BVerwG Beschluss v. - 6 B 27.09

Leitsatz

Das Elternrecht gemäß Art. 6 Abs. 2 GG gewährt grundsätzlich keinen Anspruch darauf, die Erfüllung der auf dem staatlichen Erziehungsauftrag (Art. 7 Abs. 1 GG) beruhenden Schulpflicht durch einen staatlich beaufsichtigten häuslichen Unterricht zu ersetzen (Bestätigung der bisherigen Rechtsprechung).

Gesetze: GG Art. 6 Abs. 2; GG Art. 7 Abs. 1; EG Art. 18

Instanzenzug: OVG Bremen, 1 A 21/07 vom VG Bremen, 7 K 1774/06 vom Fachpresse: ja BVerwGE: nein

Gründe

Die Beschwerde, die sich auf die Zulassungsgründe der Divergenz (1.), der grundsätzlichen Bedeutung der Rechtssache (2.) und des Verfahrensmangels (3.) stützt, hat keinen Erfolg.

1. Die Revision ist nicht wegen einer Abweichung des angefochtenen Urteils von den in der Beschwerde genannten Entscheidungen des Bundesverfassungsgerichts (Kammerbeschlüsse vom - 1 BvR 436/03 - NVwZ 2003, 1113, vom - 2 BvR 1693/04 - FamRZ 2006, 1094 und vom - 1 BvR 2780/06 - NVwZ 2008, 72) sowie des BVerwG 6 C 8.91 - BVerwGE 94, 82 = Buchholz 421 Kultur- und Schulwesen Nr. 109, BVerwG 6 B 41.03 - Buchholz 11 Art. 4 GG Nr. 73) zuzulassen. Die von der Beschwerde behauptete Abweichung des Berufungsurteils von der zitierten Rechtsprechung besteht nicht.

Den erwähnten Entscheidungen des Bundesverfassungsgerichts und des Bundesverwaltungsgerichts liegt kein Rechtssatz des Inhalts zu Grunde, dass es einer Überprüfung der Erforderlichkeit und Verhältnismäßigkeit der Schulbesuchspflicht nach den jeweiligen Umständen des Einzelfalls bedürfe. Diese Entscheidungen beruhen im Gegenteil auf der Annahme, dass die allgemeine Schulpflicht geeignet und erforderlich ist, um die legitimen Ziele des staatlichen Erziehungsauftrages zu erreichen, und in aller Regel in einem angemessenen Verhältnis zu dem mit der Erreichung dieser Ziele verbundenen Nutzen steht (siehe BVerfG, Kammerbeschlüsse vom a.a.O. und vom a.a.O. S. 1095); damit der Staat seinen Bildungs- und Erziehungsauftrag gemäß Art. 7 Abs. 1 GG wahrnehmen kann, darf er eine allgemeine Schulpflicht einführen und die Möglichkeit einer Befreiung auf besonders begründete Ausnahmefälle beschränken (vgl. a.a.O. S. 84 bzw. S. 46). Ebenso wenig hat das Oberverwaltungsgericht einen abstrakten Rechtssatz des von der Beschwerde behaupteten Inhalts aufgestellt, wonach "es von Verfassungs wegen ausgeschlossen ist, eine allgemeine Anwesenheitspflicht daraufhin zu überprüfen, ob sie erforderlich und verhältnismäßig sei, um den staatlichen Bildungs- und Erziehungsauftrag zu erfüllen". Vielmehr hat es unter der Prämisse, dass die Schulbesuchspflicht dem Verhältnismäßigkeitsgrundsatz regelmäßig genügt, die Frage geprüft und verneint, ob im Hinblick auf die Kläger ein besonderer Ausnahmefall für eine Befreiung von der Schulpflicht vorliegt (s. S. 22 ff. UA). Sollte die Beschwerde dahin zu verstehen sein, dass sie eine - vermeintlich - fehlerhafte Anwendung der in der höchstrichterlichen Rechtsprechung formulierten Rechtssätze durch das Berufungsgericht beanstandet, könnte die Divergenzrüge darauf schon im Ansatz nicht gestützt werden, weil die Divergenz i.S.v. § 132 Abs. 2 Nr. 2 VwGO einen Widerspruch in abstrakten, entscheidungstragenden Rechtssätzen voraussetzt, an dem es hier aus den genannten Gründen fehlt.

2. Die Revision ist auch nicht unter dem Gesichtspunkt der grundsätzlichen Bedeutung zuzulassen (§ 132 Abs. 2 Nr. 1 VwGO). Grundsätzlich bedeutsam im Sinne dieser Vorschrift ist eine Rechtssache nur, wenn eine für die erstrebte Revisionsentscheidung erhebliche Frage des revisiblen Rechts im Interesse der Einheit oder der Fortbildung des Rechts revisionsgerichtlicher Klärung bedarf. Den Darlegungen der Beschwerde lässt sich nicht entnehmen, dass diese Voraussetzungen im vorliegenden Fall erfüllt sind.

a) Die Beschwerde will geklärt wissen, "ob sich aus Art. 7 Abs. 1 GG eine allgemeine Anwesenheitspflicht ergibt und, wenn ja, ob dadurch in einer nicht erforderlichen und unverhältnismäßigen Weise Grundrechte der Eltern aus Art. 2 Abs. 1, Art. 6 Abs. 2 GG und der schulpflichtigen Kinder aus Art. 2 Abs. 1 GG verletzt werden". Diese Frage rechtfertigt die Zulassung der Revision nicht. Sie ist, wie die Beschwerde selbst nicht verkennt, in der bereits angeführten bisherigen Rechtsprechung des Bundesverfassungsgerichts und des Bundesverwaltungsgerichts dahin geklärt, dass das Elternrecht innerhalb der Schulpflicht zur Entfaltung kommt, sich aber grundsätzlich nicht gegen die Schulpflicht durchsetzen kann. Dem liegt die Erwägung zu Grunde, dass der staatliche Erziehungsauftrag nicht nur auf Wissensvermittlung, sondern auch auf die Herausbildung sozialer und staatsbürgerlicher Kompetenz zielt; jedenfalls in Bezug auf das letztgenannte Ziel kann die Einschätzung, die bloße staatliche Kontrolle über häuslichen Unterricht sei weniger wirksam als der regelmäßige Besuch einer öffentlichen Schule, nicht als rechtsfehlerhaft angesehen werden. Erhebliche neue Gesichtspunkte, die die noch in jüngster Zeit ausdrücklich bestätigte Rechtsprechung (BVerfG, Kammerbeschlüsse vom a.a.O. S. 73 f. und vom - 1 BvR 1358/09 - [...] Rn. 14; BVerwG 6 B 65.07 - Buchholz 421 Kultur- und Schulwesen Nr. 133 Rn. 4) noch nicht berücksichtigt hätte, sind weder vorgetragen noch sonst ersichtlich. Insbesondere können sich die Kläger, wie das Berufungsurteil zu Recht betont, nicht mit Erfolg auf die Erfahrungen mit Heimunterricht in anderen Ländern, etwa in Österreich, berufen. Die verfassungsrechtliche Beurteilung in Deutschland ist nicht schon deshalb unvertretbar geworden, weil andere Staaten andere Regelungen getroffen haben.

b) Die Beschwerde hält ferner für grundsätzlich bedeutsam, ob die "deutsche Anwesenheitspflicht in einer Bremer Schule die Grundfreiheiten der Beschwerdeführer aus Art. 18, 39 und 49 EG in unverhältnismäßiger Weise beeinträchtigt". Auch insoweit wird ein grundsätzlicher Klärungsbedarf, der die Zulassung der Revision rechtfertigen könnte, nicht aufgezeigt. Den Darlegungen der Beschwerde lässt sich insbesondere nicht entnehmen, dass in einem etwaigen Revisionsverfahren voraussichtlich eine Vorabentscheidung des Europäischen Gerichtshofs nach Art. 234 Abs. 3 EG zur Auslegung einer entscheidungsrelevanten gemeinschaftsrechtlichen Regelung einzuholen wäre.

Die in Art. 18 EG gewährleistete Freizügigkeit, auf die sich die Beschwerde in erster Linie stützt, garantiert jedem Unionsbürger grundsätzlich das Recht, sich im Hoheitsgebiet der Mitgliedstaaten frei zu bewegen und aufzuhalten. In dieses Recht wird durch eine nationale Regelung eingegriffen, die bestimmte eigene Staatsangehörige allein deswegen benachteiligt, weil sie von ihrer Freiheit Gebrauch machen, sich in einen anderen Mitgliedstaat zu begeben (stRspr des EuGH, s. nur Urteile vom - Rs. C-76/05, Schwarz - Slg. 2007, I-6849 Rn. 93, vom - Rs. C-11/06, Morgan - Slg. 2007, I-9161 Rn. 25 und vom - Rs. C-353/06, Grunkin - NJW 2009, 135 Rn. 21, jeweils m.w.N.). Die Beschwerde entnimmt Art. 18 EG in Anknüpfung an diese Rechtsprechung den weitergehenden Rechtsgedanken, dass auch solche nationalen Regelungen in das Freizügigkeitsrecht eingreifen, die, ohne diskriminierend zu sein, wegen der mit ihnen verbundenen Nachteile geeignet sind, Unionsbürger beim Gebrauch der Freizügigkeit zu behindern. Sollte unter diesem Gesichtspunkt die in Deutschland bestehende Schulpflicht Eingriffscharakter gegenüber den nach eigenem Vortrag überwiegend in Frankreich lebenden Klägern haben, wäre dieser Eingriff jedenfalls gerechtfertigt. Dies ist nach der Rechtsprechung des Europäischen Gerichtshofs unter der Voraussetzung anzunehmen, dass die Beschränkung auf objektiven, von der Staatsangehörigkeit der Betroffenen unabhängigen Erwägungen beruht und in einem angemessenen Verhältnis zu dem mit dem nationalen Recht legitimerweise verfolgten Zweck steht (s. Urteile vom a.a.O. Rn. 94, vom a.a.O. Rn. 33 und vom a.a.O. Rn. 29). Der allgemeinen Schulpflicht liegen, wie oben bereits ausgeführt, legitime Ziele des staatlichen Erziehungsauftrages zugrunde. Die Erreichung dieser Ziele fällt gemäß Art. 149 Abs. 1 EG in die Verantwortung des einzelnen Mitgliedstaates für die Gestaltung seines Bildungssystems.

Auch in Bezug auf die von den Klägern noch erwähnten Art. 39 EG (Arbeitnehmerfreizügigkeit), Art. 43 EG (Niederlassungsfreiheit) und Art. 49 EG (Dienstleistungsfreiheit) benennt die Beschwerde keine wesentlichen Gesichtspunkte, die in einem Revisionsverfahren unter Berücksichtigung der vom Oberverwaltungsgericht überzeugend gewürdigten Rechtsprechung des Europäischen Gerichtshofs eine Vorlage nach Art. 234 Abs. 3 EG gebieten könnten.

3. Die Revision ist schließlich nicht deshalb zuzulassen, weil ein Verfahrensmangel geltend gemacht wird und vorliegt, auf dem die Entscheidung beruhen kann (§ 132 Abs. 2 Nr. 3 VwGO).

a) Die Ablehnung des Beweisantrages, ein Sachverständigengutachten darüber einzuholen, "dass weder feststehe, dass Schule den Erwerb der sozialen und staatsbürgerlichen Kompetenzen nachweislich fördere, noch feststehe, dass Heimunterricht den Erwerb verhindere oder erschwere", beruht nicht auf einem Verfahrensfehler. Denn auf der Grundlage der für die revisionsgerichtliche Prüfung insoweit maßgeblichen materiellrechtlichen Auffassung des Berufungsgerichts, dass die betreffende Entscheidung allein dem Gesetzgeber obliegt und dass dessen Entscheidung nur bei bestehenden Anhaltspunkten für eine offensichtliche Fehleinschätzung in Frage gestellt werden kann, kam es auf die Beweisfrage nicht an.

b) Entsprechendes gilt für die Ablehnung des von den Klägern beantragten Beweisaufnahme darüber, dass der häusliche Unterricht nach den in Österreich gesammelten Erfahrungen dem Schulunterricht mindestens gleichwertig sei, die sich aus dem staatlichen Erziehungsauftrag ergebenden Ziele ebenso effektiv erreiche und insbesondere nicht zu "Parallelgesellschaften" führe. Auf der Grundlage der materiellrechtlichen Auffassung des Oberverwaltungsgerichts, wonach der Gesetzgeber im Rahmen seines normativen Einschätzungsspielraums die Entscheidung darüber zu treffen hat, welches der effektivste Weg zur Erreichung der staatlichen Bildungs- und Erziehungsziele ist, bedurfte es der begehrten Beweiserhebung nicht.

c) Die Rüge der Unvollständigkeit des Tatbestandes des Berufungsurteils, dessen Berichtigung das Oberverwaltungsgericht durch Beschluss vom abgelehnt hat, führt ebenfalls nicht auf einen erheblichen Verfahrensfehler. Denn die Beschwerde legt nicht dar, inwieweit die Umstände, deren Aufnahme in den Tatbestand sie vermisst, sich auf der Grundlage der materiellrechtlichen Auffassung des Berufungsgerichts auf die Entscheidung hätten auswirken können.

d) Soweit schließlich die Kläger beanstanden, das Oberverwaltungsgericht habe sie ihrem gesetzlichen Richter entzogen (Art. 101 Abs. 1 Satz 2 GG), indem es von einer Vorlage klärungsbedürftiger Fragen des Gemeinschaftsrechts an den Europäischen Gerichtshof abgesehen habe, kann darin schon deshalb kein Verfahrensfehler liegen, weil Art. 234 EG die Vorlage in das Ermessen des streitentscheidenden Gerichts stellt und eine Vorlagepflicht nur für das letztinstanzlich zuständige Gericht begründet.

4. Die Kostenentscheidung beruht auf § 154 Abs. 2, § 159 Satz 2 VwGO, die Festsetzung des Streitwertes für das Beschwerdeverfahren auf § 47 Abs. 1 und 3, § 52 Abs. 2 GKG.

Fundstelle(n):
XAAAD-31557