BGH Beschluss v. - II ZB 11/10

Kapitalanlegermusterverfahren: Bindungswirkung eines Vorlagebeschlusses bei verfahrensrechtlichen Mängeln

Leitsatz

1. Die Bindungswirkung des Vorlagebeschlusses für das Oberlandesgericht entfällt, wenn der geltend gemachte Anspruch schon nicht Gegenstand eines Musterverfahrens sein kann .

2. Die Bindungswirkung des Vorlagebeschlusses für das Oberlandesgericht entfällt nicht, wenn der Vorlagebeschluss trotz einzelner Fehler und Auslassungen eine geeignete Grundlage für die Durchführung des Musterverfahrens ist .

3. Fehler und Auslassungen des Vorlagebeschlusses bei der Bezeichnung der Beweismittel sowie der Darstellung des wesentlichen Inhalts der erhobenen Ansprüche und der vorgebrachten Angriffs- und Verteidigungsmittel können während des Musterverfahrens behoben werden und berechtigen das Oberlandesgericht daher nicht, den Vorlagebeschluss aufzuheben und an das Prozessgericht zurückzugeben .

Gesetze: § 4 Abs 1 S 2 Halbs 2 KapMuG, § 4 Abs 2 Nr 3 KapMuG, § 4 Abs 2 Nr 4 KapMuG

Instanzenzug: Az: KAP 2/09 Beschlussvorgehend LG München I Az: 27 O 13854/06

Gründe

1I. Die Rechtsbeschwerdeführer machen - neben weiteren Klägern in gesonderten Verfahren - vor dem Landgericht Schadensersatzansprüche wegen einer unzutreffenden Ad-hoc-Mitteilung der Beklagten zu 1 geltend. Auf den Musterfeststellungsantrag der Kläger hat das Landgericht am nach § 4 Abs. 1 Satz 1 KapMuG beschlossen, eine Entscheidung des Oberlandesgerichts "herbeizuführen zur beantragten Feststellung, dass die Ad-hoc-Mitteilung vom unrichtig war und hierdurch gegen die Beklagten zu 1) und 3) Schadensersatzansprüche aus § 826 BGB wegen vorsätzlicher sittenwidriger Schädigung begründet werden".

2Die Gründe des Vorlagebeschlusses des Landgerichts geben von dem Klagevortrag Einzelheiten zum Einstieg der Rechtsvorgängerin der Beklagten zu 1 in die Formel-1-Rennserie des Automobilsports und zu den den Anlegern hierzu in der Ad-hoc-Mitteilung vom angeblich verschwiegenen Tatsachen wieder. Der im Vorlagebeschluss angegebene Zeitpunkt der Klageerhebung sowie das in Bezug genommene Klagevorbringen, wann und zu welchem Kurs Aktien der Beklagten zu 1 nach der Ad-hoc-Mitteilung erworben worden seien, betreffen dagegen offenkundig nicht die hiesigen Kläger, sondern die Klage eines Klägers aus einem Parallelverfahren vor dem Landgericht.

3Mit Beschluss vom hat das Oberlandesgericht (OLG München, ZIP 2011, 51) den Vorlagebeschluss in entsprechender Anwendung der für willkürlich ergangene Verweisungsbeschlüsse zu § 281 ZPO entwickelten Grundsätze aufgehoben und das Verfahren zur anderweitigen Prüfung und Entscheidung an das Landgericht zurückgegeben. Dagegen richtet sich die - vom Oberlandesgericht zugelassene - Rechtsbeschwerde der Kläger.

4II. Das Oberlandesgericht hat ausgeführt: Der Vorlagebeschluss leide an erheblichen Mängeln und sei daher keine taugliche Grundlage für das Musterverfahren. Die Bindungswirkung gemäß § 4 Abs. 1 Satz 2 KapMuG bestehe nicht uneingeschränkt und entfalle, wenn der Vorlagebeschluss - wie hier - an schweren verfahrensrechtlichen Mängeln leide. Insoweit seien die von der obergerichtlichen Rechtsprechung entwickelten Grundsätze zur Einschränkung der Bindung an einen Verweisungsbeschluss nach § 281 ZPO entsprechend heranzuziehen. Es könne offen bleiben, ob der Beschluss bereits deshalb aufzuheben sei, weil er unzureichende Feststellungen über das Vorliegen der Voraussetzungen des § 4 Abs. 1 Satz 1 KapMuG (Aufführung der weiteren Musterfeststellungsanträge sowie deren Inhalt und Eintragung) enthalte. Denn es fehlten jedenfalls entgegen § 4 Abs. 2 Nr. 2 bis 4 KapMuG ausreichende Angaben zum Inhalt der geltend gemachten Ansprüche der Kläger, zu den vorgebrachten Streitpunkten und deren Entscheidungserheblichkeit sowie zu Angriffs- und Verteidigungsmitteln. Bereits der in den Gründen des Vorlagebeschlusses vorangestellte Klägervortrag betreffe offensichtlich nicht die hiesigen Kläger (andere Daten und Zahlen und einen anderen Klagezeitpunkt). Zum Vorbringen der Beklagten und zu den von diesen benannten Beweismitteln finde sich nichts.

5III. Die Rechtsbeschwerde der Kläger ist statthaft und zulässig. Sie hat auch in der Sache Erfolg. Das Oberlandesgericht ist gemäß § 4 Abs. 1 Satz 2 Halbsatz 2 KapMuG an den Vorlagebeschluss des Landgerichts München I vom gebunden.

61. Die Rechtsbeschwerde ist statthaft, weil das Oberlandesgericht im ersten Rechtszug sie in dem angefochtenen Beschluss zugelassen hat (§ 574 Abs. 1 Satz 1 Nr. 2 ZPO). Der Statthaftigkeit der Rechtsbeschwerde steht nicht entgegen, dass der Vorlagebeschluss nach § 4 Abs. 1 Satz 2 Halbsatz 1 KapMuG unanfechtbar ist. Dieser Ausschluss der Anfechtbarkeit gilt nur für den Vorlagebeschluss selbst, nicht aber für eine Entscheidung des Oberlandesgerichts, mit der der Vorlagebeschluss aufgehoben wird.

72. Der - nach § 4 Abs. 1 Satz 2 Halbsatz 1 KapMuG unanfechtbare - Vorlagebeschluss des Prozessgerichts ist nach § 4 Abs. 1 Satz 2 Halbsatz 2 KapMuG für das Oberlandesgericht grundsätzlich bindend. Die Bindung ist im vorliegenden Fall entgegen der Auffassung der Vorinstanz weder eingeschränkt noch ausnahmsweise entfallen.

8a) Der angefochtenen Entscheidung ist allerdings darin zuzustimmen, dass bei Vorliegen bestimmter Umstände eine Bindungswirkung des Vorlagebeschlusses nicht besteht. Dies ist etwa der Fall, wenn der geltend gemachte Anspruch schon nicht Gegenstand eines Musterverfahrens sein kann. § 4 Abs. 1 Satz 2 KapMuG findet dann keine Anwendung (vgl. Fullenkamp in Vorwerk/Wolf, KapMuG, § 4 Rn. 31; Parigger in Vorwerk/Wolf, KapMuG, § 9 Rn. 7; KK-KapMuG/Vollkommer, § 4 Rn. 90; ebenso im Ergebnis KG, Musterentscheid vom - 4 Sch 2/06, juris Rn. 248, 258; vgl. zur Unanfechtbarkeit nach § 7 Abs. 1 Satz 4 KapMuG , ZIP 2009, 1393 Rn. 10; Beschluss vom - XI ZB 4/09, juris Rn. 5; Beschluss vom - XI ZB 23/10, ZIP 2011, 147 Rn. 10 f.). Ein solcher Fall liegt hier indes nicht vor. Der geltend gemachte Anspruch kann Gegenstand eines Musterfeststellungsantrags sein, § 1 Abs. 1 Satz 1 Nr. 1 KapMuG. Mit der Feststellung, dass die Ad-hoc-Mitteilung vom unrichtig war und hierdurch gegen die Beklagten zu 1 und 3 Schadensersatzansprüche aus § 826 BGB wegen vorsätzlicher sittenwidriger Schädigung begründet werden, sollen anspruchsbegründende Voraussetzungen zu Schadensersatzansprüchen wegen falscher Kapitalmarktinformation geklärt werden.

9b) Es kann dahinstehen, ob die Bindungswirkung des § 4 Abs. 1 Satz 2 Halbsatz 2 KapMuG entfiele, wenn das Feststellungsziel auf die - nach der Rechtsprechung des Bundesgerichtshofs (, BGHZ 177, 88 Rn. 24) unzulässige - Feststellung des Anspruchs selbst gerichtet wäre. Das Feststellungsziel des Vorlagebeschlusses ist nicht auf die Feststellung eines Schadensersatzanspruches aus § 826 BGB dem Grunde nach gerichtet. Im Vordergrund steht vielmehr erkennbar die Frage nach der Unrichtigkeit der Ad-hoc-Mitteilung der Beklagten zu 1 vom und damit nach dem Vorliegen einer einzelnen anspruchsbegründenden Voraussetzung. Jedenfalls darin liegt ein nach § 1 Abs. 1 Satz 1 KapMuG zulässiges Feststellungsziel.

10c) Ob die Bindungswirkung in entsprechender Anwendung der zu § 281 Abs. 2 Satz 4 ZPO entwickelten Rechtsprechung in Ausnahmefällen bei Willkürentscheidungen entfallen kann, wie das Oberlandesgericht in Übereinstimmung mit einem Teil der Literatur (vgl. KK-KapMuG/Vollkommer, § 4 Rn. 87; Hanisch, Das Kapitalanleger-Musterverfahrensgesetzt [KapMuG]: Anwendungsfragen und Rechtsdogmatik, 2011, S. 281) angenommen hat, kann ebenfalls dahinstehen. Denn der ist nicht im Sinne dieser Rechtsprechung willkürlich; er weist vielmehr lediglich einfache Rechtsfehler auf, die eine Durchbrechung der Bindungswirkung des § 4 Abs. 1 Satz 2 Halbsatz 2 KapMuG nicht rechtfertigen (vgl. Hanisch, aaO, S. 285 f.).

11aa) Die Bindungswirkung eines Verweisungsbeschlusses kann nach der zu § 281 ZPO ergangenen Rechtsprechung des Bundesgerichtshofs im Einzelfall dann entfallen, wenn er auf der Verletzung rechtlichen Gehörs oder auf Willkür beruht. Willkür liegt erst dann vor, wenn dem Beschluss jede gesetzliche Grundlage fehlt. Dies ist insbesondere dann der Fall, wenn der Verweisungsbeschluss bei verständiger Würdigung der das Grundgesetz beherrschenden Gedanken nicht mehr verständlich erscheint und offensichtlich unhaltbar ist. Es genügt aber nicht, dass der Verweisungsbeschluss inhaltlich unrichtig oder sonst fehlerhaft ist (, BGHZ 71, 69, 72 f.; Beschluss vom - I ARZ 809/87, BGHZ 102, 338, 341; Beschluss vom - X ARZ 340/93, NJW 1993, 2810, 2811; Beschluss vom - X ARZ 92/03, NJW 2003, 3201, 3202; Beschluss vom - X ARZ 223/05, NJW 2006, 847 Rn. 12 f.; Beschluss vom - X ARZ 247/07, NJW-RR 2008, 370 Rn. 6).

12bb) Der Vorlagebeschluss des Landgerichts München I vom ist zwar unvollständig und teilweise inhaltlich falsch. Willkürlich ist der Vorlagebeschluss aber nicht. Willkürlich ist ein Vorlagebeschlusses dann nicht, wenn er trotz einzelner Fehler und Auslassungen eine geeignete Grundlage für die Durchführung des Musterverfahrens darstellt. Der Vorlagebeschluss vom ist eine geeignete Grundlage, weil er den Anforderungen des § 4 Abs. 2 KapMuG im Wesentlichen entspricht. Insbesondere gibt der Vorlagebeschluss ein Feststellungsziel (§ 4 Abs. 2 Nr. 1 KapMuG) sowie Streitpunkte (§ 4 Abs. 2 Nr. 2 KapMuG) an. Darüber hinaus bezeichnet er Beweismittel (§ 4 Abs. 2 Nr. 3 KapMuG) und enthält eine knappe Darstellung des wesentlichen Inhalts des erhobenen Anspruchs und der dazu vorgebrachten Angriffsmittel (§ 4 Abs. 2 Nr. 4 KapMuG). Es ist ohne weiteres erkennbar, dass die Unrichtigkeit der Ad-hoc-Mitteilung vom sowie die darauf bezogene Kenntnis der Beklagten zu 2 und 3 im Rahmen der Anspruchsprüfung nach § 826 BGB festgestellt werden sollen.

13d) Das Oberlandesgericht war nicht berechtigt, aufgrund der zutreffend festgestellten Mängel den Vorlagebeschluss aufzuheben. Der Vorlagebeschluss ist mangelhaft, weil er sich entgegen § 4 Abs. 2 Nr. 3 und 4 KapMuG nicht mit dem Vortrag der Beklagten und den dazu angetretenen Beweisen auseinandersetzt. Außerdem betrifft der den Gründen des Vorlagebeschlusses vorangestellte Klägervortrag offenkundig nicht die hiesigen Kläger und Rechtsbeschwerdeführer. Nach § 4 Abs. 2 Nr. 3 und 4 KapMuG hat der Vorlagebeschluss die bezeichneten Beweismittel und eine knappe Darstellung des wesentlichen Inhalts der erhobenen Ansprüche und der dazu vorgebrachten Angriffs- und Verteidigungsmittel zu enthalten. Diese Punkte sollen es dem Oberlandesgericht ermöglichen, das Musterverfahren vorzubereiten. Der Vorlagebeschluss dient insoweit der ersten Strukturierung, Ordnung und Aufbereitung des Streitstoffes. Die im Vorlagebeschluss enthaltenen Tatsachenmitteilungen und Beweismittel bilden aber nicht bereits den abschließenden Verfahrensstoff des Musterverfahrens. Dieser ergibt sich vielmehr aus dem Vortrag der Beteiligten des Musterverfahrens (KK-KapMuG/Vollkommer, § 4 Rn. 62, Rn. 73 f. sowie § 9 Rn. 95 f.; vgl. auch § 10 KapMuG). Fehler des Vorlagebeschlusses in diesem Bereich können daher während des Musterverfahrens behoben werden.

14IV. Die Sache ist an das Oberlandesgericht zurückzuverweisen, das auf der Grundlage des Vorlagebeschlusses das Musterverfahren durchzuführen hat.

15Gemäß § 6 KapMuG ist das Oberlandesgericht zunächst verpflichtet, den Vorlagebeschluss nach dessen Eingang im Klageregister öffentlich bekannt zu machen. Eine Verzögerung dieser Eintragung aufgrund von Mängeln des Vorlagebeschlusses sieht § 6 KapMuG nicht vor.

16Das Oberlandesgericht kann allerdings in dem Umfang, in dem eine Bindung an den Vorlagebeschluss nach dem oben Gesagten nicht besteht, den Musterfeststellungsantrag im Musterentscheid gegebenenfalls (teilweise) als unzulässig zurückweisen. Bloße etwaige sprachliche Ungenauigkeiten kann es im Musterentscheid durch Auslegung korrigieren (vgl. Hanisch, aaO, S. 303 f.).

Bergmann                                    Caliebe                                   Drescher

                           Born                                      Sunder

Fundstelle(n):
AG 2011 S. 748 Nr. 20
BB 2011 S. 2640 Nr. 43
DB 2011 S. 2254 Nr. 40
NJW 2011 S. 8 Nr. 41
ZIP 2011 S. 1790 Nr. 37
DAAAD-91434