BFH Urteil v. - III R 19/06

§ 175 Abs. 1 Satz 2 Nr. 1 AO begründet eine absolute Anpassungsverpflichtung; Erledigung des Einspruchsverfahrens in der Hauptsache durch Erlass eines Abhilfebescheids

Leitsatz

Voraussetzung für die Anpassungspflicht nach § 175 Abs. 1 Satz 1 Nr. 1 AO ist, dass der Grundlagenbescheid wirksam ist. An einen unwirksamen Grundlagenbescheid darf ein Folgebescheid nach § 175 Abs. 1 Satz 1 Nr. 1 AO nicht angepasst werden.
Wurde ein unwirksamer Grundlagenbescheid gleichwohl in einem Folgebescheid ausgewertet, ist der Folgebescheid jedenfalls dann nach § 175 Abs. 1 Satz 1 Nr. 1. AO zu ändern, wenn das Finanzamt, das den Grundlagenbescheid erlassen hat, diesen ausdrücklich und ersatzlos aufgehoben hat.
Gleiches gilt, wenn das Finanzamt den Grundlagenbescheid zwar nicht ausdrücklich aufhebt, aber im Rahmen eines Einspruchsverfahrens gegen den Grundlagenbescheid unter Hinweis auf dessen Unwirksamkeit dem Begehren des Einspruchsführers entspricht.
Ob ein Verwaltungsakt oder lediglich eine behördliche Meinungsäußerung ohne Regelungscharakter vorliegt, ist - in entsprechender Anwendung der §§ 133, 157 BGB - danach zu beurteilen, wie der Adressat nach den ihm bekannten Umständen den materiellen Gehalt der behördlichen Äußerung unter Berücksichtigung von Treu und Glauben verstehen konnte.

Gesetze: AO § 175 Abs. 1 Satz 1 Nr. 1, AO § 171 Abs. 10, AO § 367 Abs. 2 Satz 3, BGB § 133, BGB § 157

Instanzenzug: (Verfahrensverlauf),

Gründe

I. Die zwischenzeitlich geschiedenen Kläger und Revisionskläger (Kläger) wurden im Streitjahr 1992 als Eheleute zusammen zur Einkommensteuer veranlagt. Der Kläger war an der A-KG (KG) beteiligt, die sich seit Oktober 1992 in Liquidation befand. Liquidatorin war die J-GmbH (GmbH).

Im Einkommensteuerbescheid für 1992 vom berücksichtigte der Beklagte und Revisionsbeklagte (das Finanzamt —FA—) gewerbliche Einkünfte des Klägers aus seiner Beteiligung an der KG i.L. entsprechend dem für diese ergangenen Feststellungsbescheid für 1992 vom . Einkommensteuerbescheid und Feststellungsbescheid wurden bestandskräftig.

Eine bei der KG i.L. für die Jahre 1992 bis 1994 durchgeführte Betriebsprüfung kam zu dem Ergebnis, dass höhere als die von der KG i.L. erklärten Entnahmewerte von Grundstücken anzusetzen seien. Der Betriebsprüfung folgend erließ das FA, das auch für das Feststellungsverfahren zuständig war, am einen geänderten Feststellungsbescheid für das Jahr 1992, der an die Liquidatorin der KG i.L. adressiert war. Der Bescheid konnte wegen einer Postsperre nicht bekannt gegeben werden. Daraufhin übersandte das FA den nun an die KG i.L. adressierten Bescheid unter dem Datum des an den von der Liquidatorin bevollmächtigten Prozessbevollmächtigten, der dagegen mit Schreiben vom Einspruch einlegte. Den Bescheid hatte der Prozessbevollmächtigte nicht an die Liquidatorin weitergegeben.

Ebenfalls auf der Grundlage der Prüfungsfeststellungen und im Vorgriff auf die geänderte Gewinnfeststellung hatte das FA unter dem einen geänderten Einkommensteuerbescheid für 1992 erlassen. Die Kläger nahmen ihren hiergegen gerichteten Einspruch, mit dem sie geltend gemacht hatten, es liege noch kein geänderter Grundlagenbescheid vor, im Dezember 1999 zurück, nachdem das FA mehrfach darauf hingewiesen hatte, dass der Einspruch wegen des zwischenzeitlich bekannt gegebenen geänderten Feststellungsbescheids unzulässig geworden sei.

Im Dezember 1998 hatte das FA die Vollziehung des geänderten Feststellungsbescheids vom bis zur Entscheidung über den hiergegen gerichteten Einspruch ausgesetzt, im Januar 1999 war im Hinblick hierauf die Aussetzung der Vollziehung des geänderten Einkommensteuerbescheids vom erfolgt.

Im Einspruchsverfahren gegen den geänderten Feststellungsbescheid vom wurde vorwiegend um die Höhe des Entnahmewerts bestimmter Grundstücke gestritten.

Mit Schreiben vom teilte das FA dem Prozessbevollmächtigten hinsichtlich seines Einspruchs gegen den geänderten Feststellungsbescheid vom Folgendes mit: „... der o.a. Bescheid über die gesonderte und einheitliche Feststellung von Besteuerungsgrundlagen 1992 vom ist nicht ordnungsgemäß bekannt gegeben worden.…Damit hat der wirksam bekannt gegebene Bescheid über die gesonderte und einheitliche Feststellung von Besteuerungsgrundlagen 1992 vom weiterhin Gültigkeit. Ihr Einspruch vom hat sich daher erledigt.”

Im Dezember 2002 teilte das FA den Klägern mit, die Aussetzung der Vollziehung des geänderten Einkommensteuerbescheids vom sei beendet, da sich das der Aussetzung zugrunde liegende Rechtsbehelfsverfahren „durch Erledigung des Einspruchsverfahrens in der Grundlagensache der KG i.L. vom erledigt” habe.

Im Januar 2003 beantragte der Prozessbevollmächtigte für die Kläger die Änderung des geänderten Einkommensteuerbescheids vom entsprechend den Feststellungen in dem Feststellungsbescheid vom . Diesen Antrag lehnte das FA am ab. Einspruch und Klage hatten keinen Erfolg. Das ist in Entscheidungen der Finanzgerichte (EFG) 2006, 1133 veröffentlicht.

Mit ihrer Revision rügen die Kläger eine Verletzung des materiellen Rechts.

Das Schreiben vom enthalte einen Abhilfebescheid, durch den das Einspruchsverfahren nach § 367 Abs. 2 Satz 3 der Abgabenordnung (AO) mit der Aussage beendet worden sei, dass fortan wieder der ursprüngliche Feststellungsbescheid gelte. Dieser Abhilfebescheid sei nach § 175 Abs. 1 Satz 1 Nr. 1 AO umzusetzen. Ein Einspruchsverfahren könne nur durch Abhilfebescheid oder Einspruchsentscheidung beendet werden, nicht aber durch eine einseitige Erledigungserklärung des FA. Auch gegen nicht ordnungsgemäß bekannt gegebene Steuerbescheide sei ein Einspruch statthaft, weil der Rechtsschein oder —wie hier— bereits gezogene Folgen beseitigt werden müssten.

Die Kläger beantragen sinngemäß, das Urteil des FG aufzuheben und das FA unter Aufhebung des Ablehnungsbescheids vom und der hierzu ergangenen Einspruchsentscheidung vom zu verpflichten, den Einkommensteuerbescheid 1992 vom den Feststellungen im Feststellungsbescheid vom entsprechend zu ändern,

hilfsweise, „festzustellen, dass das FA pflichtwidrig die Anpassung des Einkommensteuerbescheids 1992 aus dem mit Bescheid vom aufgehobenen Feststellungsbescheid vom unterlassen hat”.

Das FA beantragt, die Revision zurückzuweisen.

II. Die Revision ist begründet (§ 126 Abs. 3 Satz 1 Nr. 1 der FinanzgerichtsordnungFGO—). Sie führt zur Aufhebung des angegriffenen Urteils, des Ablehnungsbescheids vom und der hierzu ergangenen Einspruchsentscheidung vom sowie zur Verpflichtung des FA, den Einkommensteuerbescheid 1992 vom den Feststellungen in dem Feststellungsbescheid vom entsprechend zu ändern. Denn die Kläger haben aus § 175 Abs. 1 Satz 1 Nr. 1 AO einen Anspruch auf entsprechende Änderung dieses Einkommensteuerbescheids.

1. Nach § 175 Abs. 1 Satz 1 Nr. 1 AO ist ein Steuerbescheid zu ändern, soweit ein für ihn bindender Grundlagenbescheid (§ 171 Abs. 10 AO) erlassen, aufgehoben oder geändert wird.

a) Aufgrund der Bindungswirkung des Grundlagenbescheids für den Folgebescheid ist das für den Erlass des Folgebescheids zuständige FA verpflichtet, die Folgerungen aus dem Grundlagenbescheid zu ziehen. Ein solches Verhältnis zwischen Grundlagen- und Folgebescheid besteht insbesondere in den Fällen, in denen —wie hier— die Besteuerungsgrundlagen —abweichend von § 157 Abs. 2 AO— durch Feststellungsbescheid gesondert festgestellt werden (§§ 179 ff. AO). Insoweit ist das FA, das die Steuern festsetzt, an den Bescheid über die Feststellung der Besteuerungsgrundlagen gebunden; es hat demgemäß die Folgerungen aus dem Feststellungsbescheid zu ziehen und einen bereits vorhandenen Steuerbescheid dem Erlass, der Aufhebung oder der Änderung des Feststellungsbescheids anzupassen (z.B. , BFH/NV 2002, 614).

b) § 175 Abs. 1 Satz 1 Nr. 1 AO begründet eine „absolute Anpassungsverpflichtung”. Die Vorschrift stellt die Anpassung des Folgebescheids nicht in das Ermessen der Finanzbehörden. Sie bezweckt die Ermittlung und Festsetzung der zutreffenden Steuer, wobei sie der materiellen Richtigkeit des Folgebescheids den Vorrang vor der Bestandskraft eines bereits ergangenen Folgebescheids einräumt (z.B. , BFH/NV 2005, 1749).

2. Voraussetzung für die Anpassungspflicht nach § 175 Abs. 1 Satz 1 Nr. 1 AO ist allerdings, dass der Grundlagenbescheid wirksam ist. Ein unwirksamer Bescheid erzeugt keine Rechtswirkungen (vgl. , BFH/NV 2001, 409). An einen unwirksamen Grundlagenbescheid darf daher ein Folgebescheid nach § 175 Abs. 1 Satz 1 Nr. 1 AO nicht angepasst werden (vgl. , BFH/NV 2005, 1490).

Wurde ein unwirksamer Grundlagenbescheid gleichwohl in einem Folgebescheid ausgewertet, stellt sich die Frage, ob und ggf. unter welchen Voraussetzungen diese Anpassung des Folgebescheids wieder beseitigt werden kann.

a) Der Folgebescheid ist jedenfalls dann nach § 175 Abs. 1 Satz 1 Nr. 1 AO zu ändern, wenn das FA, das den Grundlagenbescheid erlassen hat, diesen ausdrücklich und ersatzlos aufgehoben hat (vgl. , BFH/NV 2006, 2019; , EFG 1994, 73; Frotscher in Schwarz, AO, § 175 Rz 25).

b) Gleiches gilt, wenn das FA den Grundlagenbescheid zwar nicht ausdrücklich aufhebt, aber im Rahmen eines Einspruchsverfahrens gegen den Grundlagenbescheid unter Hinweis auf dessen Unwirksamkeit dem Begehren des Einspruchsführers entspricht (vgl. für die Feststellung der Nichtigkeit des Grundlagenbescheids nach § 181 Abs. 1 Satz 1 i.V.m. § 125 Abs. 5 AO z.B. von Groll in Hübschmann/Hepp/Spitaler, § 175 AO Rz 170; von Wedelstädt in Beermann/Gosch, AO § 175 Rz 33; Loose in Tipke/Kruse, Abgabenordnung, Finanzgerichtsordnung, § 175 AO Rz 9; Pahlke/Koenig/Koenig, Abgabenordnung, 2. Aufl., § 175 Rz 8). Denn für die Entscheidung, ob die Auswertung eines unwirksamen Grundlagenbescheids in einem Folgebescheid nach § 175 Abs. 1 Satz 1 Nr. 1 AO beseitigt werden muss, ist es unerheblich, ob die für den Erlass des (unwirksamen) Grundlagenbescheids zuständige Finanzbehörde diesen —zur Beseitigung des Scheins der Wirksamkeit— ausdrücklich aufhebt oder aber durch Abhilfeentscheidung in dem gegen den Grundlagenbescheid gerichteten Einspruchsverfahren zum Ausdruck bringt, dass von dem angegriffenen Bescheid mangels Wirksamkeit keine Rechtswirkungen ausgehen.

3. Das Schreiben des FA vom enthält eine Abhilfeentscheidung im dargestellten Sinn und keine bloße Meinungsäußerung des FA.

a) Nach § 367 Abs. 1 Satz 1 AO entscheidet die Finanzbehörde über den Einspruch durch Einspruchsentscheidung. Einer solchen bedarf es nach § 367 Abs. 2 Satz 3 AO allerdings nur insoweit, als die Finanzbehörde dem Einspruch nicht abhilft. Hat die Finanzbehörde durch Erlass eines Abhilfebescheids dem Einspruchsbegehren in vollem Umfang entsprochen, hat sich das Einspruchsverfahren in der Hauptsache erledigt (z.B. , BFHE 214, 193, BStBl II 2007, 83).

b) Ein Abhilfebescheid bedarf keiner bestimmten Form. Ob die Finanzbehörde dem Einspruchsbegehren ganz oder teilweise abschließend stattgegeben hat, ist durch Auslegung ihrer Erklärung zu ermitteln (vgl. , BFHE 175, 323, BStBl II 1995, 39).

aa) Ob ein Verwaltungsakt oder lediglich eine behördliche Meinungsäußerung ohne Regelungscharakter vorliegt, ist —in entsprechender Anwendung der §§ 133, 157 des Bürgerlichen Gesetzbuchs— danach zu beurteilen, wie der Adressat nach den ihm bekannten Umständen den materiellen Gehalt der behördlichen Äußerung unter Berücksichtigung von Treu und Glauben verstehen konnte (z.B. , BFHE 212, 297, BFH/NV 2006, 466, und vom II R 31/06, BFH/NV 2008, 1435). An die Auslegung einer behördlichen Erklärung durch das FG ist der BFH als Revisionsinstanz nicht gebunden (Gräber/Ruban, Finanzgerichtsordnung, 6. Aufl., § 118 Rz 25; BFH-Urteil in BFH/NV 2008, 1435).

bb) Danach handelt es sich bei dem Schreiben des FA vom um einen Vollabhilfebescheid, durch den das Einspruchsverfahren gegen den Feststellungsbescheid vom beendet wurde, und nicht lediglich um eine behördliche Meinungsäußerung.

Hierfür spricht zunächst der Wortlaut des Schreibens. Die Erklärung des FA erschöpft sich nicht lediglich in der Mitteilung, dass der Bescheid vom wegen Bekanntgabemängeln unwirksam sei. Vielmehr wird dem Prozessbevollmächtigten —hier als Vertreter des Einspruchsführers— mitgeteilt, dass damit der Bescheid über die gesonderte und einheitliche Feststellung von Besteuerungsgrundlagen 1992 vom weiterhin Gültigkeit habe, weshalb sich der Einspruch erledigt habe. Diese Erklärung konnte von dem Prozessbevollmächtigten nur als Abschluss des Einspruchsverfahrens durch Vollabhilfe verstanden werden. Für eine entsprechende Abhilfeentscheidung und gegen eine bloße behördliche Meinungsäußerung spricht auch, dass das FA den Klägern im Dezember 2002 mitteilte, dass die Aussetzung der Vollziehung des Einkommensteuerbescheids vom beendet sei, weil sich das dieser Aussetzung zugrunde liegende Rechtsbehelfsverfahren „durch die Erledigung des Einspruchsverfahrens in der Grundlagensache 1992 der KG i.L. vom erledigt” habe, und dass das FA in dem Einspruchsverfahren gegen den geänderten Feststellungsbescheid auch keine Einspruchsentscheidung mehr erlassen hat.

4. Dem Antrag der Kläger, das FA zu einer Änderung des Einkommensteuerbescheids vom zu verpflichten, steht keine Verjährung entgegen. Zwar ist die gemäß § 171 Abs. 10 AO nach Erlass, Änderung oder Aufhebung eines Grundlagenbescheids eintretende Ablaufhemmung von zwei Jahren bereits abgelaufen, weil die Abhilfeentscheidung schon am ergangen ist. Die Kläger haben jedoch innerhalb dieser Frist —am — die Änderung des Einkommensteuerbescheids beantragt. Dies führte dazu, dass die Frist für die Anpassung des Einkommensteuerbescheids gemäß § 171 Abs. 3 AO gehemmt wurde (z.B. BFH-Urteile in BFH/NV 2006, 2019, und vom X R 3/07, BFH/NV 2009, 711).

5. Da die Kläger bereits mit ihrem Hauptantrag Erfolg haben, ist über den Hilfsantrag nicht zu entscheiden.

Fundstelle(n):
BFH/NV 2010 S. 164 Nr. 2
RAAAD-33315