BAG Urteil v. - 10 AZR 630/09

Tarifauslegung - tarifliche Jahresarbeitszeit - Arbeitsverhältnis mit dem Erfüllungsort in Berlin-Ost

Gesetze: § 1 TVG

Instanzenzug: Az: 18 Ca 16771/07 Urteilvorgehend LArbG Berlin-Brandenburg Az: 20 Sa 524/08 Urteil

Tatbestand

1Die Parteien streiten über den Umfang der vom Kläger zu leistenden tariflichen Jahresarbeitszeit.

2Der Kläger ist seit 1985 bei der Beklagten beschäftigt. Zum wurde er zur Einheit Infrastrukturdienste Berlin/Verpflegungsdienste versetzt. Diese gehört zur Organisationseinheit Siemens Real Estate Restaurant Services (SRE R & S), welche ihren Sitz in der N (Berlin-West) hat. Bereichsleitung und Personalverwaltung sind dort angesiedelt. Der Einheit sind neun Kantinen und Kasinos in Berlin-West und das Kasino T in Berlin-Ost zugeordnet.

3Der Kläger ist Mitglied der IG-Metall. Die ebenfalls tarifgebundene Beklagte wendete zunächst die Flächentarife der Metall- und Elektroindustrie an. Dabei galt in den alten Bundesländern und in Berlin-West eine wöchentliche Arbeitszeit von 35 Stunden und im Beitrittsgebiet eine wöchentliche Arbeitszeit von 38 Stunden. Die Manteltarifverträge für die Metall- und Elektroindustrie in Berlin und Brandenburg unterscheiden insoweit zwischen dem Tarifgebiet I (Berlin-West) und dem Tarifgebiet II (Brandenburg und Land Berlin mit Ausnahme der Stadtbezirke Berlin-West).

Zumindest seit 2005 gelten für die Organisationseinheit SRE R & S die Tarifvertragliche Sondervereinbarung vom idF vom (TvSV) sowie der Gemeinsame Manteltarifvertrag für Arbeitnehmer im Geltungsbereich der Tarifvertraglichen Sondervereinbarung vom idF vom (GMTV). Dieser verhält sich in § 2 über die regelmäßige Arbeitszeit wie folgt:

5Eine tarifliche Jahresarbeitszeit von 1.575 Stunden entspricht einer Wochenarbeitszeit von 35,8 Stunden, eine Jahresarbeitszeit von 1.672 Stunden einer solchen von 38 Stunden.

6Der Kläger wurde zunächst in Kantinen in Berlin-West beschäftigt. Vom bis zum wurde er als Gästekoch im Kasino T eingesetzt. Er war vom bis zum freigestelltes Betriebsratsmitglied. Zum erfolgte eine erneute Versetzung in ein Kasino in Berlin-West. Nachdem der Kläger dem Übergang seines Arbeitsverhältnisses auf einen anderen Arbeitgeber widersprochen hatte und zwischenzeitlich freigestellt worden war, wurde er seit dem als Springer in der Funktion eines Küchenmeisters am Standort Berlin beschäftigt und vertrat seit April 2007 einen Arbeitnehmer im Kasino T.

7Zum wurde der Kläger als Erstkoch dorthin versetzt. Der Kläger erklärte mit seiner Unterschrift auf dem Versetzungsschreiben sein Einverständnis hierzu. Mit einem weiteren Schreiben vom teilte die Beklagte dem Kläger sein zukünftiges Monatseinkommen sowie eine regelmäßige Jahresarbeitszeit von 1.672 Stunden mit. Dieses Schreiben unterzeichnete der Kläger mit dem Vermerk: „bis zur Klärung der tarifrechtlichen Situation bezgl. des Arbeitsstandortes (Ost-West-Berlin) unter Vorbehalt“.

8Die Beklagte beschäftigt in der Einheit SRE R & S ca. 90 Arbeitnehmer, davon sieben im Kasino T. Zwei Mitarbeiterinnen werden dort mit einer Jahresarbeitszeit von 1.672 Stunden beschäftigt. Mit zwei Mitarbeitern, denen zunächst auch eine Jahresarbeitszeit von 1.672 Stunden mitgeteilt worden war, einigte sich die Beklagte nach Klageerhebung auf eine Jahresarbeitszeit von 1.575 Stunden und mit einer weiteren Mitarbeiterin auf eine solche von 1.672 Stunden. Diese Mitarbeiterin ist inzwischen ausgeschieden. Ein Rechtsstreit über die im Kasino T zu leistende Jahresarbeitszeit ist noch anhängig.

9Der Kläger hat die Auffassung vertreten, nach § 2 GMTV betrage die tarifliche Jahresarbeitszeit auch am Standort E in Berlin-Ost 1.575 Stunden, weil der Begriff der „neuen Bundesländer“ Berlin-Ost nicht einbeziehe. Erfüllungsort seines Arbeitsverhältnisses sei der Sitz der SRE R & S in Berlin-West. Mit der Heranziehung zu einer Jahresarbeitszeit von 1.672 Stunden verstoße die Beklagte gegen den Gleichbehandlungsgrundsatz.

Der Kläger hat zuletzt beantragt

11Die Beklagte hat beantragt, die Klage abzuweisen, und die Auffassung vertreten, nach der Versetzung des Klägers in das Tarifgebiet II gelte tariflich eine Jahresarbeitszeit von 1.672 Stunden.

Die Vorinstanzen haben die Klage abgewiesen. Mit der vom Landesarbeitsgericht zugelassenen Revision verfolgt der Kläger sein Klageziel weiter.

Gründe

13I. Die Revision ist unbegründet. Die Vorinstanzen haben die Klage zu Recht abgewiesen. Für den Kläger gilt nach der Protokollnotiz zu § 2 Ziff. 1 Abs. 1 GMTV seit dem eine tarifliche Jahresarbeitszeit von 1.672 Stunden.

141. Der Arbeitsvertrag des Klägers verweist auf die einschlägigen tariflichen Bestimmungen und sieht zugunsten des Klägers keine vom GMTV abweichende günstigere Regelung der Arbeitszeit vor. Die Parteien haben keine Beschränkung des Arbeitsorts auf Berlin-West vereinbart. Sein erklärter Vorbehalt bezieht sich auf die Prüfung, welche tarifliche Jahresarbeitszeit an seinem neuen Arbeitsort gilt.

152. Nach der gemäß § 3 Abs. 1, § 4 Abs. 1 Satz 1 TVG anwendbaren Protokollnotiz zu § 2 Ziff. 1 Abs. 1 GMTV beträgt die tarifliche Jahresarbeitszeit ohne Urlaub und Feiertage für Arbeitnehmer, bei denen der Sitz des Arbeitsverhältnisses (Erfüllungsort) in den neuen Bundesländern liegt, 1.672 Stunden.

16a) Die Protokollnotiz zu § 2 Ziff. 1 Abs. 1 GMTV enthält eine tarifliche Regelung.

17aa) Protokollnotizen können eigenständiger Teil eines Tarifvertrags sein. Entscheidend ist, ob sie dem Formerfordernis eines Tarifvertrags nach § 1 Abs. 2 TVG entsprechen ( - zu II 1 b aa der Gründe, BAGE 97, 263). Ihre tarifliche Wirksamkeit kann sich auch daraus ergeben, dass sie in den Tariftext selbst aufgenommen werden ( - Rn. 32, BAGE 124, 110).

18bb) Die Protokollnotiz regelt die tarifliche Jahresarbeitszeit in dem bezeichneten Tarifgebiet. Sie enthält eine Inhaltsnorm und begründet eine schuldrechtliche Verpflichtung der Tarifvertragsparteien zur Aufnahme von Verhandlungen für den Fall, dass in den „dort geltenden“ Tarifverträgen der Metall- und Elektroindustrie Änderungen vereinbart werden. Da in den Tarifgebieten, in denen vorher die 38-Stunden-Woche galt, nach den vom Landesarbeitsgericht eingeholten Tarifauskünften keine Veränderungen vereinbart werden sollten, bedurfte es einer tariflichen Festschreibung der längeren Jahresarbeitszeit, weil sonst nach § 2 Ziff. 1 Abs. 1 GMTV flächendeckend die dort bestimmte kürzere Jahresarbeitszeit gegolten hätte.

19cc) Der Kläger macht erstmalig in der Revisionsinstanz geltend, die Protokollnotiz sei nicht von beiden Tarifvertragsparteien unterzeichnet worden. Es bedarf jedoch keiner gesonderten Unterzeichnung der Protokollnotiz. Dass diese von den Unterschriften unter dem Tarifvertrag nicht umfasst ist, legt der Kläger nicht dar.

20b) Für Arbeitsverhältnisse mit einem Erfüllungsort in Berlin-Ost gilt die in der Protokollnotiz bestimmte Jahresarbeitszeit. Soweit dort auf die neuen Bundesländer Bezug genommen wird, schließt dies Berlin-Ost mit ein. Dies ergibt die Auslegung der Protokollnotiz.

21aa) Der Wortlaut „neue Bundesländer“ ist nicht eindeutig. Er kann so verstanden werden, dass damit nur die in Art. 1 Abs. 1 des Einigungsvertrags genannten Länder Brandenburg, Mecklenburg-Vorpommern, Sachsen, Sachsen-Anhalt und Thüringen gemeint sind, die als neue Länder zur Bundesrepublik Deutschland hinzugekommen sind, während die 23 Ost- und Westbezirke von Berlin nach Art. 1 Abs. 2 des Einigungsvertrags das rechtlich bereits existierende und damit nicht „neue“ Land Berlin gebildet haben. Denkbar ist aber auch ein Verständnis des Begriffs „neue Bundesländer“ iSv. „Beitrittsgebiet“. Nach dem Tarifwortlaut ist nicht von „fünf“ neuen Bundesländern die Rede, vielmehr wird eine Zahl nicht genannt.

22bb) Der tarifliche Gesamtzusammenhang zeigt, dass § 2 Ziff. 1 Abs. 1 GMTV nur zwischen den Gebieten mit einer tariflichen 35-Stunden-Woche und solchen mit einer tariflichen 38-Stunden-Woche unterscheiden wollte. § 2 Ziff. 1 Abs. 1 GMTV regelt eine Erhöhung der Jahresarbeitszeit gegenüber den Flächentarifverträgen in den alten Bundesländern. Dies entspricht der Präambel zur TvSV, wonach die Regelungen der Sicherung der Wettbewerbsfähigkeit der unterfallenden Unternehmen und Unternehmensteile und damit dem Erhalt der Arbeitsplätze dienen sollen. Einer Erhöhung der Jahresarbeitszeit bedurfte es in den Tarifgebieten nicht, wo bereits längere tarifliche Arbeitszeiten galten. Dies war in den „neuen Bundesländern“ einschließlich Berlin-Ost im Tarifgebiet II der Metall- und Elektroindustrie in Berlin und Brandenburg der Fall. Es ist fernliegend, dass vor dem Hintergrund der in der Präambel vereinbarten Zielsetzung für Berlin-Ost die Jahresarbeitszeit gesenkt werden sollte.

23cc) Die Systematik der Bestimmung bestätigt diese Auslegung. Die Protokollnotiz zu § 2 Ziff. 1 Abs. 1 GMTV verweist in Satz 2 auf die in Satz 1 geregelte tarifliche Jahresarbeitszeit und die „dort geltenden Tarifverträge“ und normiert eine Pflicht zur Aufnahme von Verhandlungen, wenn in diesen Tarifverträgen Änderungen vereinbart werden. Auch daraus folgt, dass die Protokollnotiz an die unterschiedliche Tarifsituation bezüglich des Umfangs der Arbeitszeit und nicht an bestimmte Landesgrenzen anknüpfen wollte. Mit den „neuen Bundesländern“ bezeichnet die Protokollnotiz deshalb die neu hinzugetretenen Tarifgebiete, in denen ansonsten tariflich die 38-Stunden-Woche galt.

24dd) Im Hinblick darauf bestehen entgegen der Auffassung der Revision keine Anhaltspunkte für eine Tariflücke in Bezug auf Berlin-Ost. Das Tarifgebiet II der Tarifverträge für die Metall- und Elektroindustrie für Berlin und Brandenburg bezieht Berlin-Ost ein. Deshalb gilt dort nach der Protokollnotiz zu § 2 Ziff. 1 Abs. 1 GMTV eine tarifliche Jahresarbeitszeit von 1.672 Stunden.

25c) Der Sitz des Arbeitsverhältnisses (Erfüllungsort) des Klägers iSd. Protokollnotiz zu § 2 Ziff. 1 Abs. 1 GMTV liegt seit dem in T in Berlin-Ost.

26aa) Nach dem Wortlaut der Protokollnotiz stellt der Tarifvertrag nicht auf das Unternehmen, die Organisationseinheit oder den Betrieb ab, sondern auf den Ort, an dem die vertraglichen Verpflichtungen zu erfüllen sind.

27bb) Der Ort der Arbeitsleistung ergibt sich regelmäßig aus dem Arbeitsvertrag. Ist dies nicht der Fall, bestimmt sich der Erfüllungsort nach § 269 BGB auch bei Arbeitsverhältnissen nach den Umständen des Einzelfalls und der Natur des Arbeitsverhältnisses ( - AP TVG § 1 Tarifverträge: Großhandel Nr. 5; ErfK/Preis 11. Aufl. § 611 BGB Rn. 650). Regelmäßig ist von einem einheitlichen gemeinsamen Erfüllungsort auszugehen. Dies ist der Ort, an dem der Arbeitnehmer seine Arbeitsleistung zu erbringen hat ( - zu I 2 c aa der Gründe, AP ZPO § 38 Internationale Zuständigkeit Nr. 18 = EzA ZPO 2002 § 29 Nr. 1).

28cc) Der Kläger ist zum nach T versetzt worden. Er ist dort nicht mehr - wie zuvor - nur als Springer tätig, sondern hat dauerhaft seine Arbeitsleistung in einem Gebiet zu erbringen, in dem die tarifliche Jahresarbeitszeit von 1.672 Stunden gilt.

29dd) Soweit die Revision geltend macht, der Betriebsrat habe der Versetzung des Klägers nur mit der Maßgabe zugestimmt, dass die Arbeitszeit nicht verändert wird, ergibt sich daraus nicht, dass die Versetzung unwirksam ist und der Erfüllungsort nach wie vor in Berlin-West liegt. Eine Zustimmung unter Bedingungen sieht § 99 BetrVG nicht vor. Eine Zustimmungsverweigerung unter Angabe von Gründen des § 99 Abs. 2 BetrVG legt der Kläger nicht dar.

303. Ein Anspruch auf Beschäftigung mit einer tariflichen Jahresarbeitszeit von 1.575 Stunden ergibt sich nicht wegen einer Verletzung des Gleichbehandlungsgrundsatzes.

31a) Der Gleichbehandlungsgrundsatz gebietet dem Arbeitgeber, seine Arbeitnehmer oder Gruppen von Arbeitnehmern, die sich in vergleichbarer Lage befinden, bei Anwendung einer selbstgesetzten Regel gleichzubehandeln. Damit verbietet er nicht nur die willkürliche Schlechterstellung einzelner Arbeitnehmer innerhalb der Gruppe, sondern auch eine sachfremde Gruppenbildung. Im Bereich der Arbeitsvergütung ist der Gleichbehandlungsgrundsatz trotz des Vorrangs der Vertragsfreiheit anwendbar, wenn Arbeitsentgelte durch eine bestimmte betriebliche Einheitsregelung generell angehoben werden und der Arbeitgeber die Leistung nach einem bestimmten erkennbaren und generalisierenden Prinzip gewährt, indem er bestimmte Voraussetzungen oder Zwecke festlegt (st. Rspr., zuletzt  - Rn. 14, AP BGB § 242 Gleichbehandlung Nr. 211 = EzA BGB 2002 § 242 Gleichbehandlung Nr. 22). Sofern der Arbeitgeber durch eine betriebliche Einheitsregelung abweichend vom Tarifvertrag eine kürzere Arbeitszeit festlegt, verbietet der Gleichbehandlungsgrundsatz auch insoweit eine willkürliche Schlechterstellung einzelner Arbeitnehmer und eine sachfremde Gruppenbildung.

32b) Die Feststellungen des Landesarbeitsgerichts lassen keinen Schluss auf eine vom GMTV abweichende Regelung der Beklagten in Bezug auf den Umfang der im Kasino T zu leistenden Arbeitszeit zu. Eine solche Regelung hat der insoweit darlegungs- und beweispflichtige Kläger nicht dargetan. Dagegen sprechen auch die zur Frage des Umfangs der Arbeitszeit im Kasino T geführten Rechtsstreite und die dort tatsächlich in unterschiedlicher Höhe geleisteten Arbeitszeiten. Dies lässt eher den Schluss zu, dass die Beklagte die in Berlin-Ost geltenden tariflichen Bestimmungen zur Jahresarbeitszeit grundsätzlich anwenden will. Ein Verstoß gegen den Gleichbehandlungsgrundsatz liegt deshalb nicht vor.

334. Soweit der Kläger erstmalig mit der Revision einen Verstoß gegen das Maßregelungsverbot des § 612a BGB geltend macht und behauptet, die Erhöhung der Jahresarbeitszeit sei aus Verärgerung über den Widerspruch gegen den Übergang seines Arbeitsverhältnisses erfolgt, liegt darin in der Revisionsinstanz unzulässiger neuer Sachvortrag. Deshalb bedarf es keiner Entscheidung, ob die Berufung auf die tarifliche Arbeitszeit seitens der Beklagten eine Maßnahme iSd. § 612a BGB darstellt. Es steht auch nicht fest, dass die zulässige Ausübung des Widerspruchsrechts der tragende Grund, dh. das wesentliche Motiv für die Erhöhung der Jahresarbeitszeit durch die Beklagte war. Es reicht nicht aus, dass die Rechtsausübung nur den äußeren Anlass für die Maßnahme bietet (st. Rspr., zuletzt  - Rn. 28, AP BGB § 242 Gleichbehandlung Nr. 211 = EzA BGB 2002 § 242 Gleichbehandlung Nr. 22).

II. Der Kläger hat nach § 97 Abs. 1 ZPO die Kosten der Revision zu tragen.

Auf diese Entscheidung wird Bezug genommen in folgenden Gerichtsentscheidungen:


Fundstelle(n):
IAAAD-57888