BAG Urteil v. - 3 AZR 489/08

Tarifvertragsauslegung - Kapitalabfindung nach Tarifvertrag

Gesetze: § 1 TVG

Instanzenzug: ArbG Frankfurt Az: 5 Ca 2016/07 Urteilvorgehend Hessisches Landesarbeitsgericht Az: 17 Sa 1469/07 Teilurteil

Tatbestand

1Die Parteien streiten im Wege der Stufenklage darüber, ob die Beklagte verpflichtet ist, an die Klägerin eine tarifliche Kapitalabfindung zu zahlen und in diesem Zusammenhang darüber, ob die Klägerin „unfreiwillig“ iSd. Tarifvertrages Übergangsversorgung für das Cockpitpersonal der Lufthansa Cargo AG mit Einstellungsdatum vor dem vom (im Folgenden: TV ÜV) aus dem Arbeitsverhältnis mit der Beklagten ausgeschieden ist.

Die am geborene Klägerin war seit dem als Flugzeugführerin bei der Beklagten und deren Rechtsvorgängerin beschäftigt. Auf das Arbeitsverhältnis fand aufgrund arbeitsvertraglicher Vereinbarung der TV ÜV Anwendung. In diesem heißt es auszugsweise:

3Die Beklagte kündigte das mit der Klägerin bestehende Arbeitsverhältnis zunächst mit Schreiben vom außerordentlich. Im Rahmen des von der Klägerin gegen diese Kündigung angestrengten Kündigungsschutzprozesses stellte das Arbeitsgericht Darmstadt mit rechtskräftigem Teilurteil vom (- 1 Ca 275/03 -) fest, dass das Arbeitsverhältnis durch die Kündigung nicht beendet wurde. Bereits zuvor hatte die Beklagte mit Schreiben vom gegenüber der Klägerin eine ordentliche krankheitsbedingte Kündigung zum ausgesprochen. Die hiergegen gerichtete Kündigungsschutzklage wurde vom Arbeitsgericht Darmstadt mit Urteil vom (- 1 Ca 302/03 -) abgewiesen. Mit Urteil vom (- 17 Sa 2017/05 -) gab ihr das Hessische Landesarbeitsgericht auf die Berufung der Klägerin hin statt.

Im Anschluss daran kam die Prozessbevollmächtigte der Klägerin mit Schreiben vom gegenüber der Beklagten auf die Möglichkeit einer vergleichsweisen Regelung zurück und führte ua. aus:

Mit Schreiben vom sprach die Beklagte gegenüber der Klägerin sodann eine weitere Kündigung aus. In dem um diese Kündigung vor dem Arbeitsgericht Frankfurt am Main geführten „Rechtsstreit“ (- 5 Ca 6113/06 -) schlossen die Parteien am - innerhalb der Frist zur Einlegung einer Nichtzulassungsbeschwerde gegen das Urteil des Hessischen Landesarbeitsgerichts vom (- 17 Sa 2017/05 -) - einen Vergleich, in dem es auszugsweise heißt:

6Die Klägerin hat die Auffassung vertreten, sie habe Anspruch auf eine Kapitalabfindung, denn sie sei „unfreiwillig“ iSv. § 4 Abs. 1 TV ÜV ausgeschieden. Ausweislich des Vergleichs sei das Arbeitsverhältnis aufgrund arbeitgeberseitiger krankheitsbedingter Kündigung beendet worden. Nur hierauf komme es an.

Die Klägerin hat zuletzt sinngemäß beantragt,

8Die Beklagte hat Klageabweisung beantragt und die Ansicht vertreten, die Klägerin sei aufgrund einvernehmlicher Festlegung im Vergleichswege freiwillig ausgeschieden. Bei Abschluss des Vergleichs habe die Unwirksamkeit der Kündigung vom „mehr oder minder“ festgestanden.

Das Arbeitsgericht hat die Stufenklage insgesamt abgewiesen. Das Landesarbeitsgericht hat der Klage durch Teilurteil hinsichtlich des Auskunftsantrags (erste Stufe) stattgegeben. Mit ihrer vom Senat zugelassenen Revision begehrt die Beklagte die Wiederherstellung des erstinstanzlichen Urteils. Die Klägerin beantragt die Zurückweisung der Revision.

Gründe

10Die Revision der Beklagten ist begründet. Das Landesarbeitsgericht hat der Stufenklage mit dem Auskunftsantrag zu Unrecht stattgegeben. Die Klägerin hat keinen Anspruch auf eine Kapitalabfindung nach § 4 Abs. 1 TV ÜV und deshalb auch keinen Anspruch auf die begehrte Auskunft. Damit ist das die Klage insgesamt abweisende Urteil des Arbeitsgerichts wiederherzustellen (zur Befugnis des Rechtsmittelgerichts zur vollumfänglichen Abweisung einer Stufenklage nach vorinstanzlichem Teilurteil vgl.  IVa ZR 138/83 - zu IV 3 der Gründe, BGHZ 94, 268; - IVb ZR 22/89 - zu 1 a der Gründe, NJW-RR 1990, 390).

11I. Die Klägerin hat keinen Anspruch auf eine Kapitalabfindung nach dem als Anspruchsgrundlage allein in Betracht kommenden § 4 Abs. 1 TV ÜV. Das zwischen den Parteien bestehende Arbeitsverhältnis wurde nicht „unfreiwillig“ iSd. Tarifbestimmung beendet. Entgegen der Auffassung des Landesarbeitsgerichts ist bei dem Tatbestandsmerkmal „unfreiwillig“ nicht auf den formalen Beendigungstatbestand abzustellen, sondern darauf, ob das Ausscheiden des Arbeitnehmers nicht aufgrund eines freien, nicht fremdbestimmten Willensentschlusses von diesem selbst (mit-)herbeigeführt wurde. Dies ergibt die Auslegung des Tarifvertrages, die vom Revisionsgericht uneingeschränkt selbst vorgenommen werden kann (vgl.  - Rn. 24, BAGE 118, 232).

121. Nach ständiger Rechtsprechung des Bundesarbeitsgerichts folgt die Auslegung des normativen Teils eines Tarifvertrages den für die Auslegung von Gesetzen geltenden Regeln. Dabei ist zunächst vom Tarifwortlaut auszugehen, wobei der maßgebliche Sinn der Erklärung zu erforschen ist, ohne am Buchstaben zu haften. Bei einem nicht eindeutigen Tarifwortlaut ist der wirkliche Wille der Tarifvertragsparteien mit zu berücksichtigen, soweit er in den tariflichen Normen seinen Niederschlag gefunden hat. Abzustellen ist stets auf den tariflichen Gesamtzusammenhang, weil dieser Anhaltspunkte für den wirklichen Willen der Tarifvertragsparteien liefert und so Sinn und Zweck der Tarifnorm zutreffend ermittelt werden können. Lässt dies zweifelsfreie Auslegungsergebnisse nicht zu, können die Gerichte für Arbeitssachen ohne Bindung an eine Reihenfolge weitere Kriterien wie die Entstehungsgeschichte des Tarifvertrages, ggf. auch die praktische Tarifübung ergänzend heranziehen. Auch die Praktikabilität denkbarer Auslegungsergebnisse ist zu berücksichtigen; im Zweifel gebührt derjenigen Tarifauslegung der Vorzug, die zu einer vernünftigen, sachgerechten, zweckorientierten und praktisch brauchbaren Regelung führt (vgl. - 3 AZR 189/07 - Rn. 16, AP TVG § 1 Tarifverträge: Lufthansa Nr. 43).

132. Das Landesarbeitsgericht hat angenommen, für die Frage der „Freiwilligkeit“ oder „Unfreiwilligkeit“ iSd. § 4 Abs. 1 TV ÜV sei ausschließlich nach den formalen Beendigungstatbeständen zu differenzieren: Während Fristablauf, Bedingungseintritt und eine wirksame arbeitgeberseitige Kündigung das Arbeitsverhältnis für den Arbeitnehmer stets unfreiwillig beendeten, beruhten Aufhebungsverträge auf übereinstimmenden Willenserklärungen beider Vertragsparteien, damit auf der Privatautonomie auch des Arbeitnehmers und führten deshalb nicht zu einer unfreiwilligen, sondern freiwilligen Beendigung des Arbeitsverhältnisses. Im vorliegenden Fall sei das Arbeitsverhältnis aufgrund der ordentlichen krankheitsbedingten Kündigung der Beklagten vom beendet worden. Der Vergleich vom sei nicht als Aufhebungsvertrag, sondern als Abwicklungsvereinbarung zu qualifizieren, die lediglich die Bedingungen des Ausscheidens infolge der von der Beklagten ausgesprochenen Kündigung regle.

143. Die Auslegung des § 4 Abs. 1 TV ÜV durch das Landesarbeitsgericht hält einer revisionsgerichtlichen Überprüfung nicht stand. Entgegen der Rechtsauffassung des Berufungsgerichts ist nicht ausschließlich nach den formalen Beendigungstatbeständen zu differenzieren. Es kommt vielmehr entscheidend darauf an, ob die Beendigung des Arbeitsverhältnisses (auch) dem Willen des Arbeitnehmers entspricht und inwieweit er selbst hieran mitgewirkt hat. Dies erfordert eine Bewertung der konkreten Umstände im Einzelfall.

15a) § 4 Abs. 1 TV ÜV stellt nach seinem Wortlaut nicht auf bestimmte formale Beendigungstatbestände ab, obwohl dies unschwer möglich wäre, sondern verlangt die für den Arbeitnehmer „unfreiwillige“ Beendigung des Arbeitsverhältnisses. Unter „freiwillig“ ist nach allgemeinem Sprachgebrauch „ungezwungen“, „von selbst“ bzw. „aus eigenem Antrieb“ zu verstehen (Brockhaus/Wahrig Deutsches Wörterbuch Bd. 2 1981 S. 848). Demgegenüber bezeichnet „unfreiwillig“ „nicht freiwillig“, „gezwungen“, „gegen den eigenen Willen“ bzw. „ohne Absicht“ oder „nicht gewollt“ (Brockhaus/Wahrig Deutsches Wörterbuch Bd. 6 1984 S. 394). Danach kommt es darauf an, ob die Beendigung vom Arbeitnehmer selbstbestimmt aus eigenem Antrieb oder fremdbestimmt und von ihm nicht gewollt, also gegen seinen Willen, erfolgt.

16Auch § 4 Abs. 2 TV ÜV, wonach jeglicher Anspruch entfällt, wenn das Ausscheiden unter den Voraussetzungen eines wichtigen Grundes erfolgt, der eine außerordentliche Kündigung rechtfertigen würde und eine grobe Verletzung der Treuepflicht aus dem Arbeitsverhältnis darstellt, knüpft nicht an einen formalen Beendigungstatbestand - hier: außerordentliche arbeitgeberseitige Kündigung - an, sondern an das Vorliegen der Voraussetzungen ua. des § 626 Abs. 1 BGB. Damit erfasst die Vorschrift vor allem die Fälle, in denen die Arbeitsvertragsparteien den - berechtigten - Ausspruch einer außerordentlichen Kündigung „vermeiden“ und sich zu dem Zweck über eine Beendigung des Arbeitsverhältnisses verständigen. Hieraus folgt, dass auch ein Ausscheiden aufgrund eines Aufhebungsvertrages unfreiwillig iSd. § 4 Abs. 1 TV ÜV sein kann.

17b) Auch aus dem tariflichen Gesamtzusammenhang, der inneren Systematik des § 4 TV ÜV und dem Sinn und Zweck der Tarifbestimmung ergibt sich, dass dafür, ob das Arbeitsverhältnis „unfreiwillig“ iSv. § 4 Abs. 1 TV ÜV beendet wurde, entscheidend ist, ob die Beendigung des Arbeitsverhältnisses (auch) dem Willen des Arbeitnehmers entspricht und inwieweit er selbst hieran mitgewirkt hat.

18aa) Für diese Auslegung sprechen zunächst systematische Erwägungen. Nach § 1 Abs. 1 TV ÜV hat der Mitarbeiter Anspruch auf Zahlung einer Rente, wenn er wegen Erreichens der tarifvertraglichen Altersgrenze aus dem Arbeitsverhältnis ausscheidet und zehn Dienstjahre vollendet hat. Nach § 3 TV ÜV werden dem Mitarbeiter für den Fall, dass das Arbeitsverhältnis deshalb vorzeitig endet, weil er iSv. § 20 Abs. 1 a) oder b) MTV Cockpit LCAG dauernd flugdienstuntauglich geworden ist, Flugdienstuntauglichkeitsleistungen nach Maßgabe des § 3 a) gewährt. Diesen beiden Tatbeständen ist gemeinsam, dass das Ausscheiden nicht aufgrund eines freien Willensentschlusses des Arbeitnehmers von diesem selbst herbeigeführt wird, sondern auf von seinem Zutun und seinem Willen unabhängigen Umständen beruht. Dies ist auch für die Auslegung des Tatbestandsmerkmals „unfreiwillig“ in § 4 Abs. 1 TV ÜV von Bedeutung. § 4 Abs. 1 TV ÜV wertet die vorzeitige Beendigung des Arbeitsverhältnisses wegen dauernder Flugdienstuntauglichkeit selbst als einen Fall der unfreiwilligen Beendigung des Arbeitsverhältnisses.

19bb) Auch nach Sinn und Zweck des TV ÜV kommt es entscheidend darauf an, ob die Beendigung des Arbeitsverhältnisses vom Arbeitnehmer selbstbestimmt aus eigenem Antrieb oder fremdbestimmt und von ihm nicht gewollt, also gegen seinen Willen, erfolgt. Durch die Übergangsversorgung bei Ausscheiden wegen Erreichens der Altersgrenze und wegen Flugdienstuntauglichkeit wird - zumindest auch - die Betriebstreue des Arbeitnehmers belohnt, der bis zum Ende seiner fliegerischen Tätigkeit bei der Beklagten tätig ist. Dementsprechend sollen nach § 4 Abs. 1 TV ÜV nur diejenigen Arbeitnehmer eine Leistung erhalten, die die erforderliche Betriebstreue nicht erbringen können, obgleich sie dies wollen. Daraus folgt, dass Arbeitnehmer, die aus eigenem Antrieb die Beendigung des Arbeitsverhältnisses herbeiführen oder aus eigenem Willensentschluss hieran maßgeblich mitwirken, von Ansprüchen nach dem TV ÜV ausgeschlossen sind.

20cc) Dies wird durch § 4 Abs. 2 TV ÜV bestätigt. Nach dieser Regelung „entfällt“ jeglicher Anspruch, wenn das Ausscheiden aus einem wichtigen Grund erfolgt, der eine außerordentliche Kündigung rechtfertigen würde und eine grobe Verletzung der Treuepflicht aus dem Arbeitsverhältnis vorliegt. Damit geht auch diese Tarifbestimmung davon aus, dass die Beendigung des Arbeitsverhältnisses unter den dort genannten Voraussetzungen unfreiwillig erfolgt und schließt den daraus an sich resultierenden Anspruch aus.

21c) Danach erfolgt die Beendigung des Arbeitsverhältnisses aufgrund einer vom Arbeitnehmer nicht angegriffenen arbeitgeberseitigen Kündigung zwar idR „unfreiwillig“ iSd. Tarifbestimmung. Ausnahmsweise kann aber auch hier von einer freiwilligen Beendigung auszugehen sein. Dies kann etwa dann in Betracht kommen, wenn der Arbeitnehmer den Arbeitgeber zu einer Kündigung aufgefordert hat. Andererseits dürfte ein Aufhebungsvertrag idR zu einer „freiwilligen“ Beendigung des Arbeitsverhältnisses führen. Aber auch hier sind Ausnahmen denkbar, so zB wenn der Arbeitnehmer den Aufhebungsvertrag schließt, um einer anderenfalls drohenden Kündigung zuvorzukommen. Erfolgt die Beendigung des Arbeitsverhältnisses im Rahmen eines Vergleichs oder schließen die Parteien eine Abwicklungsvereinbarung, kommt es ebenfalls darauf an, ob die Beendigung des Arbeitsverhältnisses (auch) dem selbstbestimmten Willen des Arbeitnehmers entspricht und inwieweit er selbst hieran mitgewirkt hat.

224. In Anwendung dieser Grundsätze ist die Klägerin nicht „unfreiwillig“ iSd. § 4 Abs. 1 TV ÜV ausgeschieden.

23Zwar hat die Beklagte der Klägerin mit Schreiben vom eine ordentliche krankheitsbedingte Kündigung erklärt. Auch haben die Parteien sich am vor dem Arbeitsgericht Frankfurt am Main in dem Verfahren - 5 Ca 6113/06 - darauf verständigt, dass das zwischen ihnen bestehende Arbeitsverhältnis aufgrund dieser Kündigung mit Ablauf des beendet wurde. Allerdings ist die Initiative zu diesem Vergleich allein von der Klägerin ausgegangen. Diese hat der Beklagten, nachdem das Hessische Landesarbeitsgericht mit Urteil vom (- 17 Sa 2017/05 -) ihrer gegen die Kündigung vom gerichteten Kündigungsschutzklage stattgegeben und die Revision nicht zugelassen hatte, aus einer relativ gesicherten Rechtsposition heraus und damit „ohne Not“ mit Schreiben vom ihr Ausscheiden im Wege des Vergleichs angeboten und zum Zwecke der Erwirkung eines kostengünstigen Vollstreckungstitels sogar um Ausspruch einer weiteren Kündigung gebeten. Damit hat die Klägerin die Beendigung des Arbeitsverhältnisses aufgrund eines freien Willensentschlusses und von äußeren Umständen unbeeinflusst herbeigeführt.

II. Die Kostenentscheidung folgt aus § 91 Abs. 1, § 97 Abs. 1 ZPO.

Fundstelle(n):
BB 2010 S. 3148 Nr. 51
DB 2011 S. 715 Nr. 12
OAAAD-57886