BFH Beschluss v. - IX B 11/11

Prüfung der Prozessfähigkeit eines Beteiligten; Verletzung der Sachaufklärungspflicht

Gesetze: FGO § 58 Abs. 1, FGO § 76 Abs. 1, FGO § 96 Abs. 1, FGO § 115 Abs. 2 Nr. 1, FGO § 115 Abs. 2 Nr. 3, FGO § 116 Abs. 3 Satz 3, ZPO § 56 Abs. 1, ZPO § 160

Instanzenzug:

Gründe

1 Die Beschwerde hat keinen Erfolg. Es bleibt dahingestellt, ob ihre Begründung den Darlegungsanforderungen des § 116 Abs. 3 Satz 3 der Finanzgerichtsordnung (FGO) entspricht. Die geltend gemachten Zulassungsgründe sind jedenfalls nicht gegeben.

2 1. Die Rechtssache hat keine grundsätzliche Bedeutung i.S. von § 115 Abs. 2 Nr. 1 FGO. Auf die vom Kläger und Beschwerdeführer (Kläger) aufgeworfenen Rechtsfragen kommt es im Streitfall nicht an; auch hat das Finanzgericht (FG) die vom Kläger behaupteten Rechtssätze zu einer „bipolaren Persönlichkeitsstörung” bzw. zu einer „psychophysischen Erkrankung” nicht aufgestellt. Vielmehr hat das FG in der mündlichen Verhandlung am aufgrund des Gesamtergebnisses des Verfahrens einschließlich Beweisaufnahme die volle Überzeugung (§ 96 Abs. 1 Satz 1 FGO) gewonnen, dass der Kläger in der (ersten) mündlichen Verhandlung am verhandlungs- und prozessfähig gewesen war und so für die Streitjahre (1996, 1997) wirksame Erklärungen zur tatsächlichen Verständigung und zur Erledigung der Rechtsstreite hat abgeben können. Im Übrigen entscheidet nicht der Sachverständige oder Arzt (bzw. deren Gutachten) über die Rechtsfrage der Prozessfähigkeit abschließend, sondern das Gericht nach seiner freien Überzeugung in Würdigung des gesamten Prozessstoffes (im Wege des Freibeweises; vgl. , BFH/NV 2006, 94) und unter Berücksichtigung der allgemeinen Lebenserfahrung (vgl. , Buchholz 310 § 62 VwGO Nr. 20). Dabei sind in solchen Fällen gerade die besonderen Umstände des Einzelfalls —hier in der Person des Klägers (und seinem Verhalten)— zu berücksichtigen, die generell nicht grundsätzlich bedeutsam i.S. des § 115 Abs. 2 Nr. 1 FGO sind.

3 2. Die geltend gemachten Verfahrensfehler sind nicht gegeben.

4 a) Die Rüge der Verletzung der Sachaufklärungspflicht (§ 76 Abs. 1 FGO) durch das FG als (verzichtbaren) Verfahrensmangel i.S. des § 115 Abs. 2 Nr. 3 FGO in Gestalt der Nichteinholung eines (aktuellen?) Sachverständigen-Gutachtens greift nicht durch. Der in der (zweiten) mündlichen Verhandlung am anwaltlich vertretene Kläger hat eine solche Einholung zwar nicht beantragt, aber zumindest angeregt. Indes kam es darauf nach der maßgeblichen materiell-rechtlichen Auffassung des FG (vgl. BFH-Beschlüsse vom IX B 24/07, BFH/NV 2008, 92, unter 3.b; vom IX B 136/03, BFH/NV 2005, 43, m.w.N.) nicht an. Denn angesichts der vorgelegten Unterlagen, der Einvernahme des den Kläger behandelnden Arztes als (sachverständigen) Zeugen und dem tatsächlichen Verhalten des Klägers in der (ersten) mündlichen Verhandlung am war eine weitere Sachaufklärung durch Einholung eines —im Gegensatz zu den vorliegenden (zeitnahen) Unterlagen und Aussagen weniger aktuellen— Sachverständigen-Gutachtens für das FG nicht veranlasst und damit entbehrlich.

5 b) Auch der weitere geltend gemachte Verfahrensmangel (§ 115 Abs. 2 Nr. 3 FGO) der fehlenden Feststellung zur Prozessfähigkeit (§ 58 Abs. 1 FGO) des Klägers in der (ersten) mündlichen Verhandlung am ist nicht gegeben.

6 Nach § 58 Abs. 1 Nr. 1 FGO sind alle nach bürgerlichem Recht geschäftsfähigen Personen prozessfähig. Die Prozessfähigkeit eines Beteiligten ist als Sachentscheidungsvoraussetzung und zugleich Prozesshandlungsvoraussetzung in jeder Lage des Verfahrens von Amts wegen zu prüfen (§ 58 Abs. 2 Satz 2 FGO i.V.m. § 56 Abs. 1 der ZivilprozessordnungZPO—; vgl. BFH-Beschlüsse vom III B 22/99, BFH/NV 1999, 1628; in BFH/NV 2006, 94, m.w.N.).

7 Diese Prüfung war im Streitfall angesichts des Vorlaufs zur mündlichen Verhandlung am entbehrlich; einer ausdrücklichen Feststellung im Sitzungsprotokoll (vgl. § 94 FGO i.V.m. § 160 ZPO) bedurfte es daher nicht. Dabei kann dahinstehen, ob die beim Kläger „seit längerem bestehende bipolare Persönlichkeitsstörung” als gerichtsbekannte Tatsache anzusehen ist. Denn die bis zur (ersten) mündlichen Verhandlung am eingereichten ärztlichen Atteste haben jedenfalls zur Verhandlungs- und Prozessfähigkeit des Klägers (für den ) keine Aussage getroffen; darauf wurde der Kläger mit FG-Schreiben vom , also rechtzeitig vor der ersten mündlichen Verhandlung, hingewiesen. An diesem Status hatte sich auch bis zum Beginn dieser mündlichen Verhandlung und in dessen Verlauf nichts geändert.

8 Die entsprechende (Über-)Prüfung hat das FG, nachdem der Kläger die Unwirksamkeit seiner Erledigungserklärung geltend gemacht hatte, in der (zweiten) mündlichen Verhandlung am durchgeführt. Es ist aufgrund des Gesamtergebnisses des Verfahrens zu der Überzeugung und damit der positiven Feststellung gelangt, dass der Kläger in der (ersten) mündlichen Verhandlung am verhandlungs- und prozessfähig gewesen war und so für die Streitjahre (1996, 1997) wirksame Erklärungen zur tatsächlichen Verständigung und zur Erledigung der Rechtsstreite hat abgeben können (s. unter 1.). Diese Feststellung wäre auch revisionsrechtlich nicht zu beanstanden.

9 Im Übrigen ergeht der Beschluss gemäß § 116 Abs. 5 Satz 2 FGO ohne weitere Begründung.

Auf diese Entscheidung wird Bezug genommen in folgenden Gerichtsentscheidungen:




Fundstelle(n):
BFH/NV 2011 S. 1891 Nr. 11
YAAAD-90750