EuGH Urteil v. - C-175/88

Diskriminierung - Gebietsansässigkeit als vom nationalen Recht aufgestellte Voraussetzung für die Steuererstattung

Leitsatz

Artikel 48 Absatz 2 EWG-Vertrag verbietet es, daß nach dem Steuerrecht eines Mitgliedstaats die einbehaltenen Steuern auf die Löhne und Gehälter zu Lasten eines Arbeitnehmers aus einem Mitgliedstaat, der nur während eines Teils des Jahres gebietsansässiger Steuerpflichtiger ist, weil er sich im Laufe des Steuerjahres im Lande niederläßt oder das Land verläßt, der Staatskasse verfallen und nicht erstatte werden können.

Gründe:

1 Der luxemburgische Conseil d’État hat mit Urteil vom , beim Gerichtshof eingegangen am , gemäß Artikel 177 EWG-Vertrag eine Frage nach der Auslegung der Artikel 7 und 48 EWG-Vertrag vorgelegt.

2 Diese Frage stellt sich in einem Rechtsstreit zwischen Klaus Biehl und der Steuerverwaltung des Großherzogtums Luxemburg, in dem es um die Erstattung zuviel erhobener Einkommensteuer geht.

3 Herr Biehl, ein deutscher Staatsangehöriger, wohnte vom bis zum im Großherzogtum Luxemburg. In dieser Zeit ging er dort einer Beschäftigung als Arbeitnehmer nach. Am verlegte er seinen Wohnsitz in die Bundesrepublik Deutschland, wo er berufstätig ist.

4 Für die Zeit vom bis behielt der luxemburgische Arbeitnehmer von Herrn Biehl von dessen Gehalt Einkommensteuer ein. Bei der endgültigen Festsetzung der Steuer für das Steuerjahr 1983 stellte sich heraus, daß der Betrag der vom luxemburgischen Arbeitgeber einbehaltenen Steuern den Gesamtbetrag der von Herrn Biehl geschuldeten Steuern überstieg.

5 Herr Biehl beantragte bei der Steuerverwaltung des Großherzogtums Luxemburg die Erstattung der zuviel einbehaltenen Einkommensteuern. Das Steuerbüro Luxemburg lehnte diesen Antrag unter Berufung auf Artikel 154 Absatz 6 der Loi sur l’impôt sur le revenu (LIR; Mémorial A Nr. 79 vom ) ab. Der Betroffene legte gegen die Entscheidung des Steuerbüros Einspruch ein, der vom Direktor der Steuerbehörde mit der gleichen Begründung zurückgewiesen wurde.

6 Artikel 154 Absatz 6 LIR bestimmt:

„Die ordnungsgemäß von den Kapitalerträgen einbehaltenen Beträge verfallen der Staatskasse und können nicht erstattet werden. Das gleiche gilt für die einbehaltenen Steuern auf Löhne und Gehälter zu Lasten der Arbeitnehmer, die nur während eines Teils des Jahres gebietsansässige Steuerpflichtige sind, weil sie sich im Laufe des Jahres im Lande niederlassen oder das Land verlassen.”

7 Herr Biehl focht die Entscheidung des Direktors der Steuerbehörde Luxemburg vor dem luxemburgischen Conseil d’État an. Nach seiner Ansicht trifft Artikel 154 Absatz 6 LIR eine nach dem Gemeinschaftsrecht verbotene verschleierte diskriminierende Unterscheidung zwischen Steuerpflichtigen, da diese Vorschrift überwiegend auf Steuerpflichtige angewandt werde, die nicht die luxemburgische Staatsangehörigkeit besäßen.

8 Die Steuerverwaltung hält diesem Vorbringen entgegen, daß eine unterschiedliche Behandlung zweier verschiedener Gruppen von Steuerpflichtigen keine nach dem Gemeinschaftsrecht verbotene Diskriminierung darstelle, wenn sie durch objektive Gründe gerechtfertigt sei. Solche Gründe lägen hier vor. Artikel 154 Absatz 6 LIR solle nämlich verhindern, daß Steuerpflichtige, die sich im Ausland niederließen, in bestimmten Fällen einen ungerechtfertigten Vorteil gegenüber den Steuerpflichtigen erhielten, die im Großherzogtum Luxemburg gebietsansässig blieben.

9 Unter diesen Umständen hat das nationale Gericht das Verfahren ausgesetzt und dem Gerichtshof folgende Frage vorgelegt:

„Verbietet es Artikel 7 EWG-Vertrag oder eine andere Vorschrift des Gemeinschaftsrechts, insbesondere Artikel 48 EWG-Vertrag, der die Freizügigkeit der Arbeitnehmer gewährleistet, daß nach dem Steuerrecht eines Mitgliedstaats die einbehaltenen Steuern auf die Löhne und Gehälter zu Lasten eines Arbeitnehmers aus einem Mitgliedstaat, der nur während eines Teils des Jahres gebietsansässiger Steuerpflichtiger ist, weil er sich im Laufe des Steuerjahres im Lande niederläßt oder das Land verläßt, der Staatskasse verfallen und nicht erstattet werden können?”

10 Wegen weiterer Einzelheiten des Sachverhalts und der anwendbaren Rechtsvorschriften sowie der schriftlichen Erklärungen, die beim Gerichtshof eingereicht worden sind, wird auf den Sitzungsbericht verwiesen. Der Akteninhalt ist im folgenden nur insoweit wiedergegeben, als die Begründung des Urteils dies erfordert.

11 Nach Artikel 48 Absatz 2 EWG-Vertrag umfaßt die Freizügigkeit der Arbeitnehmer die Abschaffung jeder auf der Staatsangehörigkeit beruhenden unterschiedlichen Behandlung der Arbeitnehmer der Mitgliedstaaten insbesondere in bezug auf die Entlohnung.

12 Der Grundsatz der Gleichbehandlung auf dem Gebiet der Entlohnung wäre seiner Wirkung beraubt, wenn er durch diskriminierende nationale Vorschriften über die Einkommensteuer beeinträchtigt werden könnte. Deshalb schrieb der Rat in Artikel 7 seiner Verordnung (EWG) Nr. 1612/68 vom über die Freizügigkeit der Arbeitnehmer innerhalb der Gemeinschaft (ABl. L 257, S. 2) vor, daß ein Arbeitnehmer, der Staatsangehöriger eines Mitgliedstaats ist, im Hoheitsgebiet der anderen Mitgliedstaaten die gleichen steuerlichen Vergünstigungen genießt wie die inländischen Arbeitnehmer.

13 Nach der Rechtsprechung des Gerichtshofes verbieten die Vorschriften über die Gleichbehandlung nicht nur offensichtliche Diskriminierungen aufgrund der Staatsangehörigkeit, sondern auch alle versteckten Formen der Diskriminierung, die durch die Anwendung anderer Unterscheidungsmerkmale tatsächlich zu dem gleichen Ergebnis führen (Urteil vom in der Rechtssache 152/73, Sotgiu, Slg. 1974, 153, Randnr. 11).

14 Das Kriterium der ständigen Ansässigkeit im Inland für eine mögliche Erstattung zuviel einbehaltener Steuern birgt, obwohl es unabhängig von der Staatsangehörigkeit des betroffenen Steuerpflichtigen angewandt wird, die Gefahr, daß es sich besonders zum Nachteil der Steuerpflichtigen auswirkt, die Angehörige anderer Mitgliedstaaten sind. Oft sind sie es nämlich, die das Land im Laufe des Jahres verlassen oder sich dort niederlassen.

15 Zur Rechtfertigung der im Ausgangsverfahren streitigen nationalen Vorschrift macht die Steuerverwaltung geltend, daß es der Zweck der Bestimmung sei, das System der Steuerprogression zu gewährleisten. Ein Steuerpflichtiger, der sich im Großherzogtum niederlasse oder es im Laufe des Jahres verlasse (nachstehend: zeitweise gebietsansässiger Steuerpflichtiger) erziele seine Einkünfte und somit seine Besteuerung in mindestens zwei Staaten, nämlich im Großherzogtum und in dem Mitgliedstaat, den er verlasse oder in dem er sich niederlasse. Dieser Umstand verfälsche das Besteuerungssystem. Bei gleichem jährlichen Einkommen komme nämlich der zeitweise gebietsansässige Steuerpflichtige durch den Umstand, daß er nacheinander Einkünfte in zwei Mitgliedstaaten erzielt habe, im Falle der Erstattung der zuviel einbehaltenen Steuern in den Genuß eines günstigeren Steuersatzes, als er auf die Einkünfte eines gebietsansässigen Steuerpflichtigen angewandt werde, der seine gesamten Einkünfte im Großherzogtum erklären müsse, unabhängig davon, ob sie im Inland erzielt worden seien oder nicht.

16 Dem kann nicht gefolgt werden. Eine nationale Vorschrift der in Rede stehenden Art ist geeignet, den Gleichbehandlungsgrundsatz bei verschiedenen Fallgestaltungen zu verletzen, so etwa dann, wenn der zeitweise gebietsansässige Steuerpflichtige im Laufe eines Steuerjahres in dem Land, das er verläßt oder in dem er sich niederläßt, keine Einkünfte erzielt. In dieser Situation ist dieser Steuerpflichtige gegenüber einem gebietsansässigen Steuerpflichtigen benachteiligt, denn ihm wird der Anspruch auf Erstattung zuviel gezahlter Steuern versagt, den der gebietsansässige Steuerpflichtige stets hat.

17 In der mündlichen Verhandlung hat die Steuerverwaltung noch geltend gemacht, daß es im luxemburgischen Recht ein Einspruchsverfahren gebe, das es den zeitweise gebietsansässigen Steuerpflichtigen erlaube, zuviel gezahlte Steuern erstattet zu erhalten, wenn sie darlegten, daß die Anwendung von Artikel 154 Absatz 6 LIR für sie unbillige Folgen zeitige.

18 Selbst wenn man aber davon ausgeht, daß die Steuerpflichtigen das Recht zur Einlegung eines Einspruchs haben, um eine Überprüfung ihres Falles herbeizuführen, so hat die luxemburgische Regierung doch nicht dargetan, daß die Steuerverwaltung aufgrund einer Rechtsvorschrift verpflichtet wäre, in jedem Fall die diskriminierenden Folgen zu beseitigen, die aus der Anwendung der in Rede stehenden nationalen Vorschrift etwa erwachsen.

19 Deshalb ist dem vorlegenden Gericht zu antworten, daß es Artikel 48 Absatz 2 EWG-Vertrag verbietet, daß nach dem Steuerrecht eines Mitgliedstaats die einbehaltenen Steuern auf die Löhne und Gehälter zu Lasten eines Arbeitnehmers aus einem Mitgliedstaat, der nur während eines Teils des Jahres gebietsansässiger Steuerpflichtiger ist, weil er sich im Laufe des Steuerjahres im Lande niederläßt oder das Land verläßt, der Staatskasse verfallen und nicht erstattet werden können.

Kosten

20 Die Auslagen der Kommission der Europäischen Gemeinschaften, die vor dem Gerichtshof Erklärungen abgegeben hat, sind nicht erstattungsfähig. Für die Parteien des Ausgangsverfahrens ist das Verfahren ein Zwischenstreit in dem bei dem nationalen Gericht anhängigen Rechtsstreit; die Kostenentscheidung ist daher Sache dieses Gerichts.

Fundstelle(n):
YAAAD-94392