BAG Urteil v. - 1 AZR 67/09

Auslegung einer Gesamtbetriebsvereinbarung zur Altersteilzeit - Berechnung von Aufstockungsleistungen zur Rentenversicherung

Gesetze: § 77 Abs 3 BetrVG, § 3 Abs 1 Nr 1 Buchst b AltTZG 1996 vom , § 6 Abs 1 AltTZG 1996 vom

Instanzenzug: Az: 2 Ca 469/08 Urteilvorgehend Landesarbeitsgericht Hamm (Westfalen) Az: 9 Sa 1435/08 Urteil

Tatbestand

1Die Parteien streiten über die Auslegung einer Gesamtbetriebsvereinbarung zur Altersteilzeit.

Der Kläger war bei der Beklagten bis zum beschäftigt. Die Parteien vereinbarten für die Zeit vom bis zum ein Altersteilzeitarbeitsverhältnis mit einer Arbeitszeit von 50 % der bisherigen Arbeitszeit. Nach § 6 des Altersteilzeitarbeitsvertrags vom 27. November/ sollten sich die diesbezüglichen Rechte und Pflichten ua. aus der Gesamtbetriebsvereinbarung zur Altersteilzeit vom (GBV ATZ) ergeben, deren § 5 Nr. 3 lautet:

3Der Kläger, der vor Beginn der Altersteilzeit eine über der Beitragsbemessungsgrenze liegende Vergütung bezog, hat die Ansicht vertreten, dass die Berechnung des Unterschiedsbetrags zur Rentenversicherung nach der GBV ATZ von den gesetzlichen Bestimmungen abweiche. Maßgeblich seien grundsätzlich die Beiträge, die auf 90 % der bei einer Vollzeitbeschäftigung erzielbaren Vergütung entfallen. Nur wenn dieser Betrag die Beitragsbemessungsgrenze übersteige, sei diese für die Berechnung des Unterschiedsbetrags maßgeblich.

Der Kläger hat zuletzt beantragt,

5Die Beklagte hat Klageabweisung beantragt.

Die Vorinstanzen haben der zunächst als Feststellungsantrag gefassten Klage stattgegeben. Dagegen richtet sich die Revision der Beklagten, mit der diese erstmals einen Verstoß der GBV ATZ gegen § 77 Abs. 3 Satz 1 BetrVG geltend macht.

Gründe

7Die Revision ist begründet. Die Vorinstanzen haben der Klage zu Unrecht entsprochen. Der Kläger hat keinen Anspruch auf die Zahlung von weiteren Beiträgen zur gesetzlichen Rentenversicherung.

8I. Die sich aus § 5 Nr. 3 GBV ATZ ergebenden Ansprüche des Klägers sind erfüllt. Die Beklagte ist nur zur Entrichtung eines Beitrags zur gesetzlichen Rentenversicherung verpflichtet, der sich aus dem Unterschiedsbetrag zwischen 90 % der monatlichen Beitragsbemessungsgrenze und dem Altersteilzeitentgelt des Klägers ergibt. Die Betriebsparteien sind bei der Berechnung der Aufstockungsleistungen zur Rentenversicherung nicht von der Regelung im Altersteilzeitgesetz abgewichen. Dies folgt aus dem Wortlaut der GBV ATZ, der Regelungssystematik und dem Grundsatz der gesetzeskonformen Auslegung.

91. Betriebsvereinbarungen sind wegen ihres normativen Charakters wie Tarifverträge und Gesetze auszulegen. Auszugehen ist danach vom Wortlaut der Bestimmungen und dem durch ihn vermittelten Wortsinn. Insbesondere bei unbestimmtem Wortsinn sind der wirkliche Wille der Betriebsparteien und der von ihnen beabsichtigte Zweck zu berücksichtigen, sofern und soweit sie im Text ihren Niederschlag gefunden haben. Abzustellen ist ferner auf den Gesamtzusammenhang und die Systematik der Regelungen. Im Zweifel gebührt derjenigen Auslegung der Vorzug, die zu einem sachgerechten, zweckorientierten, praktisch brauchbaren und gesetzeskonformen Verständnis der Bestimmung führt ( - Rn. 20 mwN, AP BetrVG 1972 § 77 Betriebsvereinbarung Nr. 37 = EzA BetrVG 2001 § 77 Nr. 22). Übernehmen die Betriebsparteien den Inhalt einer gesetzlichen Vorschrift ganz oder teilweise, ist regelmäßig davon auszugehen, dass sie deren Verständnis auch zum Inhalt der betrieblichen Regelung machen wollen, soweit sich aus der Betriebsvereinbarung nichts Gegenteiliges ergibt (vgl.  - zu 2 a der Gründe, AP BetrVG 1972 § 112 Nr. 153 = EzA BetrVG 1972 § 112 Nr. 111).

102. Die Betriebsparteien haben in § 5 Nr. 3 GBV ATZ die gesetzliche Regelung über die Aufstockung der Rentenversicherungsbeiträge übernommen.

11a) Nach § 4 Abs. 1 AltTZG ist die Förderung der Altersteilzeit durch die Bundesagentur ua. von den in § 3 AltTZG bestimmten Anspruchsvoraussetzungen abhängig. Zu den Förderleistungen gehören die Zahlung eines Aufstockungsbetrags zum Altersteilzeitentgelt sowie die Entrichtung von zusätzlichen Beiträgen zur Rentenversicherung. Die Betriebsparteien haben sich bei der Ausgestaltung der materiellen Leistungen für die Altersteilzeitarbeitnehmer in der GBV ATZ an den im AltTZG vorgesehenen Leistungen orientiert und eine Aufstockung des Altersteilzeitentgelts sowie die Entrichtung von zusätzlichen Rentenversicherungsbeiträgen vorgesehen. In § 5 Nr. 3 GBV ATZ haben sie nahezu wörtlich die bei Abschluss der GBV ATZ geltende Regelung in § 3 Abs. 1 Nr. 1 Buchst. b AltTZG idF vom AltTZG aF - (BGBl. I S. 2494) über die Zahlung des Rentenversicherungsbeitrags übernommen, der sich aus dem Unterschiedsbetrag zwischen 90 % des bisherigen Arbeitsentgelts iSd. § 6 Abs. 1 AltTZG aF und der Altersteilzeitvergütung ergibt. Nach der dort enthaltenen Legaldefinition ist „bisheriges Arbeitsentgelt“ das Arbeitsentgelt, das der in Altersteilzeitarbeit beschäftigte Arbeitnehmer für eine Arbeitsleistung bei bisheriger wöchentlicher Arbeitszeit zu beanspruchen hätte, soweit es die Beitragsbemessungsgrenze des SGB III nicht überschreitet (Hätte-Entgelt). Danach wird das bisherige Arbeitsentgelt iSd. § 3 Abs. 1 Nr. 1 Buchst. b, § 6 Abs. 1 Satz 1 AltTZG aF durch den Betrag begrenzt, der 90 % der Beitragsbemessungsgrenze entspricht. Dies entsprach zum Zeitpunkt des Abschlusses der GBV ATZ auch der Sichtweise der Spitzenverbände der Sozialversicherungsträger in ihrem Schreiben vom (abgedruckt in: Rittweger/Petri/Schweikert Altersteilzeit 2. Aufl. S. 276 f.) und der einhelligen Auffassung im sozialrechtlichen Schrifttum (ErfK/Rolfs 2. Aufl. § 3 ATG Rn. 8; Gussone/Voelzke Altersteilzeitrecht § 3 AltTZG Rn. 18; Nimscholz/Oppermann/Ostrowicz Altersteilzeit S. 97; Rittweger in Rittweger/Petri/Schweikert Altersteilzeit 2. Aufl. § 3 ATG Rn. 53).

12b) Die Betriebsparteien haben in § 5 Nr. 3 GBV ATZ keine von § 3 Abs. 1 Nr. 1 Buchst. b AltTZG aF abweichende Regelung getroffen.

13Die Verwendung des Begriffs „Bruttovollzeitvergütung“ anstelle des im AltTZG enthaltenen Merkmals des „bisherigen Arbeitsentgelts im Sinne des § 6 Abs. 1“ vermag diese Annahme allein nicht zu rechtfertigen. Die Betriebsparteien haben die Berechnungsgrundlagen für den Unterschiedsbetrag sowie die Begrenzung des Hätte-Entgelts durch die Beitragsbemessungsgrenze unverändert gelassen. Bei dem von ihnen verwandten Ausdruck „Bruttovollzeitvergütung“ haben sie sich an dem bis zum in § 6 AltTZG enthaltenen Begriff des „Vollzeitarbeitsentgelts“ orientiert, das gleichermaßen durch die Höhe der Beitragsbemessungsgrenze begrenzt war. Die in § 5 Nr. 3 GBV ATZ erfolgte Anfügung des Begriffs „Brutto“ enthält lediglich eine sprachliche Klarstellung. In § 5 Nr. 1 GBV ATZ haben die Betriebsparteien eine Regelung über den Aufstockungsbetrag für das Altersteilzeitarbeitsentgelt getroffen, dessen Berechnung sich nach der jeweiligen Verordnung über die Mindestnettobeträge nach dem AltTZG richtet. Hingegen ist für den Unterschiedsbetrag zur Rentenversicherung das Bruttoarbeitsentgelt die maßgebliche Bezugsgröße. Ein etwaiger Wille der Betriebsparteien, in § 5 Nr. 3 GBV ATZ eine von § 3 Abs. 1 Nr. 1 Buchst. b AltTZG aF abweichende Regelung zu treffen, ist danach nicht mit hinreichender Deutlichkeit zum Ausdruck gekommen und daher bei der Auslegung nicht zu berücksichtigen.

143. Gegen die vom Kläger vertretene Sichtweise von § 5 Nr. 3 GBV ATZ spricht zudem das Gebot der gesetzeskonformen Auslegung. Die von ihm zugrunde gelegte Berechnung des Hätte-Entgelts würde zu einem Verstoß gegen den betriebsverfassungsrechtlichen Gleichbehandlungsgrundsatz aus § 75 Abs. 1 BetrVG führen.

15a) Der auf den allgemeinen Gleichheitssatz des Art. 3 Abs. 1 GG zurückzuführende betriebsverfassungsrechtliche Gleichbehandlungsgrundsatz zielt darauf ab, eine Gleichbehandlung von Personen in vergleichbaren Sachverhalten sicherzustellen und eine gleichheitswidrige Gruppenbildung auszuschließen. Maßgeblicher Sachgrund für eine Gruppenbildung ist regelmäßig vor allem der mit der Regelung verfolgte Zweck ( - Rn. 21 mwN).

16b) Die GBV ATZ dient der Ausgestaltung der Bedingungen für die bei der Beklagten begründeten Altersteilzeitarbeitsverhältnisse. Mit den in § 5 GBV ATZ vorgesehenen Aufstockungsleistungen sollte entsprechend der Zielsetzung des AltTZG ein Anreiz geschaffen werden, den Arbeitsplatz vor Erreichen der Regelaltersgrenze frei zu machen und dadurch Beschäftigungsmöglichkeiten für Arbeitsuchende und Auszubildende zu eröffnen. Nach dem gesetzlichen Regelungsmodell in § 3 Abs. 1 Nr. 1 Buchst. b AltTZG aF werden die in der gesetzlichen Rentenversicherung versicherten Arbeitnehmer gleichbehandelt. Ihr Arbeitgeber entrichtet während des Altersteilzeitarbeitsverhältnisses trotz der um die Hälfte verringerten Arbeitszeit Rentenversicherungsbeiträge, die 90 % ihres durch die Beitragsbemessungsgrenze begrenzten Hätte-Entgelts entsprechen. Diese Regelung bewirkt, dass die Anwartschaften aus der Altersteilzeit kaum hinter den Anwartschaften aus ihrer vor der Altersteilzeit ausgeübten Voll- oder Teilzeitbeschäftigung zurückbleiben.

17c) Das von den Vorinstanzen angenommene Auslegungsergebnis von § 5 Nr. 3 GBV ATZ würde demgegenüber zu einer Ungleichbehandlung unter den rentenversicherungspflichtigen Arbeitnehmern führen, bei der die Bezieher von Einkommen oberhalb der Beitragsbemessungsgrenze begünstigt würden. Diese entrichten Beiträge zur gesetzlichen Rentenversicherung nur bis zur Höhe der Beitragsmessungsgrenze. Einnahmen, die diesen Betrag übersteigen, bleiben außer Ansatz (§ 341 Abs. 3 SGB III). Die mit dieser Regelung verbundene beitrags- und leistungsrechtliche Gleichstellung der rentenversicherungspflichtigen Arbeitnehmer wäre beseitigt, wenn die Begrenzung des Hätte-Entgelts durch die Betragsbemessungsgrenze nicht vor, sondern - wie der Kläger meint - erst nach der Multiplikation mit dem Faktor 0,9 erfolgen würde. In letzterem Fall hätten die Bezieher von Einkommen oberhalb der Bemessungsgrenze gegenüber den anderen rentenversicherungspflichtigen Arbeitnehmern nur geringere oder - ab einem Einkommen von ca. 111 % der Beitragsbemessungsgrenze - keine altersteilzeitbedingten Nachteile bei der gesetzlichen Rente zu erwarten, da ab diesem Wert 90 % des Hätte-Entgelts der Höhe der Beitragsbemessungsgrenze entspricht. Für eine solche Begünstigung der Bezieher von höheren Einkommen ist aber ein rechtfertigender Grund nicht ersichtlich.

II. Auf die zwischen den Parteien streitige und in den Vorinstanzen nicht erörterte Frage, ob die GBV ATZ gegen die Regelungssperre des § 77 Abs. 3 Satz 1 BetrVG verstößt, kam es nicht mehr an.

Fundstelle(n):
BB 2010 S. 2820 Nr. 46
DB 2010 S. 2455 Nr. 44
YAAAD-54653