BFH Beschluss v. - VI B 147/10 BStBl 2011 II S. 556

Wirkungsloser Verzicht auf mündliche Verhandlung - Auslegung und Wirkung der Verzichtserklärung

Leitsatz

Ein vom Kläger erklärter Verzicht auf mündliche Verhandlung wird wirkungslos, wenn das FG gleichwohl eine mündliche Verhandlung anberaumt. Das FG darf danach nur dann ohne mündliche Verhandlung entscheiden, wenn die Beteiligten erneut darauf verzichten.

Gesetze: FGO §§ 90, 94a, 119 Nr. 3 und Nr. 4GG Art. 103 Abs. 1

Instanzenzug:

Gründe

I.

1Die Kläger und Beschwerdeführer (Kläger) wenden sich mit ihrer Beschwerde wegen Nichtzulassung der Revision gegen das Urteil des . Das FG hat in dem Verfahren die Klage, mit der die Kläger den Abzug von Unterhaltszahlungen in Höhe von 1.100 € nach § 33a Abs. 1 des Einkommensteuergesetzes begehrten, ohne mündliche Verhandlung abgewiesen.

2Dem Urteil vorangehend hatten die anwaltlich vertretenen Kläger (mit Schriftsatz vom ) und der Beklagte und Beschwerdegegner —das Finanzamt (FA)— (mit Schriftsatz vom ) auf die Durchführung einer mündlichen Verhandlung verzichtet. Gleichwohl hat das FG mit Verfügung vom einen Termin zur mündlichen Verhandlung für den anberaumt. Mit Schriftsatz vom beantragte der Prozessbevollmächtigte der Kläger wegen seines länger geplanten Jahresurlaubs die Verlegung der mündlichen Verhandlung. Mit Schreiben vom teilte das FG den Beteiligten mit, dass der Termin aufgehoben worden und die Ladung zu dem aufgehobenen Termin damit gegenstandlos sei.

3Mit ihrer Beschwerde wegen Nichtzulassung der Revision machen die Kläger im Wesentlichen geltend, dass das FG ohne mündliche Verhandlung entschieden habe. Die Voraussetzungen des § 90 Abs. 1 und Abs. 2 der Finanzgerichtsordnung (FGO) hätten nicht vorgelegen, so dass das FG den Anspruch der Kläger auf rechtliches Gehör verletzt habe. Das FA hat hierzu keine Stellungnahme abgegeben.

II.

4Die Beschwerde ist zulässig und nach § 115 Abs. 2 Nr. 3 FGO begründet. Sie führt zur Aufhebung des angefochtenen Urteils und zur Zurückverweisung der Sache zur erneuten Verhandlung und Entscheidung an das FG (§ 116 Abs. 6 FGO).

51. Die angegriffene Entscheidung verletzt den Anspruch der Kläger auf rechtliches Gehör (Art. 103 Abs. 1 des Grundgesetzes) und stellt eine Rechtsverletzung i.S. von § 119 Nr. 3 und Nr. 4 FGO dar.

6a) Nach ständiger Rechtsprechung des Bundesfinanzhofs (BFH) ist ein Verfahrensmangel im Sinne der vorgenannten Vorschrift u.a. dann anzunehmen, wenn die Voraussetzungen für eine Entscheidung des FG ohne mündliche Verhandlung nach § 90 Abs. 1 und Abs. 2 FGO nicht gegeben sind (vgl. , BFH/NV 1993, 372; vom X R 39/93, BFHE 178, 301, BStBl II 1995, 842, und vom VIII R 36/08, BFHE 231, 1, BStBl II 2011, 126; jeweils m.w.N.). Das Fehlen dieser Voraussetzungen haben die Kläger im Streitfall zu Recht geltend gemacht.

7Denn das FG konnte im Zeitpunkt seiner Entscheidung nicht mehr von einem Verzicht der Kläger auf mündliche Verhandlung auf der Grundlage ihres vorbehaltlos erklärten Einverständnisses vom ausgehen.

8Dieses Einverständnis hatte nämlich durch die Anberaumung der mündlichen Verhandlung seine prozessrechtliche Wirkung verloren. Eine Verzichtserklärung wird wirkungslos, wenn das Gericht selbst den Beteiligten gegenüber zum Ausdruck bringt, dass es eine Entscheidung ohne mündliche Verhandlung allein durch den früher erklärten Verzicht nicht mehr für hinreichend legitimiert ansieht. So verbraucht sich der erklärte Verzicht durch eine erneute Anfrage des Gerichts und deren Ablehnung durch die Beteiligten (, BFH/NV 1999, 1480) ebenso wie durch einen sich an einen früheren Verzicht anschließenden Auflagebeschluss (, BFH/NV 1987, 651) oder durch die Anberaumung eines Erörterungstermins unter Anordnung des persönlichen Erscheinens der Beteiligten (BFH-Urteil in BFHE 231, 1, BStBl II 2011, 126).

9Diese einschränkende Auslegung der Verzichtserklärung und die Beschränkung ihrer Wirkung bis zur nächsten eine Sachentscheidung vorbereitenden Entscheidung des FG —wie hier der Anberaumung einer mündlichen Verhandlung— ist aufgrund der besonderen Interessenlage der Beteiligten geboten (vgl. , BFHE 181, 115, BStBl II 1997, 77, und in BFHE 231, 1, BStBl II 2011, 126). Denn der Verzicht hat für die Beteiligten weitreichende Folgen, weil er als Prozesshandlung nach der Rechtsprechung des BFH nicht wegen Irrtums anfechtbar und auch nicht frei widerrufbar ist (vgl. , BFHE 90, 82, BStBl III 1967, 794; vom IV R 131/69, BFHE 101, 61, BStBl II 1971, 241; vom V R 161/72, BFHE 112, 316, BStBl II 1974, 532; , BFH/NV 1991, 402; für eine Zulässigkeit des Widerrufs bei wesentlicher Änderung der Prozesslage: , BFHE 160, 405, BStBl II 1990, 744).

10Danach ist die Einverständnis- oder Verzichtserklärung nur auf die nächste Sachentscheidung durch den Spruchkörper zu beziehen (vgl. BFH-Urteil in BFHE 181, 115, BStBl II 1997, 77; vgl. auch Stein/Jonas/Leipold, ZPO, 22. Aufl., § 128 Rz 60; Ortloff/Riese in Schoch/Schmidt-Aßmann/Pietzner, VwGO § 101 Rz 11; Rößler, Deutsche Steuer-Zeitung 1996, 190, 191). Für das weiter gehende Verfahren ist dann zum Schutz der Prozessbeteiligten entweder ein weiterer Verzicht auf die Durchführung der mündlichen Verhandlung einzuholen oder eine mündliche Verhandlung anzuberaumen (vgl. , BFH/NV 2005, 1068, m.w.N.; anderer Ansicht —kein Verbrauch des Verzichts— Schallmoser in Hübschmann/Hepp/ Spitaler, § 90 FGO Rz 64; Brandis in Tipke/Kruse, Abgabenordnung, Finanzgerichtsordnung, § 90 FGO Rz 11 ff.; Gräber/Koch, Finanzgerichtsordnung, 7. Aufl., § 90 Rz 15).

11Ist eine Verzichtserklärung nach den vorstehenden Maßstäben wirkungslos geworden, ist eine gleichwohl ohne mündliche Verhandlung ergehende Entscheidung als verfahrensfehlerhaft i.S. des § 119 Nr. 4 FGO aufzuheben (BFH-Urteil in BFHE 231, 1, BStBl II 2011, 126, m.w.N.).

12b) Im Übrigen weist der Senat darauf hin, dass im Streitfall die Voraussetzungen einer Entscheidung ohne mündliche Verhandlung nach § 94a FGO nicht vorgelegen haben. Nach Satz 2 dieser Vorschrift muss auch in den Fällen, in denen der Streitwert bei einer auf Geldleistung gerichteten Klage 500 € nicht übersteigt, auf Antrag eines Beteiligten mündlich verhandelt werden. Der Antrag kann sowohl ausdrücklich als auch konkludent gestellt werden (, BFHE 190, 17, BStBl II 2000, 32, m.w.N.). Hat ein Beteiligter —wie hier die Kläger— die Verlegung einer mündlichen Verhandlung beantragt, ist dies zugleich ein konkludenter Antrag auf Durchführung einer mündlichen Verhandlung (zu einem anderen Zeitpunkt).

132. Aufgrund des Verfahrensfehlers ist das angefochtene Urteil aufzuheben und die Sache an das FG zurückzuverweisen. Der Verfahrensfehler ist ein absoluter Revisionsgrund, bei dem gemäß § 119 Nr. 4 FGO davon auszugehen ist, dass das angefochtene Urteil auf der Verletzung von Bundesrecht beruht. Eine Sachentscheidung ist dem erkennenden Senat verwehrt (s. , BFHE 166, 415, BStBl II 1992, 425; vom VII R 17/96, BFH/NV 1997, 507; vom I R 127-129/97, BFH/NV 1999, 1464). Im Hinblick darauf kann der Senat dahinstehen lassen, ob die angefochtene Entscheidung im Übrigen verfahrensfehlerfrei ist.

Fundstelle(n):
BStBl 2011 II Seite 556
AO-StB 2011 S. 166 Nr. 6
BB 2011 S. 1110 Nr. 18
BFH/NV 2011 S. 1073 Nr. 6
BFH/PR 2011 S. 288 Nr. 7
BStBl II 2011 S. 556 Nr. 11
DB 2011 S. 1499 Nr. 26
DB 2011 S. 6 Nr. 17
DStR 2011 S. 10 Nr. 17
DStRE 2011 S. 780 Nr. 12
HFR 2011 S. 657 Nr. 6
NWB-EN Nr. 383/2011 (Wirkungsloser Verzicht auf mündliche Verhandlung)
StB 2011 S. 180 Nr. 6
StBW 2011 S. 454 Nr. 10
VAAAD-81734