BAG Urteil v. - 10 AZR 60/11

Treuegeld - ablösende Betriebsvereinbarung

Gesetze: § 611 BGB

Instanzenzug: ArbG Neuruppin Az: 5 Ca 1687/09 Urteilvorgehend LArbG Berlin-Brandenburg Az: 5 Sa 1763/10 Urteil

Tatbestand

1Die Parteien streiten über die Zahlung von Treuegeld.

Der Kläger ist seit 1973 für die Beklagte bzw. ihre Rechtsvorgängerinnen im Betrieb H tätig. Die Beklagte zahlte bis zum Jahr 2003 Treuegelder nach Maßgabe der „Musterbetriebsordnung für A-Tochtergesellschaften in den neuen Bundesländern“ von 1994 (MuBO). Nach Ziff. 6.16 der MuBO erhielten Mitarbeiter des Tarif- und des AT-Kreises mit 26 bis 39 Dienstjahren einmal jährlich ein Treuegeld von 375,00 DM. Die Auszahlung sollte jeweils mit der Mai-Abrechnung erfolgen. Eine Betriebsvereinbarung zur Umsetzung der MuBO wurde für den Betrieb H nicht geschlossen. Die Beklagte schloss mit dem Betriebsrat dieses Betriebs im Jahr 2002 lediglich die Betriebsvereinbarung Nr. 86.1 („Rundungen auf glatte Euro-Beträge“). Nach Ziff. 3.5 dieser Betriebsvereinbarung beträgt das Treuegeld bei 26 bis 39 Dienstjahren jährlich 200,00 Euro. Mit Schreiben vom kündigte die Beklagte gegenüber dem Betriebsrat des Betriebs H die MuBO zum . In dem Schreiben heißt es:

3Seit dem Jahr 2004 führte die Beklagte zahlreiche Rechtsstreitigkeiten mit ihren Arbeitnehmern wegen des Treuegelds.

Am trat für die Betriebe der Beklagten die Gesamtbetriebsvereinbarung Nr. 19 „Pensionsplan B Deutschland“ (GBV Nr. 19) in Kraft. In deren Präambel heißt es:

5Eine frühere betriebliche Altersversorgung war zum für neu eintretende Mitarbeiter geschlossen worden.

6Die Beklagte hat dem Kläger im Jahr 2009 kein Treuegeld gezahlt.

Der Kläger hat beantragt,

8Die Beklagte hat beantragt, die Klage abzuweisen. Ansprüche des Klägers auf Treuegeld seien durch die GBV Nr. 19 zum abgelöst worden. Sie habe ab Mitte 2007 auf Betriebsversammlungen mehrfach darauf hingewiesen, dass die abzuschließende GBV zur betrieblichen Altersversorgung auch Ansprüche auf Treue- und Jubiläumsgeld ersetzen werde. Die kollektive Ausgestaltung der Treuegelder sei für alle Mitarbeiter offensichtlich gewesen. Eine Ablösung durch Betriebsvereinbarung sei deshalb ohne Weiteres zulässig gewesen. Für die betriebliche Altersversorgung würden bis zum Jahr 2050 zudem 45.262.737,11 Euro aufgewendet, während sich für Treue- und Jubiläumsgelder in dieser Zeitspanne nur 10.137.593,02 Euro ergeben würden.

Die Vorinstanzen haben der Klage stattgegeben. Mit der vom Landesarbeitsgericht zugelassenen Revision verfolgt die Beklagte ihren Antrag auf Klageabweisung weiter.

Gründe

10Die Revision ist unbegründet. Die Vorinstanzen haben der Klage zu Recht stattgegeben.

11I. Die Klage ist insgesamt zulässig. Der Kläger hat in der mündlichen Verhandlung vor dem Senat klargestellt, dass der Feststellungsantrag sich nicht auf das Jahr 2009, für das der Kläger eine Zahlungsklage erhoben hat, bezieht. Das gemäß § 256 Abs. 1 ZPO erforderliche Feststellungsinteresse ist gegeben, weil durch die Entscheidung über den Feststellungsantrag der Streit auch für die nachfolgenden Jahre geklärt werden kann (vgl.  - Rn. 15).

12II. Die Klage ist sowohl mit dem Leistungsantrag für das Jahr 2009 wie auch mit dem Feststellungsantrag für die folgenden Jahre begründet.

131. Der Kläger hat einen vertraglichen Anspruch auf Zahlung eines jährlichen Treuegelds erworben. Die Beklagte und ihre Rechtsvorgängerinnen haben im Zeitraum von 1994 bis 2003 Leistungen nach Maßgabe von Ziff. 6.16 der MuBO vorbehaltlos und ohne kollektivrechtliche Grundlage im Betrieb H erbracht. Aus diesem Leistungsverhalten konnte der Kläger auf einen Bindungswillen der Beklagten schließen, dauerhaft bei Vorliegen der Voraussetzungen ein Treuegeld zahlen zu wollen (vgl.  - Rn. 37, BAGE 118, 360 [Treuegeld]; - 10 AZR 720/05 - Rn. 30 [Jubiläumsgeld]). Dieser Anspruch ist nicht durch eine gegenläufige betriebliche Übung nach Einstellung der Zahlungen entfallen (vgl.  - Rn. 21 ff., AP BGB § 242 Betriebliche Übung Nr. 87 = EzA BGB 2002 § 242 Betriebliche Übung Nr. 11). Darüber streiten die Parteien nicht.

142. Der Anspruch auf Treuegeld ist mit Inkrafttreten der GBV Nr. 19 zum nicht entfallen.

15a) Ein vertraglicher Anspruch auf eine Sonderzahlung kann durch Kündigung oder einvernehmlich abgeändert oder beseitigt werden, er ist wie sonstige im Arbeitsvertrag geregelte Entgeltansprüche ohne entsprechende Abrede aber nicht „betriebsvereinbarungsoffen“ ( - Rn. 11, AP BGB § 242 Betriebliche Übung Nr. 85 = EzA BGB 2002 § 242 Betriebliche Übung Nr. 10). Im Verhältnis von vertraglichen Ansprüchen zu solchen aus einer Betriebsvereinbarung gilt das Günstigkeitsprinzip. Anderes kann gelten, wenn ein wirksamer Vorbehalt vereinbart ist, wonach eine spätere Betriebsvereinbarung einen vertraglichen Anspruch verdrängen kann (vgl.  - Rn. 45; Fitting 25. Aufl. § 77 Rn. 198).

16b) Beruht der Anspruch auf Sozialleistungen auf einer betrieblichen Einheitsregelung, einer Gesamtzusage oder einer betrieblichen Übung, gelten nach der Rechtsprechung des Bundesarbeitsgerichts Besonderheiten. Solche Ansprüche sind Teil einer generellen Regelung. Sie stehen in einem kollektiven Bezug, der den Arbeitnehmern bekannt ist. Ihre Abänderung durch nachfolgende Betriebsvereinbarung ist möglich, wobei nicht das Ablösungsprinzip (Zeitkollisionsregel), sondern ein modifiziertes Günstigkeitsprinzip gilt (st. Rspr. seit BAG GS - GS 1/82 - zu C III 2 der Gründe, BAGE 53, 42; - 3 AZR 61/06 - Rn. 33, AP BetrAVG § 1 Nr. 52 = EzA BetrAVG § 1 Betriebliche Übung Nr. 9). Die Regelungen der neuen Betriebsvereinbarung dürfen gegenüber der bisherigen betrieblichen Übung für die Gesamtheit der von ihr erfassten Arbeitnehmer nicht ungünstiger sein. Auch ein solcher kollektiver Günstigkeitsvergleich erübrigt sich, wenn die vertragliche Regelung „betriebsvereinbarungsoffen” ist, weil sie einen ausdrücklichen oder stillschweigenden Vorbehalt der Ablösung durch eine spätere Betriebsvereinbarung enthält. Der kollektive Günstigkeitsvergleich kann ferner entbehrlich sein, wenn der Arbeitgeber ein ihm zustehendes Gestaltungsrecht ausübt oder eine Vertragsanpassung wegen der Störung der Geschäftsgrundlage zu erfolgen hat ( - Rn. 34, aaO).

17c) Es bedarf keiner Entscheidung, auf welche Weise der vertragliche Anspruch des Klägers auf Zahlung eines jährlichen Treuegelds abgeändert werden kann. Selbst wenn zugunsten der Beklagten unterstellt wird, dass der Anspruch einer Ablösung ohne kollektiven Günstigkeitsvergleich zugänglich ist, ist er durch die GBV Nr. 19 nicht abgelöst worden. Die GBV Nr. 19 bestimmt diese Rechtsfolge nicht. Auf einen kollektiven Günstigkeitsvergleich kommt es nicht an.

18aa) Soll eine Betriebsvereinbarung vertragliche Ansprüche auf eine Sozialleistung ablösen, muss dieses Regelungsziel in jedem Falle ausdrücklich bestimmt sein oder sich der Betriebsvereinbarung durch Auslegung entnehmen lassen. Maßgeblich ist dabei der Leistungszweck der vereinbarten Sozialleistung. Entspricht der Leistungszweck einer nachfolgenden Betriebsvereinbarung dem durch Gesamtzusage, betrieblicher Einheitsregelung oder betrieblicher Übung begründeten Anspruch, so kommt in diesem Leistungszweck der Wille zur Ablösung der bisherigen Leistung regelmäßig zum Ausdruck (vgl. zur Ablösung einer Betriebsvereinbarung ohne Kündigung:  - zu B II 1 der Gründe, BAGE 77, 313; Fitting § 77 Rn. 143). Doppelzahlungen sind gewöhnlich nicht bezweckt. Soll hingegen eine Sozialleistung abgelöst und durch eine grundlegend andere Sozialleistung ersetzt werden, kann dieses Regelungsziel dem Leistungszweck der neuen Sozialleistung nicht entnommen werden. Es bedarf dann einer ausdrücklichen Regelung in der neuen Betriebsvereinbarung.

19bb) Die GBV Nr. 19 regelt eine Ablösung von Treue- und Jubiläumsgeldzahlungen im Betrieb H durch (Wieder-)Einführung der betrieblichen Altersversorgung nicht. Der Wortlaut verhält sich in keiner Weise zu einer Ablösung solcher Ansprüche. Diese ergibt sich auch nicht aus dem Leistungszweck. Mit der GBV Nr. 19 ist die Schaffung einer betrieblichen Altersversorgung beabsichtigt. Diese soll nach der Präambel die Leistungen aus der gesetzlichen Rentenversicherung ergänzen und zusammen mit einer angemessenen Eigenvorsorge zu einer zusätzlichen wirtschaftlichen Absicherung beitragen. Es handelt sich um eine Versorgung im Sinne des BetrAVG. Demgegenüber wird mit der Zahlung eines Treuegelds eine langjährige Betriebszugehörigkeit im bestehenden Arbeitsverhältnis anerkannt und das Festhalten am Arbeitsverhältnis honoriert. Beide Leistungszwecke unterscheiden sich ganz erheblich voneinander. Dies verdeutlicht das Leistungsverhalten der Beklagten, die mindestens seit 1994 bis zur Schließung der betrieblichen Altersversorgung zum parallel Treue- und Jubiläumsgelder sowie Leistungen der betrieblichen Altersversorgung erbracht hat.

20cc) Unerheblich ist, was der Geschäftsführer der Beklagten in Betriebsversammlungen geäußert hat. Sein Ablösewille hat sich in der GBV Nr. 19 jedenfalls nicht niedergeschlagen.

21d) Der Klageanspruch zu 1. ist der Höhe nach unstreitig. Der Zinsanspruch folgt aus § 286 Abs. 1, Abs. 2 Nr. 1, § 288 Abs. 1 BGB.

III. Die Kostenentscheidung folgt aus § 97 Abs. 1 ZPO.

Fundstelle(n):
BB 2012 S. 252 Nr. 4
BB 2012 S. 456 Nr. 7
DB 2012 S. 237 Nr. 4
VAAAD-99853