BFH Beschluss v. - V B 108/09

Einspruch gegen Steuerbescheid vor dessen Bekanntgabe; keine Vertagung der mündlichen Verhandlung, wenn Vertagungsantrag in Verschleppungsabsicht erfolgt; Rüge des Übergehens von Beweisanträgen; Vorliegen einer Überraschungsentscheidung; Prozessverschleppungsabsicht

Gesetze: AO § 355 Abs. 1, FGO § 155, ZPO § 227

Instanzenzug:

Gründe

1 I. Die Klägerin und Beschwerdeführerin (Klägerin) wendet sich mit der Nichtzulassungsbeschwerde gegen das in der Sache 1 K 1327/05, in dem das FG die Klage auf Aufhebung der Einspruchsentscheidung des Beklagten und Beschwerdegegners (Finanzamt —FA—) als unbegründet abgewiesen hat. In der Einspruchsentscheidung hatte das FA die Einsprüche gegen Umsatzsteuerbescheide als unzulässig verworfen, weil die Einsprüche zeitlich vor der Bekanntgabe der Bescheide eingelegt worden waren. Dies sei nach der Rechtsprechung des Bundesfinanzhofs —BFH— (Urteile vom VI R 209/79, BFHE 138, 154, BStBl II 1983, 551, und vom I R 143/73, BFHE 112, 107, BStBl II 1974, 433) unzulässig.

2 II. Die Beschwerde ist unbegründet.

3 1. Die Revision ist nicht wegen grundsätzlicher Bedeutung (§ 115 Abs. 2 Nr. 1 der FinanzgerichtsordnungFGO—) der Rechtsfrage zuzulassen, ob ein schon vor Bekanntgabe eines Steuerbescheides eingelegter Einspruch zulässig ist, wenn der Verwaltungsakt schon vorlag und sein Inhalt dem Steuerpflichtigen bekannt war. Diese Rechtsfrage ist nicht klärungsbedürftig. Wie das FG ausgeführt hat, ergibt sich nach der Rechtsprechung des BFH (Urteile in BFHE 138, 154, BStBl II 1983, 551, und in BFHE 112, 107, BStBl II 1974, 433) aus dem Wortlaut des § 355 Abs. 1 Satz 1 der Abgabenordnung („Der Einspruch ist…innerhalb eines Monats nach Bekanntgabe des Verwaltungsakts einzulegen”) sowie nach Sinn und Zweck der Vorschrift, unnötige Rechtsbehelfe zu vermeiden, dass ein Einspruch nur nach Bekanntgabe des Verwaltungsaktes eingelegt werden kann. Weiteren Klärungsbedarf hat die Klägerin durch den Hinweis auf die Urteile der FG Bremen (vom I 142/79, Entscheidungen der Finanzgerichte —EFG— 1980, 58) und Hamburg (vom I 105/74, EFG 1974, 552) nicht dargelegt, da es sich beim Urteil des FG Bremen um die vom BFH im Urteil in BFHE 138, 154, BStBl II 1983, 551 aufgehobene vorinstanzliche Entscheidung handelt, die damit überholt ist und auch das Urteil des FG Hamburg in den Ausführungen desselben BFH-Urteils ausdrücklich abgelehnt wurde. Neuen Klärungsbedarf unter Bezug auf Äußerungen in der Literatur oder aufgrund neuer rechtlicher Gesichtspunkte hat die Klägerin nicht aufgezeigt.

4 2. Entgegen der Rechtsauffassung des Bevollmächtigten ist die Revision auch nicht wegen Divergenz i.S. des § 115 Abs. 2 Nr. 2 FGO zuzulassen, wenn eine Entscheidung eines FG durch eine Revisionsentscheidung des BFH bereits aufgehoben worden oder überholt ist.

5 3. Verstöße des FG gegen die Sachaufklärungspflicht (§ 76 Abs. 1 FGO) und den Grundsatz der Gewährung rechtlichen Gehörs (§ 96 Abs. 2 FGO, Art. 103 Abs. 1 des GrundgesetzesGG—) wegen Übergehens von Beweisanträgen hat die Klägerin nicht den Anforderungen des § 116 Abs. 3 Satz 3 FGO entsprechend dargetan. Zur Schlüssigkeit der Verfahrensrüge gehört u.a. die Erläuterung, dass das angefochtene Urteil auf dem gerügten Mangel beruht. In Bezug auf die Rüge des Übergehens von Beweisanträgen muss der Beschwerdeführer deshalb darlegen, dass die Tatsache, über die Beweis erhoben werden soll, auf der Grundlage des materiell-rechtlichen Standpunkts des FG (vgl. , BFHE 198, 403, BStBl II 2002, 714) für die Entscheidung des Rechtsstreits erheblich ist. Daran fehlt es, weil nach der Rechtsauffassung des FG ein Einspruch auch dann nicht vor Bekanntgabe des Steuerbescheides eingelegt werden kann, wenn der Klägerin der (mutmaßliche) Inhalt des zukünftig erlassenen Verwaltungsaktes bereits bekannt gewesen sein sollte.

6 4. Das FG hat auch nicht verfahrensfehlerhaft eine Überraschungsentscheidung erlassen und damit das rechtliche Gehör verletzt. Eine Überraschungsentscheidung liegt nicht vor, wenn das FG eine Rechtsauffassung vertritt, die sich bereits aus der Einspruchsentscheidung des FA ergibt.

7 5. Eine Gehörsverletzung durch Ablehnung des unmittelbar vor der mündlichen Verhandlung gestellten Antrags auf Gewährung (nochmaliger) Akteneinsicht ist nicht ordnungsgemäß gerügt, da der Bevollmächtigte nicht dargetan hat, was er bei Durchführung der weiteren Akteneinsicht zusätzlich noch vorgetragen hätte (ständige Rechtsprechung, vgl. , BFH/NV 2008, 1501).

8 6. Ebenfalls musste das FG wegen des am kurze Zeit vor der mündlichen Verhandlung vom gestellten —und vom FG am Sitzungstag abgelehnten— Antrages auf Prozesskostenhilfe (PKH), auf Übersendung der Vordrucke für die Gewährung von PKH und auf Fristgewährung von zwei Monaten die mündliche Verhandlung nicht vertagen. Zwar wäre der Anspruch der Klägerin auf rechtliches Gehör gemäß Art. 103 Abs. 1 GG dann verletzt, wenn das FG ihm in rechtswidriger Weise PKH vorenthalten und ihn damit um die Möglichkeit anwaltlichen Beistandes in der mündlichen Verhandlung gebracht hätte ( (PKH), BFH/NV 2008, 2030). Das FG ist jedoch nicht zur Verlegung einer mündlichen Verhandlung verpflichtet, wenn der Verlegungsantrag in Verschleppungsabsicht erfolgt. Die Würdigung des FG, aufgrund der Verfahrensabläufe des vorliegenden und der zahlreichen anderen Verfahren zwischen denselben Beteiligten sowie der Umstand, dass weder vorgetragen noch glaubhaft gemacht wurde, dass die Gründe für die Stellung des PKH-Antrages erst unmittelbar vor der mündlichen Verhandlung eingetreten sind, sei davon auszugehen, dass der Verlegungsantrag in Verschleppungsabsicht erfolgt sei, ist nicht zu beanstanden. Eine Verschleppungsabsicht liegt u.a. dann vor, wenn gerichtliche Anträge offenbar grundlos sind und nur der Verschleppung dienen bzw. als taktisches Mittel für verfahrensfremde Zwecke genutzt werden (, Neue Juristische Wochenschrift 2007, 3771). Im Übrigen ist ein fehlender zeitlicher Abstand zwischen der (negativen) Entscheidung über einen PKH-Antrag und der Entscheidung zur Hauptsache für das Rechtsmittelverfahren ohne Bedeutung, wenn die Beiordnung eines Bevollmächtigten wegen der Eindeutigkeit der Rechtslage ohnehin nichts ändern kann (, juris). Darüber hinaus hat die Klägerin nicht vorgetragen, was sie bei Gewährung von PKH über das bereits Vorgetragene hinaus noch hätte vortragen wollen, um der abgewiesenen Klage zum Erfolg zu helfen.

9 7. Hinsichtlich der Rüge, das FG habe ohne gesonderte Stellungnahme über die Befangenheitsanträge gegen zwei Richter entschieden, verweist der Senat zur Begründung auf den zwischen denselben Beteiligten ergangenen Beschluss vom V B 88/08 (BFH/NV 2010, 217, unter II.2.). Das FG hat nachvollziehbar und damit ohne Willkür begründet, weshalb es von einer Prozessverschleppungsabsicht ausgegangen ist und die Befangenheitsanträge ohne dienstliche Stellungnahme als unzulässig abgelehnt hat.

10 8. Von einer weiteren Darstellung der Entscheidungsgründe sieht der Senat ab (§ 116 Abs. 5 Satz 2 FGO).

11 9. Der Bevollmächtigte der Klägerin hat zwar mit Schriftsatz vom mitgeteilt, dass er die Klägerin nicht mehr vertrete. Die Kündigung der Vollmacht erlangt jedoch gemäß § 62 Abs. 4, § 155 FGO erst Wirksamkeit mit der Anzeige der Bestellung eines anderen Prozessbevollmächtigten (, BFHE 121, 20, BStBl II 1977, 238). Diese ist bisher nicht erfolgt.

Auf diese Entscheidung wird Bezug genommen in folgenden Gerichtsentscheidungen:

Fundstelle(n):
BFH/NV 2010 S. 2014 Nr. 11
JAAAD-52409