vom nicht zu entscheiden.

6 Das FG wies die Klage als unzulässig ab. Die Zulässigkeit der Klage ergebe sich nicht aus § 46 Abs. 1 Satz 1 der Finanzgerichtsordnung (FGO). Das FA habe der Klägerin vor Klageerhebung mitgeteilt, dass es vor einer Entscheidung über den Einspruch den Ausgang des beim FG anhängigen Verfahrens . abwarten wolle. Dies sei sachgerecht, weil das FG in diesem Verfahren über das Vorliegen der Voraussetzungen für eine Organschaft der Klägerin zum Einzelunternehmen ihres Geschäftsführers zu befinden haben werde.

7 Das Vorliegen eines sachlichen Grundes lasse sich auch nicht deshalb verneinen, weil das vorgenannte Verfahren lediglich die Jahre 2002 bis 2004 betreffe. Es sei nicht ersichtlich, dass sich die Voraussetzungen für das Bestehen einer möglichen Organschaft im Streitjahr 2005 grundlegend geändert hätten. Angesichts dessen sei das Verfahren nicht nach § 46 Abs. 1 Satz 3 FGO auszusetzen.

8 Das FA habe die AdV gewährt, so dass sich die Klägerin derzeit keiner beizutreibenden Steuerforderungen gegenüber sehe.

9 Das FG ließ die Revision gegen sein Urteil nicht zu. Hiergegen wendet sich die Klägerin mit der vorliegenden Nichtzulassungsbeschwerde.

10 II. Die Nichtzulassungsbeschwerde der Klägerin hat keinen Erfolg. Sie war daher zurückzuweisen.

11 Die geltend gemachten Revisionszulassungsgründe sind entweder nicht gegeben oder nicht den Anforderungen des § 116 Abs. 3 Satz 3 FGO entsprechend dargelegt.

12 1. Die von der Klägerin sinngemäß erhobene Rüge, das FG habe die Klage zu Unrecht durch ein Prozessurteil als unzulässig abgewiesen, kann zwar einen Verfahrensmangel nach § 115 Abs. 2 Nr. 3 FGO begründen (vgl. z.B. Beschlüsse des Bundesfinanzhofs —BFH— vom III B 124/10, BFH/NV 2011, 1110; vom III B 36/11, nicht veröffentlicht —n.v.—, juris, jeweils m.w.N.). Ein solcher Verstoß liegt im Streitfall aber nicht vor.

13 Das FG hat die Klage zu Recht als unzulässig verworfen, weil im Zeitpunkt der Klageerhebung noch nicht über den außergerichtlichen Rechtsbehelf entschieden war (§ 44 Abs. 1 FGO) und die Zulässigkeitsvoraussetzungen für eine Untätigkeitsklage nach § 46 Abs. 1 FGO nicht vorlagen.

14 a) Ohne vorherigen Abschluss eines Vorverfahrens ist eine Klage nach § 46 Abs. 1 Satz 1 FGO abweichend von § 44 FGO zulässig, wenn über einen außergerichtlichen Rechtsbehelf ohne Mitteilung eines zureichenden Grundes in angemessener Frist sachlich nicht entschieden worden ist.

15 aa) Aus § 46 Abs. 1 Satz 1 i.V.m. Satz 2 FGO folgt, dass eine Frist von bis zu sechs Monaten nach Einlegung des Einspruchs regelmäßig als angemessen anzusehen ist (vgl. z.B. , BFH/NV 2006, 2017; vom V R 43/08, BFH/NV 2011, 989, jeweils m.w.N.). Das Tatbestandsmerkmal „in angemessener Frist” ist aber auch nach Ablauf von sechs Monaten zu prüfen. Dabei ist nach den gesamten Umständen des Falles zu beurteilen, ob eine darüber hinausreichende Frist noch „angemessen” ist. Abzuwägen sind auf der einen Seite der Umfang und die rechtlichen Schwierigkeiten des Falles und auf der anderen Seite das Interesse des Rechtsbehelfsführers an einer baldigen Entscheidung (vgl. BFH-Urteile in BFH/NV 2006, 2017; in BFH/NV 2011, 989, jeweils m.w.N.). Nach § 46 Abs. 1 Satz 1 FGO muss ein Steuerpflichtiger eine Verzögerung der Entscheidung über seinen außergerichtlichen Rechtsbehelf über eine angemessene Frist hinaus nur dann hinnehmen, wenn dafür ein zureichender Grund besteht und dieser ihm mitgeteilt worden ist (vgl. BFH-Urteil in BFH/NV 2011, 989).

16 bb) Ein zureichender Grund liegt vor, wenn es nach den besonderen Umständen des Einzelfalles einleuchtend erscheint, dass das Rechtsbehelfsverfahren noch nicht abgeschlossen wurde (vgl. BFH-Urteil in BFH/NV 2011, 989, m.w.N.). Als zureichender Grund i.S. des § 46 Abs. 1 Satz 1 FGO kommt auch das Abwarten einer noch ausstehenden Entscheidung in einem finanzgerichtlichen Verfahren in Betracht, wenn dort dieselbe Streitfrage entscheidungserheblich ist, wie in demjenigen Verfahren, in dem die Entscheidung über den Einspruch zurückgestellt werden soll (zum „Musterverfahren” vgl. BFH-Urteil in BFH/NV 2011, 989, m.w.N.).

17 b) Vorliegend hat das FG das Abwarten der noch ausstehenden Entscheidung im Verfahren . zu Recht als zureichenden Grund dafür angesehen, dass das FA die Entscheidung über den Einspruch der Klägerin zurückgestellt hat. Denn in beiden Verfahren ist die Streitfrage erheblich, ob die Voraussetzungen für eine Organschaft der Klägerin zum Einzelunternehmen ihres Geschäftsführers vorliegen. Dieser zureichende Grund lässt sich —wovon das FG zutreffend ausging— nicht deshalb verneinen, weil das Verfahren . nicht das Streitjahr, sondern die Jahre 2002 bis 2004 betrifft. Denn es war weder ersichtlich noch substantiiert vorgebracht, dass sich die Voraussetzungen für das Bestehen einer möglichen Organschaft geändert hätten. Die Klägerin hatte hierzu in ihrer Klageschrift lediglich pauschal behauptet, der die Jahre 2002 bis 2004 betreffende Rechtsstreit besage „nichts” für das Organschaftsverhältnis der Folgejahre; die Frage der Organschaft müsse „für jedes Jahr geprüft und entschieden werden”.

18 c) Dieser zureichende Grund wurde der Klägerin mit Schreiben des FA vom —mithin vor Klageerhebung— auch mitgeteilt.

19 2. Der ferner von der Klägerin geltend gemachte Verfahrensmangel i.S. des § 115 Abs. 2 Nr. 3 FGO der Verletzung des rechtlichen Gehörs liegt nicht vor.

20 a) Die Klägerin rügt, das FG habe ihr prozessuales Grundrecht auf rechtliches Gehör dadurch verletzt, dass es ihr tatsächliches Vorbringen übergangen habe. Es habe nicht zur Kenntnis genommen, dass —wie sie, die Klägerin, vorgebracht habe— das FA X „wissentlich” und „wohlüberlegt” entschieden hätte, ihre Umsätze und Vorsteuerbeträge bei der Umsatzbesteuerung ihres Geschäftsführers als Organträger zu berücksichtigen, und die Unzumutbarkeit des Zuwartens in den gegebenenfalls auf unabsehbare Zeit anfallenden Aussetzungszinsen zu sehen sei.

21 b) Der Anspruch auf rechtliches Gehör (Art. 103 Abs. 1 des Grundgesetzes i.V.m. § 96 Abs. 2 FGO) umfasst vor allem das Recht der Verfahrensbeteiligten, sich vor Erlass einer Entscheidung zu den entscheidungserheblichen Tatsachen und Beweisergebnissen zu äußern. Sie haben einen Anspruch darauf, dem Gericht auch in rechtlicher Hinsicht alles vortragen zu können, was sie für wesentlich halten. Diesen Ansprüchen entspricht die Pflicht des Gerichts, die Ausführungen der Prozessbeteiligten zur Kenntnis zu nehmen und in Erwägung zu ziehen. Weiterhin hat das Gericht seine Entscheidung zu begründen, wobei aus seiner Begründung erkennbar sein muss, dass eine Auseinandersetzung mit dem wesentlichen Vorbringen der Verfahrensbeteiligten stattgefunden hat (vgl. z.B. , BVerfGE 54, 86, m.w.N.). Diese richterliche Pflicht geht jedoch nicht so weit, dass sich das Gericht mit jedem Vorbringen in den Entscheidungsgründen ausdrücklich befassen müsste, da davon auszugehen ist, dass das Gericht das Vorbringen der Beteiligten auch zur Kenntnis genommen hat (Gräber/Ruban, Finanzgerichtsordnung, 7. Aufl., § 119 Rz 10a, m.w.N.). Es darf das Vorbringen außer Acht lassen, das nach seiner Auffassung unerheblich oder unsubstantiiert ist. Das rechtliche Gehör ist erst dann verletzt, wenn sich aus den besonderen Umständen des Einzelfalles deutlich ergibt, dass das Gericht ein tatsächliches Vorbringen entweder überhaupt nicht zur Kenntnis genommen oder bei seiner Entscheidung ersichtlich nicht in Erwägung gezogen hat (ständige Rechtsprechung, vgl. z.B. BFH-Beschlüsse vom III S 8/07, BFH/NV 2007, 2135; vom XI B 46/10, BFH/NV 2011, 448; vom III B 107/11, BFH/NV 2012, 987; vom III B 238/11, n.v., juris, jeweils m.w.N.).

22 c) Entgegen dem Beschwerdevorbringen hat das FG den Vortrag der Klägerin ersichtlich zur Kenntnis genommen.

23 aa) Die Vorentscheidung führt zu dem im Tatbestand (FG-Urteil, Seite 2) dargelegten Vorbringen der Klägerin, dass das FA X die Umsätze und Vorsteuerbeträge der Klägerin im Rahmen der Umsatzsteuerfestsetzung gegen ihren Geschäftsführer berücksichtigt habe und dass das FA X für das Streitjahr 2005 eine Organschaft faktisch anerkannt habe, in den Entscheidungsgründen (FG-Urteil, Seite 3) aus, dass dies allein nicht zum Vorliegen einer Organschaft führe.

24 bb) Das FG hat ferner zur Kenntnis genommen, dass das FA antragsgemäß die AdV des angefochtenen Umsatzsteuerbescheids gewährt hat (FG-Urteil, Seite 2). Es hielt die erhobene Untätigkeitsklage auch nicht unter dem Gesichtspunkt für zulässig, dass der Klägerin durch die Nichtentscheidung unzumutbare Nachteile erwüchsen, da die AdV gewährt worden sei (FG-Urteil, Seite 3).

25 3. Die Revision ist auch nicht wegen grundsätzlicher Bedeutung der Rechtssache (§ 115 Abs. 2 Nr. 1 FGO) zuzulassen.

26 a) Eine ordnungsgemäße Darlegung dieses Zulassungsgrundes setzt voraus, dass der Beschwerdeführer eine bestimmte für die Entscheidung des Streitfalls erhebliche abstrakte Rechtsfrage herausstellt, der grundsätzliche Bedeutung zukommen soll. Hierzu ist schlüssig und substantiiert unter Auseinandersetzung mit den zur aufgeworfenen Rechtsfrage in Rechtsprechung und Schrifttum vertretenen Auffassungen darzulegen, weshalb die für bedeutsam gehaltene Rechtsfrage im allgemeinen Interesse klärungsbedürftig und im Streitfall klärungsfähig ist. Dazu muss auch dargelegt werden, in welchem Umfang, von welcher Seite und aus welchen Gründen die Beantwortung der Frage zweifelhaft und streitig ist (ständige Rechtsprechung, vgl. z.B. BFH-Beschlüsse vom III B 112/09, BFH/NV 2010, 881, m.w.N.; vom XI B 105/09, BFH/NV 2010, 2086, m.w.N.; vom II B 111/10, BFH/NV 2011, 73, m.w.N.).

27 b) Diesem Erfordernis genügt die Beschwerdeschrift nicht. Die Klägerin hält zwar hinsichtlich der Behandlung von umsatzsteuerrechtlichen Organschaftsverhältnissen (§ 2 des Umsatzsteuergesetzes) eine Reihe von Fragen für grundsätzlich bedeutsam. Sie legt jedoch schon nicht dar, dass die Klärung der Fragen im Interesse der Allgemeinheit liegt. Zur Darlegung der grundsätzlichen Bedeutung einer Rechtssache genügt insbesondere nicht der Hinweis darauf, dass die Revisionsentscheidung für eine größere Zahl von Fällen von Bedeutung sei (ständige Rechtsprechung, vgl. BFH-Beschlüsse vom V B 85/93, BFH/NV 1995, 603; vom XI B 11/01, BFH/NV 2004, 77; vom X B 73/06, BFH/NV 2007, 1653, jeweils m.w.N.).

28 Im Übrigen ist die Klärung von Rechtsfragen grundsätzlicher Bedeutung nicht im allgemeinen Interesse, wenn die Entscheidung —wie im Streitfall— maßgeblich von den tatsächlichen Besonderheiten des Einzelfalls abhängt (vgl. z.B. Gräber/ Ruban, a.a.O., § 115 Rz 23).

29 c) Die ferner zur Zulässigkeit von Untätigkeitsklagen (§ 46 FGO) aufgeworfene Rechtsfrage ist nicht klärungsbedürftig.

30 An der Klärungsbedürftigkeit fehlt es, wenn die Rechtsfrage anhand der gesetzlichen Grundlagen oder der bereits vorliegenden Rechtsprechung beantwortet werden kann und keine neuen Gesichtspunkte erkennbar sind, die eine erneute Prüfung und Entscheidung der Rechtsfrage durch den BFH geboten erscheinen lassen (ständige Rechtsprechung, vgl. z.B. Senatsbeschluss vom XI B 32/10, BFH/NV 2011, 746, m.w.N.).

31 Es ist bereits geklärt, dass als zureichender Grund i.S. des § 46 Abs. 1 Satz 1 FGO auch das Abwarten einer noch ausstehenden Entscheidung in einem finanzgerichtlichen Verfahren in Betracht kommt, wenn —wovon im Streitfall auszugehen ist— dort dieselbe Streitfrage entscheidungserheblich ist, wie in demjenigen Verfahren, in dem die Entscheidung über den Einspruch zurückgestellt werden soll (vgl. BFH-Urteil in BFH/NV 2011, 989, m.w.N.).

32 Neue Gesichtspunkte, die eine erneute Prüfung dieser Rechtsprechung erfordern würden, sind weder dargetan noch ersichtlich.

33 4. Die Klägerin hat schließlich nicht entsprechend den Anforderungen des § 116 Abs. 3 Satz 3 FGO dargelegt, dass die Revision zur Sicherung einer einheitlichen Rechtsprechung gemäß § 115 Abs. 2 Nr. 2 Alternative 2 FGO zuzulassen ist.

34 a) Zur Darlegung einer Divergenz gemäß § 115 Abs. 2 Nr. 2 Alternative 2 FGO ist erforderlich, dass sich aus der Beschwerdebegründung ergibt, in welcher konkreten Rechtsfrage das FG in der angefochtenen Entscheidung nach Ansicht des Beschwerdeführers von der Rechtsprechung anderer Gerichte abgewichen ist. Er hat rechtserhebliche abstrakte Rechtssätze im angefochtenen Urteil und in den von ihm angeführten Entscheidungen so genau zu bezeichnen, dass die Abweichung erkennbar wird (ständige Rechtsprechung, vgl. z.B. BFH-Beschlüsse vom V B 15/00, BFH/NV 2001, 819; vom XI B 247/07, n.v., juris; vom XI B 56/10, BFH/NV 2011, 199, jeweils m.w.N.).

35 b) Diesen Anforderungen genügt die Beschwerde nicht. Die Klägerin bezieht sich zwar auf BFH-Urteile, ohne jedoch abweichende Rechtssätze oder vergleichbare Sachverhalte derart darzutun, dass die Nichtübereinstimmung verschiedener Gerichte im Grundsätzlichen erkennbar wäre (vgl. , BFH/NV 2012, 281, m.w.N.).

36 5. Der Senat sieht von einer weiteren Begründung ab (§ 116 Abs. 5 Satz 2 FGO).

Fundstelle(n):
BFH/NV 2012 S. 1809 Nr. 11
ZAAAE-17157