BFH Urteil v. - II R 52/07

Auslegung eines Antrags auf Wiedereinsetzung wegen Versäumens einer Rechtsbehelfsfrist; Beginn der Drei-Tages-Frist; wiederholte Einspruchseinlegung

Leitsatz

Für den Beginn der Drei-Tage-Frist des § 122 Abs. 2 Nr. 1 AO kommt es auf die Aufgabe des Verwaltungsakts zur Post und nicht auf das aufgedruckte Bescheiddatum an. Das Bescheiddatum hat lediglich die Funktion, die Steuerfestsetzung zeitlich zu fixieren und in diesem Sinne den Bescheid zu kennzeichnen. Aus dem Bescheiddatum lässt sich auch nicht auf den Tag der Aufgabe zur Post schließen.
Der Beweis der Aufgabe eines Verwaltungsakts zur Post an einem bestimmten Tag kann nicht nach den Regeln des Anscheinsbeweises geführt werden, wenn die Absendung nicht in einem Absendevermerk der Poststelle des Finanzamts festgehalten ist. Da sich die Aufgabe von Verwaltungsakten zur Post im Wissens- und Verantwortungsbereich des Finanzamts abspielt, hat es insoweit die erforderliche Beweisnähe. Die Feststellungslast für den Tag der Aufgabe eines Verwaltungsakts zur Post trägt das Finanzamt.
Um den Tag der Aufgabe eines Verwaltungsakts zur Post feststellen zu können, bedarf es keines Absendevermerks der Poststelle. Bei Fehlen eines solchen Vermerks kann das Finanzamt vielmehr darlegen, wie der Ablauf der Postversendung gestaltet war und welche Maßnahmen ergriffen worden waren, um die Gewähr für die Übereinstimmung von Bescheiddatum und tatsächlichem Aufgabetag zu bieten.

Gesetze: AO § 122 Abs. 2 Nr. 1, AO § 357 Abs. 3, BGB § 133, AO § 110 Abs. 2, FGO § 44, FGO § 118 Abs. 2

Instanzenzug: (Verfahrensverlauf),

Gründe

1 I. Der Beklagte und Revisionskläger (das Finanzamt —FA—) setzte mit Bescheiden vom gegen die Kläger und Revisionsbeklagten (Kläger), zur Vermögensteuer zusammen veranlagte Eheleute, Vermögensteuer auf den 1. Januar der Jahre 1989, 1993 und 1995 fest. Das FA berücksichtigte dabei auf den einen in Luxemburg angelegten Betrag von . DM aus Versehen doppelt und erhöhte demgemäß durch Schätzung in den Bescheiden zum 1. Januar der Jahre 1989 und 1993 das erklärte sonstige Vermögen um diesen Betrag. Unter dem gleichen Datum erließ das FA gegen die Kläger auch geänderte Einkommensteuerbescheide für mehrere Jahre.

2 Der nunmehrige Prozessbevollmächtigte der Kläger, ein Steuerberater, beantragte namens der Kläger mit dem an das FA gerichteten Schreiben vom Wiedereinsetzung in den vorigen Stand gemäß § 110 der Abgabenordnung (AO) für die Einkommensteuer- und Vermögensteuerbescheide vom und führte zur Begründung aus, die Bescheide seien den Klägern wahrscheinlich am durch die Post zugestellt worden. Da sich die Kläger von Ende Februar bis zum im Ausland aufgehalten hätten, hätten sie die Einspruchsfrist für die Bescheide nicht einhalten können.

3 Das FA vertrat im Schreiben vom die Auffassung, über den Antrag auf Wiedereinsetzung in den vorigen Stand sei nicht zu entscheiden, weil die Kläger die versäumte Handlung, nämlich die Einlegung der Einsprüche, nicht innerhalb der einen Monat betragenden Antragsfrist des § 110 AO nachgeholt hätten. Der Antrag auf Wiedereinsetzung in den vorigen Stand werde daher als erledigt angesehen. Die Kläger erklärten daraufhin mit Schreiben vom , gegen die Vermögensteuerbescheide auf den 1. Januar der Jahre 1989, 1993 und 1995 gemäß § 129 AO wegen einer offenbaren, in der doppelten Erfassung der Vermögensanlage in Luxemburg über . DM bestehenden Unrichtigkeit Einspruch einzulegen. Das FA legte dieses Schreiben ausgehend von seiner Ansicht, die Bescheide seien bestandskräftig geworden, als Antrag auf Änderung nach § 129 AO aus und gab diesem Antrag hinsichtlich des Vermögensteuerbescheids auf den statt. Im Übrigen lehnte es den Antrag mit der Begründung ab, bei der Hinzuschätzung von Vermögen auf den 1. Januar der Jahre 1989 und 1993 handle es sich nicht um eine offenbare Unrichtigkeit, sondern um eine falsche Beurteilung des Sachverhalts durch den zuständigen Bearbeiter. Das Ablehnungsschreiben vom wurde nach einem Aktenvermerk am zur Post gegeben. Der Einspruch blieb erfolglos.

4 Im Klageverfahren wies der Berichterstatter des Finanzgerichts (FG) darauf hin, dass nach seiner Beurteilung das Schreiben vom nicht nur als Antrag auf Wiedereinsetzung in den vorigen Stand wegen Versäumung der Einspruchsfrist, sondern zugleich auch als Einspruch auszulegen sei. Nach Aktenlage sei mit diesem Schreiben rechtzeitig Einspruch eingelegt worden. Da ein Postaufgabevermerk bei den Bescheiden vom fehle, sei der Tag der Aufgabe dieser Bescheide zur Post nicht ersichtlich. Der an diesen Tag anknüpfende Beginn der Frist des § 122 Abs. 2 Nr. 1 AO und deren Ende könnten daher nicht festgestellt werden. Dies gehe nach den Regeln über die Feststellungslast zu Lasten des FA. Die Kläger könnten aufgrund des seinerzeitigen Auslandsaufenthalts nur Vermutungen über den Zeitpunkt des Zugangs der Bescheide äußern.

5 Das FA verwarf daraufhin den Einspruch der Kläger vom gegen die Vermögensteuerbescheide auf den 1. Januar der Jahre 1989 und 1993 durch „Einspruchsbescheid” vom wegen Verfristung als unzulässig. Das Schreiben der Kläger vom stelle ausschließlich einen Antrag auf Wiedereinsetzung in den vorigen Stand, jedoch keinen Einspruch dar. Selbst wenn man dies anders beurteilen wollte, wäre die Einspruchseinlegung mit dem Schreiben vom verspätet gewesen. Die angefochtenen Bescheide seien am mit einfachem Brief zur Post gegeben worden und gälten daher gemäß § 122 Abs. 2 Nr. 1 AO als am bekannt gegeben. Dass die Bescheide den Klägern spätestens an diesem Tag zugegangen seien, bestritten auch die Kläger nicht. Eine Wiedereinsetzung in den vorigen Stand wegen der danach vorliegenden Versäumung der Einspruchsfrist scheide aus, weil die Kläger länger als sechs Wochen von ihrer Wohnung abwesend gewesen seien und deshalb dafür hätten sorgen müssen, dass ihnen die Post nachgesandt werde oder dass jemand die Post für sie in Empfang nehme. Die Einsprüche vom seien ebenfalls verspätet eingelegt worden. Gründe für eine Wiedereinsetzung in den vorigen Stand hätten die Kläger insoweit nicht vorgetragen.

6 In der mündlichen Verhandlung vor dem FG wurden die Beteiligten darauf hingewiesen, dass es sich hinsichtlich der mit der zunächst erhobenen Klage begehrten Änderung nach § 129 AO um eine Verpflichtungsklage und hinsichtlich der nach Ergehen des „Einspruchsbescheids” vom erhobenen Klage gegen die Vermögensteuerbescheide um eine Anfechtungsklage handle, dass der Tag der Aufgabe der angefochtenen Bescheide zur Post vom FA bislang nicht dargelegt sei und dass das Schreiben vom wohl als fristgerecht eingelegter Einspruch anzusehen sei. Der Vertreter des FA erklärte, es sei in der Sache unstreitig, dass bei Zulässigkeit der Klage das Vermögen auf den 1. Januar der Jahre 1989 und 1993 antragsgemäß jeweils um . DM zu reduzieren wäre.

7 Das FG gab der Klage durch das in Deutsches Steuerrecht/Entscheidungsdienst 2008, 840 abgedruckte Urteil mit der Begründung statt, die Kläger hätten die Bescheide vom fristgerecht mit dem Einspruch angefochten. Das Schreiben vom sei in entsprechender Anwendung des § 133 des Bürgerlichen Gesetzbuches (BGB) und unter Berücksichtigung des verfassungsrechtlichen Gebots der Gewährung effektiven Rechtsschutzes nicht nur als Antrag auf Wiedereinsetzung in den vorigen Stand wegen Versäumens der Einspruchsfrist, sondern auch als Einspruch auszulegen. Die Kläger hätten mit dem Schreiben gezeigt, dass sie das Verfahren weiter betreiben wollten. Eine andere Auslegung mache keinen Sinn. Dass die Kläger in dem Schreiben keine Fehler der angefochtenen Bescheide gerügt hätten, stehe der Auslegung als Einspruch nicht entgegen. Ein Einspruch brauche nämlich nicht begründet zu werden.

8 Der Einspruch sei auch rechtzeitig eingelegt worden. Die in § 122 Abs. 2 Nr. 1 AO bestimmte Frist von drei Tagen beginne mit Ablauf des Tages, an dem ein Verwaltungsakt bei der Post aufgegeben worden sei. Dieser Tag könne im vorliegenden Fall nicht festgestellt werden, da ein Postabgangsvermerk fehle und aus dem Bescheiddatum nicht auf den Tag der Aufgabe zur Post geschlossen werden könne. Dies zeige insbesondere der Bescheid vom , der nach dem Postaufgabevermerk erst am zur Post gegeben worden sei. Danach sei von der rechtzeitigen Einlegung des Einspruchs auszugehen. Den Klägern könne nicht vorgehalten werden, dass sie zum Zeitpunkt des Zugangs der Bescheide keine Angaben gemacht hätten. Solche Angaben seien ihnen nämlich wegen ihres Auslandsaufenthalts nicht möglich gewesen. Da das FA über den Einspruch vom noch nicht entschieden habe, sei die Klage als zulässige Untätigkeitsklage i.S. des § 46 der Finanzgerichtsordnung (FGO) gegen die Vermögensteuerbescheide vom auf den 1. Januar der Jahre 1989 und 1993 zu verstehen. Die Klage sei auch begründet. Die angefochtenen Bescheide seien rechtswidrig, da das auf diese Stichtage angesetzte Vermögen jeweils um . DM zu vermindern sei, wie auch das FA eingeräumt habe.

9 Mit der Revision rügt das FA Verletzung von § 357 i.V.m. § 110 Abs. 2 Satz 3 AO sowie von § 122 Abs. 2 AO. Das FG habe den Schriftsatz vom zu Unrecht auch als Einspruch ausgelegt. Es habe sich bei dem Schreiben ausschließlich um einen Antrag auf Wiedereinsetzung in den vorigen Stand wegen Versäumens der Einspruchsfrist gehandelt. Einwendungen gegen die Steuerfestsetzungen hätten die Kläger in dem Schreiben nicht erhoben. Die Darlegung der Beschwer gehöre zum notwendigen Inhalt eines Einspruchs. Da der steuerliche Vertreter aus Zeitgründen bis zur Anfertigung des Schreibens vom nicht in der Lage gewesen sei, die Bescheide abschließend zu prüfen, sei es plausibel, dass die Einsprüche selbst durch gesonderte Schriftsätze hätten eingelegt werden sollen.

10 Zu Unrecht habe das FG angenommen, dass das FA wegen der fehlenden Absendevermerke den Zeitpunkt des Zugangs der Bescheide nicht nachweisen könne. Das FG habe die ausdrückliche Bestimmung in § 122 Abs. 2 letzter Halbsatz AO nicht beachtet, wonach die Behörde den Zugang der Bescheide und dessen Zeitpunkt nur im Zweifelsfall nachzuweisen habe. Die Kläger hätten den Zeitpunkt des Zugangs zu keinem Zeitpunkt in Zweifel gezogen. Es sei danach gemäß § 122 Abs. 2 Nr. 1 AO von einer Bekanntgabe der Bescheide am auszugehen. Die Einspruchsfrist habe somit mit Ablauf des (Montag) geendet.

11 Das FA beantragt, die Vorentscheidung aufzuheben und die Klage abzuweisen.

12 Die Kläger beantragen, die Revision als unbegründet zurückzuweisen.

13 II. Die Revision ist unbegründet und war daher zurückzuweisen (§ 126 Abs. 2 FGO). Das FG hat die Klage zutreffend als zulässig und begründet angesehen.

14 1. Der Zulässigkeit der Klage steht nicht entgegen, dass das FA im „Einspruchsbescheid” vom formell nur über die Einsprüche vom entschieden hat. Dies ändert nichts daran, dass ein abgeschlossenes, erfolglos gebliebenes Vorverfahren i.S. des § 44 Abs. 1 FGO gegeben ist. Auch wenn man übereinstimmend mit dem FG annimmt, dass das Schreiben vom auch als Einspruch auszulegen ist (vgl. dazu unten 2.a bb), kam es durch die wiederholte Einspruchseinlegung nur zu einem einzigen Einspruchsverfahren, das durch den „Einspruchsbescheid” vom in der nach § 44 Abs. 1 FGO erforderlichen Weise förmlich abgeschlossen wurde (vgl. , BFH/NV 2004, 491, unter II.3.; , Entscheidungen der Finanzgerichte 2008, 768, rechtskräftig; zur einheitlichen Entscheidung über wiederholt eingelegte Rechtsmittel vgl. , BFHE 178, 303, BStBl II 1996, 19, m.w.N.).

15 2. Das FG hat zutreffend angenommen, dass die Kläger durch das Schreiben vom rechtzeitig Einspruch gegen die angefochtenen Vermögensteuerbescheide eingelegt haben.

16 a) Es ist revisionsrechtlich nicht zu beanstanden, dass das FG dieses Schreiben nicht nur als Antrag auf Wiedereinsetzung in den vorigen Stand, sondern auch als Einspruch ausgelegt hat.

17 aa) Die nicht mit einer zulässigen und begründeten Verfahrensrüge angegriffene Tatsachen- und Beweiswürdigung des FG bindet nach § 118 Abs. 2 FGO den BFH auch dann, wenn sie nicht zwingend, sondern nur möglich ist (, BFHE 192, 559, BStBl II 2000, 676, unter II.2.a (3); vom IX R 76/03, BFHE 212, 360, BStBl II 2006, 359, unter II.2.a, und vom IV R 45/06, BFH/NV 2009, 1493, unter II.2.). Die Tatsachen- und Beweiswürdigung des FG ist nur dann für den BFH nicht verbindlich, wenn sie in sich widersprüchlich, lückenhaft oder unklar ist, gegen Denkgesetze oder gesichertes Erfahrungswissen verstößt oder ihr zu hohe Anforderungen an die Überzeugungsbildung zugrunde liegen (BFH-Urteile in BFHE 212, 360, BStBl II 2006, 359, m.w.N., und in BFH/NV 2009, 1493, unter II.2.).

18 Zu den den BFH grundsätzlich bindenden tatsächlichen Feststellungen des FG gehört auch die Auslegung von an die Finanzbehörden gerichteten Rechtsbehelfsanträgen. Der BFH kann die Auslegung durch das FG nur daraufhin überprüfen, ob das FG die gesetzlichen Auslegungsregeln beachtet und nicht gegen Denkgesetze oder Erfahrungssätze verstoßen hat (, BFHE 222, 196, BStBl II 2009, 116, und vom X R 51/06, BFH/NV 2009, 1273, unter II.2.a aa).

19 bb) Die vom FG vorgenommene Auslegung des Schreibens vom auch als Einspruch ist danach für den BFH verbindlich. Sie ist zumindest möglich und verstößt weder gegen die gesetzlichen Auslegungsregeln (§ 133 BGB) noch gegen Denkgesetze oder Erfahrungssätze. Das Schreiben ist entgegen der Ansicht des FA nicht so eindeutig, dass es keiner Auslegung bedürfte. Dem Wortlaut lässt sich nicht klar entnehmen, dass lediglich Wiedereinsetzung in den vorigen Stand wegen Versäumens der Einspruchsfrist beantragt wurde. In dem Schreiben wurde nicht ausgeführt, dass die Einspruchseinlegung erst zu einem späteren Zeitpunkt erfolgen solle.

20 Bei der danach gebotenen Würdigung des Schreibens ist der Grundsatz der rechtsschutzgewährenden Auslegung zu beachten (, BFHE 206, 211, BStBl II 2004, 964, unter 2.b). Nach diesem Grundsatz ist das Schreiben so auszulegen, dass dasjenige gewollt war, das nach den Maßstäben der Rechtsordnung vernünftig ist und der recht verstandenen Interessenlage der Kläger entspricht (, BFH/NV 1997, 363, und vom XI R 42/04, BFH/NV 2007, 1283, unter

II.2.a aa; , BFH/NV 2006, 2269). Lässt die Äußerung eines Steuerpflichtigen ungewiss, ob er einen Rechtsbehelf einlegen will, so ist unter Beachtung des verfassungsrechtlichen Gebots der Gewährung effektiven Rechtsschutzes im Allgemeinen die Erklärung als Rechtsbehelf zu betrachten, um zu Gunsten des Steuerpflichtigen den Eintritt der Bestands- oder Rechtskraft aufzuhalten (, BFHE 201, 416, BStBl II 2003, 505, unter II.3.b). Eine derartige rechtsschutzgewährende Auslegung ist auch dann geboten, wenn der Steuerpflichtige durch eine rechtskundige Person vertreten wird (vgl. z.B. BFH-Urteile in BFHE 206, 211, BStBl II 2004, 964, unter 2.b, und in BFHE 222, 196, BStBl II 2009, 116; BFH-Beschlüsse vom XI B 206/04, BFH/NV 2006, 68, und vom XI B 149/05, BFH/NV 2006, 2035).

21 Bei sachgerechter Auslegung eines Antrags auf Wiedereinsetzung in den vorigen Stand wegen Versäumens einer Rechtsbehelfsfrist kann sich nach diesen Grundsätzen schon aus dem Antrag die Nachholung der versäumten Handlung ergeben, wenn für diese Handlung anders als etwa für die Begründung der Revision (§ 120 Abs. 2 und 3 FGO) oder der Beschwerde wegen Nichtzulassung der Revision (§ 116 Abs. 3 FGO) keine besonderen Anforderungen bestehen (Tipke in Tipke/Kruse, Abgabenordnung, Finanzgerichtsordnung, § 110 AO Rz 85; Söhn in Hübschmann/Hepp/ Spitaler, § 110 AO Rz 536; Kuczynski in Beermann/Gosch, AO § 110 Rz 84; Pahlke/Koenig/Pahlke, Abgabenordnung, 2. Aufl., § 110 Rz 93; Klein/Brockmeyer, AO, 9. Aufl., § 110 Rz 48, m.w.N.; zur verfassungsrechtlich gebotenen Auslegung eines Wiedereinsetzungsgesuchs bei Versäumung der Einspruchsfrist nach einem Versäumnisurteil als zugleich erfolgte Einlegung des Einspruchs trotz unzulänglicher Formulierung vgl. , BVerfGE 88, 118).

22 Die Auslegung des Schreibens vom durch das FG steht danach im Einklang mit dem verfassungsrechtlichen Gebot effektiven Rechtsschutzes. Da nach § 110 Abs. 2 Satz 3 AO innerhalb der Frist für den Antrag auf Wiedereinsetzung in den vorigen Stand die versäumte Handlung nachzuholen ist, entspricht es dem recht verstandenen Interesse der Kläger, das Schreiben nicht nur als Wiedereinsetzungsantrag, sondern zugleich als Einspruch auszulegen. Aus dem Schreiben war nach der Verfahrens- und Interessenlage ersichtlich, dass sich die Kläger gegen die ergangenen Steuerbescheide zur Wehr setzen und ein außergerichtliches Rechtsbehelfsverfahren betreiben wollten.

23 Der Auslegung des Schreibens vom als Einspruch steht auch nicht entgegen, dass die Kläger darin nicht angegeben haben, inwiefern sie die angeführten Steuerbescheide als rechtswidrig ansehen und deshalb eine Änderung oder Aufhebung beantragen. Nach § 357 Abs. 3 Satz 2 AO soll zwar angegeben werden, inwieweit der Verwaltungsakt durch den Einspruch angefochten und seine Aufhebung beantragt wird. Es handelt sich dabei aber um eine bloße Sollvorschrift, nicht um eine zwingende Anforderung an den Einspruch. Eine Pflicht, den Einspruch zu begründen, ergibt sich auch nicht aus § 350 AO. Nach dem Wortlaut dieser Vorschrift ist zwar nur befugt, Einspruch einzulegen, wer geltend macht, durch einen Verwaltungsakt oder dessen Unterlassung beschwert zu sein. Daraus lässt sich aber keine Notwendigkeit zur Substantiierung des Rechtsbehelfsbegehrens im Einspruchsverfahren ableiten, wenn der Adressat eines ihn belastenden Verwaltungsakts Einspruch einlegt und dadurch zu erkennen gibt, dass er eine Überprüfung des angefochtenen Verwaltungsakts begehrt (, BFHE 145, 122, BStBl II 1986, 243). Der Einspruch führt nämlich auch ohne ein ausdrückliches Begehren des Einspruchsführers gemäß § 367 Abs. 2 Satz 1 AO zu einer erneuten Prüfung der Sache in vollem Umfang. Es genügt daher, wenn das Vorliegen einer Beschwer nach einer verständigen Prüfung des angefochtenen Verwaltungsakts als möglich erscheint (, BFH/NV 2008, 9).

24 Einer ausdrücklichen Erklärung, Einspruch einzulegen, bedarf es entgegen der Ansicht des FA auch nicht aufgrund des § 367 Abs. 2 Satz 2 AO, wonach der mit dem Einspruch angefochtene Verwaltungsakt auch zum Nachteil des Einspruchsführers geändert werden kann. Eine solche für den Einspruchsführer nachteilige Änderung des angefochtenen Bescheids setzt nämlich nach dieser Vorschrift voraus, dass der Einspruchsführer zunächst auf die Möglichkeit einer verbösernden Entscheidung unter Angabe von Gründen hingewiesen und ihm Gelegenheit gegeben worden ist, sich hierzu zu äußern. Der Einspruchsführer hat nach einem solchen Hinweis die Möglichkeit, den Einspruch zurückzunehmen. Eine auf § 367 Abs. 2 Satz 2 AO gestützte Verböserung ist dann nicht mehr zulässig (, BFHE 196, 195, BStBl II 2002, 2, unter 2.b).

25 b) Das FG hat ebenfalls zu Recht angenommen, dass der Einspruch durch das Schreiben vom fristgerecht eingelegt wurde.

26 aa) Der Einspruch nach § 347 Abs. 1 Satz 1 AO ist gemäß § 355 Abs. 1 Satz 1 AO innerhalb eines Monats nach Bekanntgabe des Verwaltungsakts einzulegen.

27 Nach § 122 Abs. 2 Nr. 1 AO gilt ein schriftlicher Verwaltungsakt, der durch die Post übermittelt wird, bei einer Übermittlung im Inland am dritten Tag nach der Aufgabe zur Post als bekannt gegeben, außer wenn er nicht oder zu einem späteren Zeitpunkt zugegangen ist; im Zweifel hat die Behörde den Zugang des Verwaltungsakts und den Zeitpunkt des Zugangs nachzuweisen. Für den Beginn der Frist von drei Tagen kommt es danach auf die Aufgabe des Verwaltungsakts zur Post und nicht auf das aufgedruckte Bescheiddatum an. Das Bescheiddatum hat lediglich die Funktion, die Steuerfestsetzung zeitlich zu fixieren und in diesem Sinne den Bescheid zu kennzeichnen (, BFH/NV 2001, 1365, und vom III R 66/07, BFHE 223, 317, BStBl II 2009, 185). Aus dem Bescheiddatum lässt sich auch nicht auf den Tag der Aufgabe zur Post schließen (, BFHE 143, 200, BStBl II 1985, 485; in BFH/NV 2001, 1365, und vom VIII R 53/00, BFH/NV 2002, 1417; , BFH/NV 2006, 1860). Der Beweis der Aufgabe eines Verwaltungsakts zur Post an einem bestimmten Tag kann nicht nach den Regeln des Anscheinsbeweises geführt werden, wenn die Absendung nicht in einem Absendevermerk der Poststelle des FA festgehalten ist (BFH-Beschluss in BFH/NV 2006, 1860). Da sich die Aufgabe von Verwaltungsakten zur Post im Wissens- und Verantwortungsbereich des FA abspielt, hat es insoweit die erforderliche Beweisnähe (, BFHE 193, 28, BStBl II 2001, 211, unter II.3.a). Die Feststellungslast (objektive Beweislast) für den Tag der Aufgabe eines Verwaltungsakts zur Post trägt das FA (BFH-Beschluss in BFH/NV 2006, 1860).

28 Um den Tag der Aufgabe eines Verwaltungsakts zur Post feststellen zu können, bedarf es keines Absendevermerks der Poststelle. Bei Fehlen eines solchen Vermerks kann das FA vielmehr darlegen, wie der Ablauf der Postversendung gestaltet war und welche Maßnahmen ergriffen worden waren, um die Gewähr für die Übereinstimmung von Bescheiddatum und tatsächlichem Aufgabetag zu bieten (vgl. BFH-Beschlüsse vom V B 115/04, BFH/NV 2006, 84, zur Absendung eines Steuerbescheids durch ein Druckzentrum; vom X B 190/05, BFH/NV 2006, 1681; vom XI B 13/06, BFH/NV 2007, 389, unter 3.d; vom V B 169/06, BFH/NV 2007, 1454, und vom XI B 218/07, BFH/NV 2008, 742).

29 Die Rechtsprechung des BFH, wonach nicht jedes beliebige Bestreiten des Zugangszeitpunkts die Zugangsfiktion des § 122 Abs. 2 AO außer Kraft setzt, der Empfänger vielmehr substantiiert Tatsachen vortragen muss, die schlüssig auf den verspäteten Zugang hindeuten und damit Zweifel an der Zugangsvermutung begründen (BFH-Beschlüsse in BFH/NV 2007, 389, m.w.N., und in BFH/NV 2007, 1454), betrifft Fälle, in denen der Tag der Aufgabe des Verwaltungsakts zur Post feststeht und sich deshalb Beginn und Ende der in § 122 Abs. 2 Nr. 1 AO vorgesehenen Dreitagesfrist bestimmen lassen. Steht dieser Tag nicht fest, ist die Fiktion des § 122 Abs. 2 Nr. 1 AO nicht anwendbar (BFH-Urteil in BFH/NV 2002, 1417; BFH-Beschluss in BFH/NV 2006, 1681).

30 bb) Das FG ist aufgrund einer Würdigung der Umstände des Streitfalls (§ 96 Abs. 1 Satz 1 Halbsatz 1 FGO) zu dem Ergebnis gekommen, der Tag der Aufgabe der Bescheide vom zur Post lasse sich nicht feststellen. An diese Beweiswürdigung ist der BFH nach § 118 Abs. 2 FGO gebunden, da ihr Ergebnis möglich ist und nicht gegen Denkgesetze oder allgemeine Erfahrungssätze verstößt. Insbesondere hat das FG zu Recht nicht zu Lasten der Kläger berücksichtigt, dass diese keine Angaben zum Zeitpunkt des Zugangs der Bescheide gemacht haben. Derartige Angaben waren ihnen nämlich aufgrund ihrer Abwesenheit nicht möglich. Der Steuerpflichtige braucht seinen Vortrag im Rahmen des § 122 Abs. 2 Nr. 1 AO nur nach Maßgabe des ihm Möglichen zu substantiieren (BFH-Urteil in BFH/NV 2001, 1365). Eine Verfahrensrüge (§ 120 Abs. 3 Nr. 2 Buchst. b FGO) hat das FA nicht erhoben.

31 Der Vorentscheidung liegen auch keine zu hohen Anforderungen an die Überzeugungsbildung hinsichtlich des Zeitpunkts der Aufgabe der Vermögensteuerbescheide zur Post zugrunde. Da dieser Zeitpunkt nicht in einem Postaufgabevermerk festgehalten worden war, oblag es aufgrund des wiederholten Hinweises des FG, dass der Tag der Aufgabe der Bescheide zur Post noch nicht dargelegt sei, dem FA, vorzutragen, ob und ggf. welche Vorkehrungen getroffen worden waren, um die Übereinstimmung von Bescheiddatum und tatsächlichem Aufgabetag zu gewährleisten (vgl. oben 2.b aa). Es geht zu Lasten des FA, dass es einen entsprechenden Vortrag unterlassen hat.

32 Da somit Beginn und Ende der in § 122 Abs. 2 Nr. 1 AO bestimmten Frist von drei Tagen nicht bestimmt werden können, ist davon auszugehen, dass der Einspruch rechtzeitig eingelegt wurde.

33 3. Die mit der Auffassung der Beteiligten übereinstimmende Ansicht des FG, die Klage sei begründet, ist revisionsrechtlich nicht zu beanstanden.

Fundstelle(n):
MAAAD-39588