BFH Beschluss v. - III B 91/10

Voraussetzungen für das Vorliegen von höherer Gewalt i.S. des § 110 Abs. 3 AO sind geklärt; Anspruch auf rechtliches Gehör; Entscheidung über ein unzulässiges Befangenheitsgesuch

Gesetze: FGO § 76 Abs. 2, FGO § 96 Abs. 2, FGO § 115 Abs. 2 Nr. 1, FGO § 115 Abs. 2 Nr. 2, FGO § 119 Nr. 1, FGO § 119 Nr. 2, AO § 110 Abs. 3, GG Art. 103 Abs. 1, GG Art. 101 Abs. 1

Instanzenzug:

Gründe

1I. Der Kläger und Beschwerdeführer (Kläger) bezog für seine Tochter H, geboren am . 1984, laufend Kindergeld. Mit Bescheid vom hob die Beklagte und Beschwerdegegnerin (Familienkasse) die Kindergeldfestsetzung für H ab Januar 2004 auf. Für seine Tochter A, geboren am . 1985, erhielt der Kläger im Jahr 2005 zunächst kein Kindergeld.

2Im Dezember 2005 beantragte der Kläger für H und A Kindergeld. Daraufhin setzte die Familienkasse mit Bescheid vom für H und A ab Januar 2005 Kindergeld fest. Mit weiterem Bescheid vom setzte die Familienkasse für H zusätzlich Kindergeld für die Monate November und Dezember 2004 fest, lehnte aber eine rückwirkende Neufestsetzung für den Zeitraum von Januar bis Oktober 2004 wegen der Bestandskraft des Aufhebungsbescheides vom ab. Nach Aktenlage legte der Kläger gegen diesen —die Monate Januar bis Oktober 2004— betreffenden Ablehnungsbescheid zunächst keinen Einspruch ein.

3Mit Bescheid vom hob die Familienkasse die Kindergeldfestsetzung für H ab Januar 2006 auf. Auch hiergegen legte der Kläger nach Aktenlage zunächst keinen Einspruch ein.

4Anlässlich einer am zwischen dem Kläger und der Familienkasse geführten persönlichen Besprechung erklärte der Kläger am gleichen Tag mündlich zur Niederschrift Einsprüche gegen den die Monate Januar bis Oktober 2004 betreffenden Ablehnungsbescheid vom und den Aufhebungsbescheid vom . Der Kläger behauptete, dass er gegen die vorstehend genannten Bescheide jeweils fristgerecht Einspruch eingelegt habe. Die Einsprüche wurden mit Entscheidungen vom als unzulässig verworfen.

5Das Finanzgericht (FG) wies die hiergegen erhobenen —zur gemeinsamen Verhandlung und Entscheidung verbundenen— Klagen mit Urteil vom ab. Die Familienkasse habe in den Einspruchsentscheidungen zu Recht eine Wiedereinsetzung in die versäumten Einspruchsfristen abgelehnt, weil die gebotenen Rechtshandlungen außerhalb der Jahresfrist gemäß § 110 Abs. 3 der Abgabenordnung (AO) erfolgt seien. Im Streitfall liege kein Fall höherer Gewalt vor, weil der Kläger, auch wenn er —wie behauptet— die Einspruchsschreiben zur Post gegeben habe, sich spätestens einige Monate nach deren Aufgabe zur Post nach deren Eingang bei der Familienkasse hätte erkundigen müssen.

6Das Urteil wurde dem Kläger am zugestellt. Mit Schreiben vom stellte der Kläger ein Ablehnungsgesuch gegen den Vorsitzenden des FG wegen Besorgnis der Befangenheit. Mit Beschluss vom lehnte das FG den Antrag als unzulässig ab, weil die Instanz im Zeitpunkt des Gesuchs bereits beendet gewesen sei.

7Mit seiner Beschwerde wegen Nichtzulassung der Revision macht der Kläger die grundsätzliche Bedeutung der Rechtssache (§ 115 Abs. 2 Nr. 1 der FinanzgerichtsordnungFGO—), Verfahrensfehler (§ 115 Abs. 2 Nr. 3 FGO) und sinngemäß Divergenz (§ 115 Abs. 2 Nr. 2 Alt. 2 FGO) geltend.

8II. Die Beschwerde ist jedenfalls unbegründet und durch Beschluss zurückzuweisen (§ 116 Abs. 5 Satz 1 FGO).

91. Die Rechtssache hat keine grundsätzliche Bedeutung.

10a) Nach der Rechtsprechung des Bundesfinanzhofs (BFH) ist hinreichend geklärt, unter welchen Voraussetzungen höhere Gewalt i.S. des § 110 Abs. 3 AO vorliegt. Hierunter versteht man ein außergewöhnliches Ereignis, das unter den gegebenen Umständen auch durch die äußerste, nach Lage der Sache von dem Betroffenen zu erwartende und zumutbare Sorgfalt nicht abgewendet werden konnte (ständige Rechtsprechung, , BFH/NV 2010, 817, m.w.N.). Der Begriff der höheren Gewalt ist danach enger als der Begriff „ohne Verschulden” in § 110 Abs. 1 AO. Er erfasst jedoch nicht nur Ereignisse, die menschlicher Steuerung völlig entzogen sind (, BVerfGK 12, 303). Er entspricht inhaltlich den Naturereignissen oder anderen unabwendbaren Zufällen (vgl. BFH-Beschluss in BFH/NV 2010, 817; BVerfG-Beschluss in BVerfGK 12, 303).

11b) Danach kommt der vom Kläger bezeichneten Frage, ob „der Verlust einer Briefsendung auf dem Postwege” ein Fall höherer Gewalt i.S. des § 110 Abs. 3 AO ist, die behauptete grundsätzliche Bedeutung nicht zu. Wie auch die Rüge des Klägers zeigt, das FG habe zu Unrecht beim Kläger eine Erkundigungspflicht hinsichtlich des Eingangs der Einsprüche bei der Familienkasse bejaht, geht es vielmehr darum, ob das FG den Geschehensablauf im Einzelfall zutreffend als höhere Gewalt beurteilt hat. Diese Beurteilung reicht aber in ihrer Bedeutung über den konkreten Einzelfall nicht hinaus und vermag der Rechtssache keine grundsätzliche Bedeutung zu verleihen (, BFH/NV 2010, 2009).

122. Soweit der Kläger vorträgt, nach dem (BVerwGE 121, 10) sei der Verlust einer Briefsendung auf dem Postwege —entgegen der Auffassung des FG— als Fall höherer Gewalt im Sinne des Gemeinschaftsrechts und auch i.S. des § 110 Abs. 3 AO zu qualifizieren, liegt die hierdurch sinngemäß gerügte Divergenz nicht vor.

13a) Eine Divergenz i.S. von § 115 Abs. 2 Nr. 2 Alt. 2 FGO ist anzunehmen, wenn das FG mit einem das angegriffene Urteil tragenden und entscheidungserheblichen Rechtssatz von einem eben solchen Rechtssatz einer anderen Gerichtsentscheidung abgewichen ist. Das angefochtene Urteil und die vorgebliche Divergenzentscheidung müssen dabei dieselbe Rechtsfrage betreffen und zu gleichen oder vergleichbaren Sachverhalten ergangen sein (z.B. , BFH/NV 2011, 282).

14b) Es fehlt schon an der erforderlichen Abweichung des FG von einem tragenden Rechtssatz der vermeintlichen Divergenzentscheidung. Das BVerwG hat nicht entschieden, dass der Verlust einer Briefsendung auf dem Postweg stets als höhere Gewalt zu qualifizieren ist, sondern dass in solchen Fällen höhere Gewalt in Betracht kommt. Außerdem ist die Entscheidung des BVerwG nicht zu einem vergleichbaren Sachverhalt ergangen. Die Entscheidung des BVerwG betraf einen auf dem Postwege verloren gegangenen Beihilfeantrag und die sich hieraus ergebenden Auswirkungen auf eine materielle Frist. Im Streitfall geht es hingegen um zwei —wie vom Kläger behauptet— auf dem Postweg verloren gegangene, das außergerichtliche Rechtsbehelfsverfahren einleitende Schreiben und die sich hieraus ergebenden Folgen auf eine Verfahrensfrist.

153. Die geltend gemachten Verfahrensmängel i.S. des § 115 Abs. 2 Nr. 3 FGO sind ebenfalls nicht gegeben.

16a) Soweit gerügt wird, das FG habe gegenüber dem vertretenen Kläger die Hinweispflicht (§ 76 Abs. 2 FGO) und dadurch den Anspruch des Klägers auf rechtliches Gehör verletzt (Art. 103 Abs. 1 des GrundgesetzesGG—, § 96 Abs. 2 FGO), weil es nicht auf die Praxis der Familienkassen, bei eingelegten Rechtsbehelfen Zwischennachrichten zu erteilen, hingewiesen habe, liegt ein Verfahrensfehler nicht vor.

17Der richterliche Hinweis nach § 76 Abs. 2 FGO soll in erster Linie zur Gewährleistung eines fairen Verfahrens, zur Wahrung des Anspruchs auf rechtliches Gehör und zur Vermeidung von Überraschungsentscheidungen Schutz und Hilfestellung für die Beteiligten geben (vgl. , BFH/NV 2005, 1817, m.w.N.). Eine Überraschungsentscheidung liegt vor, wenn das Gericht seine Entscheidung auf einen bis dahin nicht erörterten rechtlichen oder tatsächlichen Gesichtspunkt stützt und damit dem Rechtsstreit eine Wendung gegeben hat, mit der auch ein gewissenhafter und kundiger Prozessbeteiligter selbst unter Berücksichtigung der Vielzahl vertretbarer Rechtsauffassungen nach dem bisherigen Verlauf des Verfahrens nicht rechnen musste (ständige Rechtsprechung, z.B. Senatsbeschluss vom III B 33/03, BFH/NV 2004, 534). Die richterliche Hinweispflicht i.S. des § 76 Abs. 2 FGO verlangt jedoch nicht, dass das Gericht die maßgeblichen Rechtsfragen mit den Beteiligten umfassend erörtert. Das Gericht ist grundsätzlich weder zu einem Rechtsgespräch noch zu einem Hinweis auf seine Rechtsauffassung verpflichtet. Vielmehr muss ein —fachkundig vertretener— Beteiligter gerade bei umstrittener Sach- und/oder Rechtslage grundsätzlich alle vertretbaren rechtlichen Gesichtspunkte von sich aus in Betracht ziehen und seinen Vortrag darauf einrichten (, BFH/NV 2010, 222).

18Nach diesen Grundsätzen hat das FG seine Hinweispflicht nicht verletzt. Der Berichterstatter hat den Kläger bereits mit Schreiben vom u.a. darauf hingewiesen, dass Umstände, die höhere Gewalt begründen könnten, nicht ersichtlich seien. Daneben ist ausweislich der Niederschrift über die mündliche Verhandlung vom mit den Beteiligten die Problematik der Jahresfrist nach § 110 Abs. 3 AO erörtert worden. Der vertretene Kläger hätte daher von sich aus mit Blick auf die Umstände des Einzelfalls seinen Sachvortrag auf den Gesichtspunkt einer ggf. bestehenden Erkundigungspflicht des Klägers einrichten müssen.

19b) Ebenso liegt kein Verstoß gegen das Verfahrensgrundrecht des gesetzlichen Richters (Art. 101 Abs. 1 Satz 2 GG, § 119 Nr. 1, Nr. 2 FGO) vor.

20Soweit der Kläger rügt, an der angefochtenen Entscheidung habe ein befangener Richter mitgewirkt, liegt kein Besetzungsmangel nach § 119 Nr. 1 FGO vor. Es bestehen keine Anhaltspunkte für eine willkürliche Zurückweisung des Ablehnungsgesuchs (vgl. dazu Lange in Hübschmann/Hepp/Spitaler —HHSp—, § 119 FGO Rz 110). Vielmehr ist der das Ablehnungsgesuch des Klägers zurückweisende Beschluss des FG nicht zu beanstanden.

21Einem Ablehnungsgesuch fehlt das Rechtsschutzbedürfnis, wenn es im abgeschlossenen Verfahren nach Beendigung der Instanz gestellt wird, sofern sich die Ablehnung —selbst wenn sie begründet wäre— nicht mehr auf die Sachentscheidung des Gerichts auswirken könnte (Gräber/Stapperfend, Finanzgerichtsordnung, 7. Aufl., § 51 Rz 29, m.w.N.; , nicht veröffentlicht —juris—). Vorliegend wurde der Befangenheitsantrag erst nach der Verkündung und Zustellung des Urteils an den Kläger gestellt; er konnte sich daher auf dieses nicht mehr auswirken. Das FG durfte deshalb über das danach unzulässige Befangenheitsgesuch in seiner geschäftsplanmäßigen Besetzung ohne vorangehende dienstliche Äußerung des abgelehnten Richters entscheiden (ständige Rechtsprechung, , BFH/NV 2007, 97, m.w.N.; Gräber/Stapperfend, a.a.O., § 51 Rz 71).

22Es liegt auch kein Verfahrensmangel nach § 119 Nr. 2 FGO vor, weil es jedenfalls an einem dem Ablehnungsgesuch des Klägers stattgebenden Beschluss des FG fehlt (Lange in HHSp, § 119 FGO Rz 160, m.w.N.).

234. Soweit der Kläger vorträgt, es sei möglich, dass die Einsprüche auch nach Eingang bei der Familienkasse verschwunden seien, ist hiermit schon kein Zulassungsgrund schlüssig dargelegt.

245. Von einer weiteren Begründung sieht der Senat nach § 116 Abs. 5 Satz 2 FGO ab.

Fundstelle(n):
QAAAD-89805