BSG Beschluss v. - B 1 KR 51/09 B

Leitsatz

Leitsatz:

Diese Entscheidung enthält keinen zur Veröffentlichung bestimmten Leitsatz.

Instanzenzug: LSG Hessen, L 1 KR 361/07 vom SG Gießen, S 9 KR 281/05

Gründe

I

Die Klägerin ist Liquidatorin und war Geschäftsführerin der Fachklinik B., die eine onkologische Fachklinik in O. betrieb (im Folgenden: Fachklinik). Die Fachklinik behandelte den bei der beklagten Ersatzkasse Versicherten G. H. (im Folgenden: Versicherter) vom bis zu seinem Tod am . Sie verfügte über keine Zulassung zur Behandlung von in der gesetzlichen Krankenversicherung Versicherten. Die Eröffnung des Insolvenzverfahrens über ihr Vermögen wurde mangels Masse abgelehnt, die Auflösung der GmbH am in das Handelsregister eingetragen. Die GmbH befindet sich seitdem im Stadium der Liquidation.

Die Fachklinik stellte der Beklagten im Jahr 2000 vergeblich für die Behandlung des Versicherten 8.282,92 Euro (16.200 DM) in Rechnung. Das Amtsgericht Nidda (AG) verurteilte die Klägerin, der hiesigen Beklagten 4.733,31 Euro Schadensersatz wegen der Nichtabführung von Gesamtsozialversicherungsbeiträgen nebst Zinsen zu zahlen (Urteil vom - 1 C 232/04 [70]). Auf die Berufung der Klägerin änderte das Landgericht Gießen das AG-Urteil im Zins und wies die Berufung im Übrigen zurück (Urteil vom - 1 S 244/06). Die von der Klägerin beim AG Nidda erhobene Widerklage auf Zahlung von 8.282,92 Euro nebst Zinsen hat dieses abgetrennt und an das Sozialgericht Gießen (SG) verwiesen. Klage und Berufung der Klägerin sind ohne Erfolg geblieben (; Urteil des Landessozialgerichts [LSG] vom ). Zur Begründung hat das LSG ua ausgeführt, die erste Forderungsabtretung der Fachklinik an die Klägerin vom sei nicht wirksam gewesen, da die Klägerin als Liquidatorin - anders zuvor als Geschäftsführerin - nicht von den Beschränkungen des § 181 BGB befreit gewesen sei. Entsprechend einem Urteil des Bundesfinanzhofes ([BFH], BFHE 195, 516) gelte die durch einen einzelnen Beschluss ausgesprochene Befreiung eines Geschäftsführers nicht auch für den Liquidator fort. Ausnahmen könnten im Wege der Vertragsauslegung nur bei - hier nicht vorhandener - identischer Interessenlage gelten. Die nach Rechtshängigkeit der Klage erfolgten Abtretungen vom und hätten - auch wenn man sie zu Gunsten der Klägerin als Genehmigung der früheren Abtretung auslege - die Verjährung nicht rückwirkend (ex tunc), sondern nur für die Zukunft (ex nunc) zu hemmen vermocht, sodass die Forderung bereits vor den Abtretungen verjährt gewesen sei (Urteil vom ).

Mit ihrer Beschwerde wendet sich die Klägerin gegen die Nichtzulassung der Revision im LSG-Urteil und beruft sich auf Verfahrensfehler.

II

1. Die Beschwerde der Klägerin gegen die Nichtzulassung der Revision im ist zulässig. Die Klägerin hat sie fristgerecht erhoben und den Verstoß gegen das Gebot des gesetzlichen Richters gemäß Art 101 Abs 1 Satz 2 GG hinreichend bezeichnet (§ 160a Abs 2 Satz 3 iVm § 160 Abs 2 Nr 3 SGG).

2. Die Beschwerde ist auch begründet. Der gerügte Verfahrensfehler - ein absoluter Revisionsgrund - liegt vor. Das LSG war in der mündlichen Verhandlung vom nicht vorschriftsmäßig besetzt (§ 547 Nr 1 ZPO iVm § 202 SGG). An dem auf diese Verhandlung ergangenen Urteil hat eine Richterin mitgewirkt, die die Klägerin zwar zuvor erfolglos abgelehnt hatte, deren Mitwirkung aber gleichwohl das Recht auf den gesetzlichen Richter verletzt hat. Die Zurückweisung des diese Richterin betreffenden Ablehnungsgesuchs hat Bedeutung und Tragweite der Verfassungsgarantie des Art 101 Abs 1 Satz 2 GG grundlegend verkannt (vgl hierzu zB BVerfGE 82, 286, 298; Bundesverfassungsgericht [BVerfG] NVwZ 2005, 1304, 1307 f; - mwN).

a) Zwar ist das Revisionsgericht im Hinblick auf § 557 Abs 2 ZPO (iVm § 202 SGG) an Entscheidungen gebunden, die dem Endurteil des LSG vorausgegangen sind, sofern sie unanfechtbar sind. Dies gilt grundsätzlich auch für Entscheidungen der Vorinstanz, die ein Ablehnungsgesuch unter fehlerhafter Anwendung einfachen Rechts zurückgewiesen haben (§§ 60, 177 SGG; vgl hierzu entsprechend BVerfGE 31, 145, 164; BSG SozR 4-1100 Art 101 Nr 3 RdNr 5 mwN). Das Revisionsgericht ist nur in engen Ausnahmen wegen eines fortwirkenden Verstoßes gegen das Gebot des gesetzlichen Richters iS des Art 101 Abs 1 Satz 2 GG an die Zurückweisung von Ablehnungsgesuchen, die dem Endurteil des LSG vorausgegangen sind, nicht gebunden, wenn die zuvor erfolglos abgelehnten Richter an der Endentscheidung des LSG mitgewirkt haben. Die Bindung des Revisionsgerichts fehlt, wenn die Zurückweisung des Ablehnungsgesuchs - was hier ausscheidet - auf willkürlichen manipulativen Erwägungen beruht, die für die Fehlerhaftigkeit des als Mangel gerügten Vorgangs bestimmend gewesen sind (vgl BSG SozR 4-1500 § 160a Nr 1 RdNr 9 mwN) oder wenn die Zurückweisung des Ablehnungsgesuchs jedenfalls darauf hindeutet, dass das Gericht Bedeutung und Tragweite der Verfassungsgarantie des Art 101 Abs 1 Satz 2 GG grundlegend verkannt hat (vgl BSG SozR 4-1100 Art 101 Nr 3 RdNr 5 mwN). Letzteres liegt hier vor.

b) Ein fortwirkender Verstoß gegen das Gebot des gesetzlichen Richters und zugleich eine "Entziehung" des gesetzlichen Richters durch ein Gericht ist hier dem LSG im angefochtenen Urteil unterlaufen. Die abgelehnte Richterin D. hat nämlich vor der Verkündung des Urteils am an dem von ihr in der öffentlichen Sitzung verkündeten Beschluss mitgewirkt, der das gegen sie gerichtete Befangenheitsgesuch als unzulässig verworfen hat, da das Befangenheitsgesuch "nicht substantiiert begründet" worden sei. Der verkündete Beschluss bezieht sich nach Würdigung aller Umstände auch auf das vorliegende Verfahren. Die Ausführungen des LSG in diesem Beschluss beruhen auf grob fehlerhaften Erwägungen und deuten darauf hin, dass das LSG die Tragweite der Verfassungsgarantie des Art 101 Abs 1 Satz 2 GG grundlegend verkannt hat. Art 101 Abs 1 Satz 2 GG lässt nämlich lediglich in dem Fall eines unzulässigen oder missbräuchlich angebrachten Ablehnungsgesuchs eine Selbstentscheidung des abgelehnten Richters über das Gesuch zu.

Art 101 Abs 1 Satz 2 GG hat nach der gefestigten Rechtsprechung des BVerfG einen materiellen Gewährleistungsgehalt. Die Verfassungsnorm garantiert, dass der Rechtsuchende im Einzelfall vor einem Richter steht, der unabhängig und unparteilich ist und der die Gewähr für Neutralität und Distanz gegenüber den Verfahrensbeteiligten bietet (vgl BVerfGE 10, 200, 213 f; 21, 139, 145 f; 30, 149, 153; 40, 268, 271; 82, 286, 298; 89, 28, 36). Die verfassungsrechtlich gebotene (vgl BVerfGK 5, 269 ff = NJW 2005, 3410 ff) Unparteilichkeit des Gerichts wird ua durch das Recht der Beteiligten gesichert, Gerichtspersonen wegen Besorgnis der Befangenheit abzulehnen (§ 60 Abs 1 SGG iVm §§ 42 ff ZPO). Ein Ablehnungsantrag hat grundsätzlich zur Folge, dass die abgelehnten Richter nur unaufschiebbare Prozesshandlungen vor Erledigung des Ablehnungsgesuchs vornehmen dürfen (§ 60 Abs 1 SGG, § 47 ZPO). Bei dem kollegial besetzten LSG ist über den Ablehnungsantrag grundsätzlich ohne den abgelehnten Richter von dem zuständigen Senat mit dem nach der Geschäftsverteilung berufenen Vertreter zu entscheiden. Dies gilt jedoch nicht, wenn lediglich über die Zulässigkeit des Ablehnungsantrags zu befinden ist (vgl Bundessozialgericht [BSG], Beschluss vom - B 11 AL 19/01 B -, juris RdNr 6).

Diese Vorschriften dienen dem durch Art 101 Abs 1 Satz 2 GG verbürgten Ziel, auch im Einzelfall die Neutralität und Distanz der zur Entscheidung berufenen Richter zu sichern. Die Zuständigkeitsregelung trägt dem Umstand Rechnung, dass es nach der Natur der Sache an der völligen inneren Unbefangenheit und Unparteilichkeit eines Richters fehlen wird, wenn er über die vorgetragenen Gründe für seine eigene angebliche Befangenheit selbst entscheiden müsste. Wie im Zivil- und Strafprozess ist auch im sozialgerichtlichen Verfahren anerkannt, dass abweichend von dem aufgezeigten Grundsatz der Spruchkörper ausnahmsweise in alter Besetzung unter Mitwirkung des abgelehnten Richters über unzulässige Ablehnungsgesuche in bestimmten Fallgruppen entscheidet.

Hierzu hat das BVerfG entschieden, dass bei strenger Beachtung der Voraussetzungen des Vorliegens eines gänzlich untauglichen oder rechtsmissbräuchlichen Ablehnungsgesuchs eine Selbstentscheidung mit der Verfassungsgarantie des Art 101 Abs 1 Satz 2 GG nicht in Konflikt gerät, weil die Prüfung keine Beurteilung des eigenen Verhaltens des abgelehnten Richters voraussetzt und deshalb keine Entscheidung in eigener Sache ist (vgl BVerfGK 5, 269, 281 f = NJW 2005, 3410, 3412). Nach seiner Rechtsprechung ist aber eine enge Auslegung der Voraussetzungen geboten. Ein vereinfachtes Ablehnungsverfahren soll nur echte Formalentscheidungen ermöglichen oder einen offensichtlichen Missbrauch des Ablehnungsrechts verhindern. Eine völlige Ungeeignetheit eines Ablehnungsgesuchs in diesem Sinne ist anzunehmen, wenn für eine Verwerfung als unzulässig jedes Eingehen auf den Gegenstand des Verfahrens entbehrlich ist. Ist hingegen eine - wenn auch nur geringfügige - Befassung mit dem Verfahrensgegenstand erforderlich, scheidet eine Ablehnung als unzulässig aus. Eine gleichwohl erfolgende Ablehnung ist dann willkürlich. Über eine bloß formale Prüfung hinaus darf sich der abgelehnte Richter nicht durch Mitwirkung an einer näheren inhaltlichen Prüfung der Ablehnungsgründe zum Richter in eigener Sache machen. Diese Voraussetzungen für eine Selbstentscheidung des abgelehnten Richters über den ihn betreffenden Befangenheitsantrag sind verfassungsrechtlich durch Art 101 Abs 1 Satz 2 GG vorgegeben (vgl -, juris RdNr 20 ff mwN = NJW 2007, 3771 ff). Das LSG hat sie verkannt.

Die abgelehnte Richterin hat über das gegen sie gerichtete Befangenheitsgesuch mit zwei anderen Richterinnen entschieden, weil sie es lediglich nicht für "substantiiert begründet" hielt. Damit wird das Selbstentscheidungsrecht auf Fälle der mangelnden Begründetheit eines Ablehnungsgesuchs ausgedehnt. Um einen sonst vorliegenden Verstoß gegen Art 101 Abs 1 Satz 2 GG zu vermeiden, darf ein derart vereinfachtes Ablehnungsverfahren demgegenüber nicht einmal auf Situationen "offensichtlicher Unbegründetheit" des Ablehnungsgesuchs erstreckt werden (vgl BVerfGK 5, 269 = NJW 2005, 3410, juris RdNr 55 mwN).

3. Der hier vorliegende absolute Revisionsgrund der nicht vorschriftsmäßigen Besetzung des erkennenden Gerichts (§ 547 Nr 1 ZPO iVm § 202 SGG) führt in einem Revisionsverfahren - nach der entsprechenden Rüge - zur Aufhebung und Zurückverweisung, weil unwiderlegbar feststeht, dass die angefochtene Entscheidung auf diesem Verfahrensmangel beruht. § 170 Abs 1 Satz 2 SGG ist dagegen grundsätzlich nicht anwendbar, wenn ein absoluter Revisionsgrund vorliegt. Deshalb dürfte der Senat die zuzulassende Revision selbst dann nicht zurückweisen, wenn die LSG-Entscheidung sich aus anderen Gründen als richtig darstellen sollte (vgl näher BSG SozR 4-1100 Art 101 Nr 3 RdNr 13 mwN).

4. Nach § 160a Abs 5 SGG kann das BSG in dem Beschluss über die Nichtzulassungsbeschwerde das angefochtene Urteil aufheben und die Sache zur erneuten Verhandlung und Entscheidung an das LSG zurückverweisen, wenn die Voraussetzungen des § 160 Abs 2 Nr 3 SGG vorliegen, was - wie ausgeführt - hier der Fall ist. Der Senat macht von dieser Möglichkeit Gebrauch. Die Verweisung an einen anderen Senat des LSG gemäß § 563 ZPO iVm § 202 SGG ist dagegen nicht im Interesse einer unbefangenen Rechtsfindung zur Vermeidung eines - möglichen - Anscheins der Voreingenommenheit geboten.

5. Die Entscheidung über die Kosten des Beschwerdeverfahrens bleibt der Entscheidung des LSG vorbehalten.

Fundstelle(n):
QAAAD-35560