BGH Beschluss v. - 4 StR 359/10

Strafverfahren: Notwendige Begründung der Ablehnung eines Beweisantrages wegen Verschleppungsabsicht

Gesetze: § 244 Abs 3 S 2 StPO

Instanzenzug: LG Bielefeld Az: 9 KLs 36 Js 2958/08 - 14/09 Urteil

Gründe

1Das Landgericht hat den Angeklagten wegen unerlaubten Handeltreibens mit Betäubungsmitteln in nicht geringer Menge, wegen räuberischer Erpressung in Tateinheit mit Körperverletzung und wegen besonders schwerer Vergewaltigung zu einer Gesamtfreiheitsstrafe von acht Jahren verurteilt. Mit seiner Revision beanstandet der Angeklagte das Verfahren und die Anwendung des materiellen Rechts. Das Rechtsmittel hat mit einer Verfahrensrüge Erfolg, soweit der Angeklagte wegen besonders schwerer Vergewaltigung verurteilt wurde; im Übrigen ist es unbegründet im Sinne des § 349 Abs. 2 StPO.

21. Der Angeklagte rügt hinsichtlich seiner Verurteilung wegen besonders schwerer Vergewaltigung mit Recht die Ablehnung eines Beweisantrags wegen Prozessverschleppung.

3a) Nach den vom Landgericht getroffenen Feststellungen erzwang der Angeklagte am durch Schläge und Drohung mit einer Schusswaffe den Analverkehr mit dem Nebenkläger Tim K. "Hysterisch und verstört" (UA 16) verließ Tim K. anschließend seine Wohnung und ließ sich von einer Zeugin in die Nähe seines Elternhauses fahren. Am Abend traf Tim K. seinen Lebensgefährten, erzählte diesem aber von der Tat zunächst nichts (UA 16); wann (genau) und wo dieses Treffen stattfand, vermochte die Strafkammer nicht festzustellen (UA 63).

4Am letzten Tag der Hauptverhandlung stellte der Verteidiger des die Begehung dieser Tat bestreitenden Angeklagten den Antrag, dessen Lebensgefährtin ("Ehefrau") als Zeugin dazu zu vernehmen, dass Tim K. und sein Lebensgefährte am Abend des in die Wohnung des Angeklagten gekommen seien, die Zeugin für diese und den Angeklagten Essen und Trinken zubereitet habe und man einige Stunden zusammengesessen sei, "wobei hier in keiner Form über eine etwaige sexuelle Nötigung gesprochen wurde".

5Diesen Antrag lehnte die Strafkammer am selben Hauptverhandlungstag ab, da er zum Zwecke der Prozessverschleppung gestellt worden sei. Zur Begründung führte sie aus:

Die Vernehmung der Zeugin T. würde ggfs. die nochmalige Vernehmung der Zeugen K. und W. erfordern. In der bisherigen Beweisaufnahme hat sich für eine Zusammenkunft am Tatabend nichts ergeben. Es kann auch nicht anders als durch eine auf Entlastung des Angekl. ausgerichtete konstruierte Behauptung erklärt werden, dass die Beweisbehauptung erst jetzt in die Hautverhandlung eingeführt wurde. Denn für den Fall, dass die Behauptung wahr wäre, ist es nicht nachvollziehbar, dass diese Tatsache in der mehrtägigen Beweisaufnahme nicht schon früher, insbes. im Zusammenhang mit der Befragung der Zeugen K. und W. eingeführt worden ist, zumal der Angeklagte sich gerade zu dem Vorwurf der Vergewaltigung auch schon spontan eingelassen hat.

6b) Diese Erwägungen tragen die Ablehnung des Beweisantrags nicht.

7aa) Die Strafkammer geht zutreffend davon aus, dass es sich bei dem Antrag um einen Beweisantrag handelt.

8Der erste Teil der Beweisbehauptung ist unmittelbar auf eine (positive) Wahrnehmung der Zeugin gerichtet (Erscheinen von Tim K. und seines Lebensgefährten in der Wohnung des Angeklagten am Abend des , Zubereitung von Essen und Getränken). Der zweite Teil der Beweisbehauptung betrifft zwar eine sogenannte Negativtatsache, aber nicht nur ein Beweisziel, sondern den - nach dem Vorbringen des Antragstellers - von der Zeugin selbst wahrgenommenen Inhalt eines Gesprächs. Es liegt also keiner der Fälle vor, in denen aus der unmittelbaren Wahrnehmung der Beweisperson erst darauf geschlossen werden soll, dass ein weiteres Geschehen nicht stattgefunden habe. Die Beweisbehauptung konnte deshalb Gegenstand des Zeugenbeweises sein (vgl. , NStZ 2000, 267, 268; Beschluss vom - 1 StR 64/03, NJW 2003, 2761 f.).

9bb) Die Ablehnung des Beweisantrags durch die Strafkammer begegnet durchgreifenden rechtlichen Bedenken.

10Die Strafprozessordnung gestaltet das Strafverfahren als einen vom Prinzip der materiellen Wahrheitserforschung beherrschten Amtsprozess aus, in dem das Gericht von Amts wegen zur Erforschung der Wahrheit verpflichtet ist. Dem Gebot der Sachaufklärung kommt dabei auch gegenüber dem Interesse an einer Verfahrensbeschleunigung und der Verhinderung bzw. Abwehr eines missbräuchlichen Verhaltens, wie der Stellung eines Beweisantrags zum Zwecke der Prozessverschleppung, grundsätzlich der Vorrang zu. Gebietet daher die Pflicht zur Erforschung der Wahrheit, einem Beweisantrag in der Sache nachzugehen, darf er nicht wegen Prozessverschleppung abgelehnt werden (, NJW 2010, 592, 593 [Rn. 18], 594 [Rn. 26]; , NStZ 2010, 161 f.).

11Die Frage, ob eine Beweiserhebung der Sachaufklärung dient, muss der Tatrichter in dem Beschluss, mit dem er den Beweisantrag wegen Verschleppungsabsicht ablehnt, beantworten. Nur dann kann das Revisionsgericht überprüfen, ob die Ablehnung rechtsfehlerfrei erfolgt ist. Dagegen obliegt es dem Revisionsgericht als bloßer Rechtsinstanz - ähnlich der Überprüfung der tatrichterlichen Beweiswürdigung - jedenfalls grundsätzlich nicht, die Sachdienlichkeit der Beweiserhebung selbst zu prüfen und gegebenenfalls zu verneinen. Da es in dem beanstandeten Beschluss aber an jeglicher Darlegung dazu fehlt, weshalb der Beweis nichts Entlastendes für den Beschwerdeführer erbringen können soll, ist es dem Senat verwehrt, die - nach den Umständen nicht auf der Hand liegende - Beurteilung vorzunehmen, ob die Vernehmung der Ehefrau des Angeklagten der Erforschung der Wahrheit dienlich gewesen wäre (vgl. auch , NStZ-RR 2009, 21).

122. Die deshalb gebotene Aufhebung der Verurteilung wegen besonders schwerer Vergewaltigung, die es dem neu zur Entscheidung berufenen Landgericht gegebenenfalls auch ermöglicht, nähere Feststellungen zu der vom Angeklagten verwendeten Schusswaffe zu treffen, hat die Aufhebung des Ausspruchs über die Gesamtstrafe zur Folge. Dagegen schließt der Senat aus, dass die Schuldsprüche wegen unerlaubten Handeltreibens mit Betäubungsmitteln in nicht geringer Menge und wegen räuberischer Erpressung in Tateinheit mit Körperverletzung und die deshalb verhängten Einzelstrafen von dem Rechtsfehler berührt werden. Sie können daher bestehen bleiben.

Ernemann                                    Solin-Stojanović                                Cierniak

                       Mutzbauer                                             Bender

Fundstelle(n):
ZAAAD-57395