BGH Beschluss v. - I ZB 11/09

Leitsatz

[1] Die Prüfung, ob die Räumungsvollstreckung bei einem hochbetagten Schuldner wegen schwerwiegender gesundheitlicher Risiken eine mit den guten Sitten unvereinbare Härte i.S. des § 765a ZPO darstellt, ist nicht auf eine akute Lebensgefahr während des Räumungsvorgangs selbst zu beschränken; in die Beurteilung einzubeziehen sind auch schwerwiegende gesundheitliche Risiken, die aus einem Wechsel der gewohnten Umgebung resultieren.

Gesetze: ZPO § 765a Abs. 1

Instanzenzug: AG Berlin-Wedding, 32 M 8042/08 vom LG Berlin, 51 T 668/08 vom

Gründe

I.

Die am geborene Schuldnerin ist durch Urteil des Amtsgerichts Wedding vom verurteilt, das Haus F. straße in B. zu räumen. Gegen die vom Gläubiger betriebene Räumungsvollstreckung hat die Schuldnerin nach § 765a ZPO Räumungsschutz beantragt.

Das Amtsgericht hat den Räumungsschutzantrag der Schuldnerin mit Beschluss vom zurückgewiesen. Ihre dagegen gerichtete sofortige Beschwerde ist erfolglos geblieben.

Mit der zugelassenen Rechtsbeschwerde verfolgt die Schuldnerin ihren Räumungsschutzantrag weiter. Der Gläubiger hat beantragt, die Rechtsbeschwerde zurückzuweisen.

II.

Die gemäß § 574 Abs. 1 Satz 1 Nr. 2, Abs. 3 Satz 2 ZPO statthafte und auch im Übrigen zulässige Rechtsbeschwerde ist begründet.

1.

Das Beschwerdegericht hat eine besondere Härte auf Seiten der Schuldnerin, die es bei Würdigung der Gläubigerinteressen rechtfertigt, die Zwangsvollstreckung befristet oder unbefristet einzustellen, verneint und hierzu ausgeführt:

Allein das hohe Alter der Schuldnerin und die bei ihr vorhandene leichte senile Demenz rechtfertigten keinen Räumungsschutz. Der Verlust der vertrauten Umgebung werde zwar ihre Orientierungsschwierigkeiten verstärken und negative gesundheitliche Folgen haben. Lebensgefahr bestehe für die Schuldnerin im Falle einer Räumung aber nicht. Zu berücksichtigen sei, dass die Schuldnerin seit mehr als zwei Jahren von ihrer Verpflichtung zur Räumung Kenntnis habe. Dass sie Anstrengungen zur Anmietung anderer Räume unternommen habe, habe sie nicht dargelegt. Für die Lebensqualität der Schuldnerin sei auch die Aufrechterhaltung des sozialen Kontakts mit den übrigen Mitgliedern der Wohngemeinschaft von Bedeutung. Dieser lasse sich aber auch in einer anderen Wohnung erhalten.

2.

Die gegen diese Beurteilung gerichteten Angriffe der Rechtsbeschwerde haben Erfolg. Sie führen zur Aufhebung des angefochtenen Beschlusses und zur Zurückverweisung der Sache an das Beschwerdegericht. Die Annahme des Beschwerdegerichts, die Einstellung der Zwangsvollstreckung sei zur Vermeidung einer mit den guten Sitten unvereinbaren Härte i.S. des § 765a Abs. 1 Satz 1 ZPO nicht erforderlich, hält der rechtlichen Nachprüfung nicht stand.

a)

Ist mit einer Zwangsvollstreckungsmaßnahme eine konkrete Gefahr für Leben und Gesundheit des Schuldners verbunden, so kann dies die Untersagung oder einstweilige Einstellung der Zwangsvollstreckung nach § 765a ZPO rechtfertigen. Dabei ist stets eine Abwägung der - in solchen Fällen ganz besonders gewichtigen - Interessen des Schuldners mit den Vollstreckungsinteressen des Gläubigers vorzunehmen. Es kann nicht unberücksichtigt bleiben, dass sich auch der Gläubiger auf Grundrechte berufen kann. Ist sein Räumungstitel nicht durchsetzbar, wird sein Grundrecht auf Schutz seines Eigentums (Art. 14 Abs. 1 GG) und auf effektiven Rechtsschutz (Art. 19 Abs. 4 GG) beeinträchtigt. Dem Gläubiger dürfen keine Aufgaben überbürdet werden, die nach dem Sozialstaatsprinzip dem Staat und damit der Allgemeinheit obliegen (BGHZ 163, 66, 72 ff.) . Es ist deshalb auch dann, wenn bei einer Räumungsvollstreckung eine konkrete Lebensgefahr für den Betroffenen besteht, sorgfältig zu prüfen, ob dieser Gefahr nicht auf andere Weise als durch Einstellung der Zwangsvollstreckung wirksam begegnet werden kann. Dabei kann vom Schuldner erwartet werden, dass er alles ihm Zumutbare unternimmt, um Gefahren für Leben und Gesundheit möglichst auszuschließen (, NJW 2008, 1000 Tz. 9).

b)

Das Beschwerdegericht ist davon ausgegangen, eine Gefahr für das Leben der Schuldnerin bestehe im Falle einer Räumung nicht. Aufgrund ihrer Erkrankung und des hohen Alters bestehe bei der Schuldnerin nur eine verringerte Fähigkeit der Anpassung an eine neue Umgebung, wodurch sie bei einer Zwangsräumung Lebensqualität verliere und sich ihre gesundheitliche Prognose verschlechtere.

c)

Zu Recht macht die Rechtsbeschwerde geltend, das Beschwerdegericht habe den Vortrag zu den Gefahren für Leben und Gesundheit der Schuldnerin nur unzureichend gewürdigt. Bei vollständiger Berücksichtigung des Vorbringens der Schuldnerin hätte das Beschwerdegericht ohne weitere Beweiserhebungen eine Lebensgefahr für die Schuldnerin im Falle einer Räumung nicht ausschließen dürfen.

Nach der Bescheinigung des Facharztes für Innere Medizin Dr. F. vom leidet die Schuldnerin an arterieller Hypertonie und hypertensiver Herzkrankheit mit Herzinsuffizienz. Nach dem Attest der Fachärztin für Neurologie Dr. B. vom selben Tag liegt bei der Schuldnerin eine fortschreitende dementielle Erkrankung und eine hundertprozentige Schwerbehinderung vor. Aufgrund des hohen Alters und der Demenzerkrankung bezeichnet die Ärztin den Zustand der Schuldnerin bei einer Zwangsräumung wegen der damit verbundenen Aufregung als lebensbedrohend. Zu demselben Ergebnis kommt die Fachärztin Dr. S. in ihrer Stellungnahme vom . Auch der ärztliche Gutachter der zentralen medizinischen Gutachtenstelle des Landesamtes für Gesundheit und Soziales von Berlin gelangt in seiner amtsärztlichen Stellungnahme vom zu dem Ergebnis, im Hinblick auf die negativen Folgen für ihre Gesundheit bestehe bei der Schuldnerin Räumungsunfähigkeit. Mit den in diesen ärztlichen Stellungnahmen prognostizierten Gefahren für Leben und Gesundheit der Schuldnerin hat das Beschwerdegericht sich nicht auseinandergesetzt, sondern nur auf die ärztliche Stellungnahme des Bezirksamtes Reinickendorf von Berlin vom abgestellt, nach der bei einem erzwungenen Umzug keine unmittelbare Lebensgefahr bestehe. Dies reicht für eine vollständige Würdigung der mit einer Zwangsräumung verbundenen Gefahren für Leben und Gesundheit der Schuldnerin in Anbetracht der unterschiedlichen Ergebnisse der ärztlichen Stellungnahmen vom 13. Mai, 22. Juni und einerseits und vom andererseits nicht aus. Hierzu hätte das Beschwerdegericht vielmehr eine ergänzende ärztliche Begutachtung unter Einbeziehung sämtlicher ärztlicher Stellungnahmen einholen müssen.

Das Beschwerdegericht durfte die Prüfung der Gefahren für Leben und Gesundheit der Schuldnerin durch eine Zwangsräumung auch nicht auf eine akute Lebensgefahr während des Räumungsvorgangs beschränken. Die Schuldnerin hatte geltend gemacht, aufgrund der bestehenden Erkrankungen und ihres hohen Alters sei nach einer Zwangsräumung mit einer Beschleunigung des gesundheitlichen Verfalls und einer Verkürzung ihrer Lebenserwartung zu rechnen; zum Beweis hat sie sich auf die Einholung einer amtsärztlichen Stellungnahme berufen. Die Gefahr entsprechender gesundheitlicher Beeinträchtigungen nach Durchführung des Räumungsvorgangs ist in die nach § 765a ZPO gebotene Abwägung einzubeziehen. Zu berücksichtigen ist zudem eine altersentsprechende und krankheitsbedingte deutlich verringerte Anpassungsfähigkeit an eine veränderte Umgebung, wenn eine gewohnte langjährige Umgebung im Falle einer Zwangsräumung verloren geht (vgl. BVerfG NJW 1998, 295).

3.

Die Entscheidung des Beschwerdegerichts kann danach keinen Bestand haben. Die Sache ist zur erneuten Entscheidung an das Beschwerdegericht zurückzuverweisen, das weitere Feststellungen zu etwaigen aus der Zwangsräumung herrührenden Gefahren für Leben und Gesundheit der Schuldnerin zu treffen hat.

Sollten für die Schuldnerin danach erhebliche Gesundheitsrisiken mit einem Wohnsitzwechsel wegen Verlustes der bekannten Umgebung verbunden sein, darf das Beschwerdegericht bei der nach § 765a ZPO erforderlichen Interessenabwägung nicht zu Lasten der Schuldnerin berücksichtigen, dass diese nach dem Räumungsurteil keine Anstrengungen unternommen hat, eine andere Wohnung zu finden. Denn durch einen Umzug bestünde gerade die Gefahr, dass sich die mit dem Wohnungswechsel verbundenen Gesundheitsrisiken realisieren. Zudem wird das Beschwerdegericht im vorliegenden Fall auch dem Umstand ein nicht unerhebliches Gewicht beizumessen haben, dass die Schuldnerin eine laufende Nutzungsentschädigung in Höhe der zwischen den Parteien ursprünglich vereinbarten Miete zahlt, nach ihrem - unbestrittenen -Vortrag nur noch geringe Zahlungsrückstände bestehen und vom Gläubiger auch keine anderen Umstände geltend gemacht worden sind, aus denen sich ein vorrangiges Interesse an der Räumung ergeben könnte.

Fundstelle(n):
NJW 2009 S. 3440 Nr. 47
WM 2009 S. 2228 Nr. 47
BAAAD-30964

1Nachschlagewerk: ja; BGHZ: nein; BGHR: ja